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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Abschnitt einer gemeinnützigen, weitsichtigen Politik gemacht worden waren, sich
vielmehr als Willkürakt großmütiger Laune eines Autokraten darstellten. Sie.
fanden nicht nur keine Unterstützung in der Ideenwelt der russischen Gesellschaft,
sondern wurden von den herrschenden Kreisen angefeindet. Die Russen sahen
in den Polen noch Erbfeinde (Schiemann ni. a. O. S. 125). Das Herzogtum
Warschau galt in der russischen Gesellschaft als erobertes Land. Aber auch
von den Polen wurden des Zaren Wohltaten nicht als der Ausgangspunkt für
eine enge Verbindung mit den Russen betrachtet, sondern als Vorbereitung für
die Zurückgewinnung der früher an Rußland, Preußen und Österreich gefallnen
Provinzen und die Wiederaufrichtung des alten Polens. Die Polen fühlten
sich als Europäer und sahen in den Russen asiatische Barbaren, deren sie sich
in der Not zur Erreichung ihrer eignen Zwecke bedienten. Wie groß die Nicht¬
achtung der Polen den Russen gegenüber war, geht aus ihrem Benehmen dem
Gefolge Alexanders gegenüber hervor. Eine Deputation polnischer Edelleute
aus Litauen unter Führung des Grafen Oginski sollte die Angliederung der
Gouvernements Wilna, Grodno und Minsk vom Zaren fordern. Irgendein
Versuch, sich unter den Russen Bundesgenossen zu schaffen, wurde nicht gemacht.
Ein Russe erzählt aus jenen Tagen: ". . . die Polen blickten auf uns allgemein
finster. Sie waren unzufrieden geblieben und hielten in Unterhaltungen selbst
nicht mit der Forderung zurück, daß ihnen Mohilew, Witebsk, Wolhynien, Po-
dolien und Litauen zurückgegeben werden müsse. ..." Alexander seinerseits
unterstützte die polnischen Patrioten in ihren Illusionen, wo er auch immer
konnte, ohne dabei die Gefühle seiner russischen Untertanen zu schonen. Dabei
bildete doch seine Persönlichkeit die einzige Verbindung zwischen beiden Teilen.
Eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Nußland und Polen auf irgend¬
einem Gebiete fehlte. Große wirtschaftliche Interessen hatten sich noch nicht
ausgebildet. Die Idee eines allslawischen Staatenverbandes dehnte sich noch
nicht auf die katholischen Westslawen aus. Ging doch der spätere Dekabrist
Jcckuschkin so weit, seinen Freunden zu erklären, er würde den Zaren morden,
als sich in Moskau die Nachricht verbreitete, Alexander der Erste habe den
Polen die Rückgabe der früher polnischen Provinzen versprochen. (Schilder,
Nikolaus der Erste, A. S. Ssuworin, Petersburg, 1903, Band I, S. 536,
Anm. 459.) Die Abwesenheit solcher gemeinsamen Interessen ließ auch dem
russischen Zaren freie Hand bei seinem Anschluß an die Mächte des Westens.
Sie macht Alexanders Vorgehn auf dem Wiener Kongreß auch für die Russen
verständlich. In Rußland gab es nur eine Idee: die der Selbstherrlichkeit des
Zaren, ein nationales Bewußtsein war nicht entwickelt, wenn es auch nach 1812
durchsetzt mit sozialen Utopien bei der militärischen Jugend aufflackerte. Peters
und Katharinas Beamtentum hatte jede Regung des Volkes der Bureaukratie
unterjocht, die sich in der Rolle einer Hüterin der Selbstherrschaft recht wohl
befand. Alexander der Erste konnte der Heiligen Allianz beitreten, weil den
verbündeten Monarchen mit der von Frankreich hereinziehenden Demokratie ein


Russische Briefe

Abschnitt einer gemeinnützigen, weitsichtigen Politik gemacht worden waren, sich
vielmehr als Willkürakt großmütiger Laune eines Autokraten darstellten. Sie.
fanden nicht nur keine Unterstützung in der Ideenwelt der russischen Gesellschaft,
sondern wurden von den herrschenden Kreisen angefeindet. Die Russen sahen
in den Polen noch Erbfeinde (Schiemann ni. a. O. S. 125). Das Herzogtum
Warschau galt in der russischen Gesellschaft als erobertes Land. Aber auch
von den Polen wurden des Zaren Wohltaten nicht als der Ausgangspunkt für
eine enge Verbindung mit den Russen betrachtet, sondern als Vorbereitung für
die Zurückgewinnung der früher an Rußland, Preußen und Österreich gefallnen
Provinzen und die Wiederaufrichtung des alten Polens. Die Polen fühlten
sich als Europäer und sahen in den Russen asiatische Barbaren, deren sie sich
in der Not zur Erreichung ihrer eignen Zwecke bedienten. Wie groß die Nicht¬
achtung der Polen den Russen gegenüber war, geht aus ihrem Benehmen dem
Gefolge Alexanders gegenüber hervor. Eine Deputation polnischer Edelleute
aus Litauen unter Führung des Grafen Oginski sollte die Angliederung der
Gouvernements Wilna, Grodno und Minsk vom Zaren fordern. Irgendein
Versuch, sich unter den Russen Bundesgenossen zu schaffen, wurde nicht gemacht.
Ein Russe erzählt aus jenen Tagen: „. . . die Polen blickten auf uns allgemein
finster. Sie waren unzufrieden geblieben und hielten in Unterhaltungen selbst
nicht mit der Forderung zurück, daß ihnen Mohilew, Witebsk, Wolhynien, Po-
dolien und Litauen zurückgegeben werden müsse. ..." Alexander seinerseits
unterstützte die polnischen Patrioten in ihren Illusionen, wo er auch immer
konnte, ohne dabei die Gefühle seiner russischen Untertanen zu schonen. Dabei
bildete doch seine Persönlichkeit die einzige Verbindung zwischen beiden Teilen.
Eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Nußland und Polen auf irgend¬
einem Gebiete fehlte. Große wirtschaftliche Interessen hatten sich noch nicht
ausgebildet. Die Idee eines allslawischen Staatenverbandes dehnte sich noch
nicht auf die katholischen Westslawen aus. Ging doch der spätere Dekabrist
Jcckuschkin so weit, seinen Freunden zu erklären, er würde den Zaren morden,
als sich in Moskau die Nachricht verbreitete, Alexander der Erste habe den
Polen die Rückgabe der früher polnischen Provinzen versprochen. (Schilder,
Nikolaus der Erste, A. S. Ssuworin, Petersburg, 1903, Band I, S. 536,
Anm. 459.) Die Abwesenheit solcher gemeinsamen Interessen ließ auch dem
russischen Zaren freie Hand bei seinem Anschluß an die Mächte des Westens.
Sie macht Alexanders Vorgehn auf dem Wiener Kongreß auch für die Russen
verständlich. In Rußland gab es nur eine Idee: die der Selbstherrlichkeit des
Zaren, ein nationales Bewußtsein war nicht entwickelt, wenn es auch nach 1812
durchsetzt mit sozialen Utopien bei der militärischen Jugend aufflackerte. Peters
und Katharinas Beamtentum hatte jede Regung des Volkes der Bureaukratie
unterjocht, die sich in der Rolle einer Hüterin der Selbstherrschaft recht wohl
befand. Alexander der Erste konnte der Heiligen Allianz beitreten, weil den
verbündeten Monarchen mit der von Frankreich hereinziehenden Demokratie ein


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[0135] Russische Briefe Abschnitt einer gemeinnützigen, weitsichtigen Politik gemacht worden waren, sich vielmehr als Willkürakt großmütiger Laune eines Autokraten darstellten. Sie. fanden nicht nur keine Unterstützung in der Ideenwelt der russischen Gesellschaft, sondern wurden von den herrschenden Kreisen angefeindet. Die Russen sahen in den Polen noch Erbfeinde (Schiemann ni. a. O. S. 125). Das Herzogtum Warschau galt in der russischen Gesellschaft als erobertes Land. Aber auch von den Polen wurden des Zaren Wohltaten nicht als der Ausgangspunkt für eine enge Verbindung mit den Russen betrachtet, sondern als Vorbereitung für die Zurückgewinnung der früher an Rußland, Preußen und Österreich gefallnen Provinzen und die Wiederaufrichtung des alten Polens. Die Polen fühlten sich als Europäer und sahen in den Russen asiatische Barbaren, deren sie sich in der Not zur Erreichung ihrer eignen Zwecke bedienten. Wie groß die Nicht¬ achtung der Polen den Russen gegenüber war, geht aus ihrem Benehmen dem Gefolge Alexanders gegenüber hervor. Eine Deputation polnischer Edelleute aus Litauen unter Führung des Grafen Oginski sollte die Angliederung der Gouvernements Wilna, Grodno und Minsk vom Zaren fordern. Irgendein Versuch, sich unter den Russen Bundesgenossen zu schaffen, wurde nicht gemacht. Ein Russe erzählt aus jenen Tagen: „. . . die Polen blickten auf uns allgemein finster. Sie waren unzufrieden geblieben und hielten in Unterhaltungen selbst nicht mit der Forderung zurück, daß ihnen Mohilew, Witebsk, Wolhynien, Po- dolien und Litauen zurückgegeben werden müsse. ..." Alexander seinerseits unterstützte die polnischen Patrioten in ihren Illusionen, wo er auch immer konnte, ohne dabei die Gefühle seiner russischen Untertanen zu schonen. Dabei bildete doch seine Persönlichkeit die einzige Verbindung zwischen beiden Teilen. Eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Nußland und Polen auf irgend¬ einem Gebiete fehlte. Große wirtschaftliche Interessen hatten sich noch nicht ausgebildet. Die Idee eines allslawischen Staatenverbandes dehnte sich noch nicht auf die katholischen Westslawen aus. Ging doch der spätere Dekabrist Jcckuschkin so weit, seinen Freunden zu erklären, er würde den Zaren morden, als sich in Moskau die Nachricht verbreitete, Alexander der Erste habe den Polen die Rückgabe der früher polnischen Provinzen versprochen. (Schilder, Nikolaus der Erste, A. S. Ssuworin, Petersburg, 1903, Band I, S. 536, Anm. 459.) Die Abwesenheit solcher gemeinsamen Interessen ließ auch dem russischen Zaren freie Hand bei seinem Anschluß an die Mächte des Westens. Sie macht Alexanders Vorgehn auf dem Wiener Kongreß auch für die Russen verständlich. In Rußland gab es nur eine Idee: die der Selbstherrlichkeit des Zaren, ein nationales Bewußtsein war nicht entwickelt, wenn es auch nach 1812 durchsetzt mit sozialen Utopien bei der militärischen Jugend aufflackerte. Peters und Katharinas Beamtentum hatte jede Regung des Volkes der Bureaukratie unterjocht, die sich in der Rolle einer Hüterin der Selbstherrschaft recht wohl befand. Alexander der Erste konnte der Heiligen Allianz beitreten, weil den verbündeten Monarchen mit der von Frankreich hereinziehenden Demokratie ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/135>, abgerufen am 24.07.2024.