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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sind wir eine Nation?

kommt doch nur in Deutschland vor. Aber auch diese Parteien haben einander
oft genug in Parlament und Presse mit einer Erbitterung bekämpft, wie ein¬
ander Städte und Adel im spätern Mittelalter bekämpften, und sie, die sich
national nennen, haben selten genug den andern Parteien eine feste Phalanx
entgegengestellt. Von diesen sind bekanntlich die Sozialdemokraten ohne jeden
Vorbehalt antinational, die "klassenbewußten Genossen" sehen in unsrer Staats¬
ordnung trotz alleu Sozialgesetzen nur den verhaßten kapitalistischen Klassenstaat.
Es ist ein Jammer, zu sehen, wie sich viele Hunderttausende braver, verstündiger
und fleißiger Männer, auf deren Arbeit unsre wirtschaftliche Entwicklung mit
beruht, und deren Väter die Siege von 1870/71 miterfochten haben, so gut wie
ihre Brüder und Söhne jetzt in Südafrika stehn, von den abgedroschnen dok¬
trinären Phrasen ihrer fanatischen und verlognen Verführer einfangen lassen,
wie sie ihnen als willenlose Herde folgen, wie sie für Parteizwecke schwere
Opfer bringen, um einem nicht nur unerfüllbaren, sondern auch unvernünftigen
und verderblichen Traumbilde nachzulaufen, wie die sozialdemokratische Neichstags-
fraktion schlechterdings als eine tote, hemmende Last am nationalen Körper
hängt, statt, wenn sie ihre Zeit verstünde, der deutschen Arbeiterschaft durch posi¬
tives Wirken einen wesentlichen, gesunden, berechtigten Einfluß auf die nationale
Politik zu verschaffen. Das Zentrum nennt sich national, es hat bei einer
Reihe von Entscheidungen im nationalen Sinne gestimmt, es umfaßt gewiß eine
Menge wackrer, kenntnisreicher patriotischer Männer unter den Abgeordneten
wie unter den Wählern. Aber es kann sich von den verhängnisvollen Tradi¬
tionen des Kulturkampfes nicht losmachen, es ist eine deutsche Partei nur mit
dem stärksten kirchlichen Vorbehalt, obwohl es für die Bewahrung der kirchlichen
Rechte unsrer Katholiken einer katholischen Partei wahrhaftig längst nicht mehr
bedarf, und obwohl sich der Vatikan hütet, mit dem Interesse des Zentrums
sein kirchliches Interesse zu identifizieren, das weit besser gefördert wird durch
ein gutes Einvernehmen zwischen Rom und Berlin als durch irgendwelche
politische Partei in Deutschland.

Unter solchen Umständen ist der Reichstag geradezu ein Hohn auf seine
nationale Bestimmung geworden. Was die Fremden niemals begreifen oder
falsch beurteilen, das ist doch Tatsache: der Reichstag hat im letzten Vintel-
jahrhundert niemals eine zuverlässige nationale Mehrheit gehabt. Er ist eben
der Ausdruck der zifsermäßigen Mehrheit des deutschen Volks, wie sie durch das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum getreuen Ausdruck kommt, sodaß
sich die ganze traurige politische Unreife des deutschen Volks darin spiegelt.
Von der zweiten Aufgabe einer Volksvertretung freilich, die Intelligenz der
Nation zu vertreten, hat sich der Reichstag immer weiter entfernt, das allge¬
meine Wahlrecht hat bis jetzt bei uns geradezu als eine Versicherung gegen
die Herrschaft der Intelligenz und Bildung im Parlament gewirkt. Wie un¬
endlich tief steht deshalb doch der Reichstag gegenüber dem vielverhöhnten
Frankfurter Professorenparlament von 1848/49! Und doch soll die Volksbildung


Sind wir eine Nation?

kommt doch nur in Deutschland vor. Aber auch diese Parteien haben einander
oft genug in Parlament und Presse mit einer Erbitterung bekämpft, wie ein¬
ander Städte und Adel im spätern Mittelalter bekämpften, und sie, die sich
national nennen, haben selten genug den andern Parteien eine feste Phalanx
entgegengestellt. Von diesen sind bekanntlich die Sozialdemokraten ohne jeden
Vorbehalt antinational, die „klassenbewußten Genossen" sehen in unsrer Staats¬
ordnung trotz alleu Sozialgesetzen nur den verhaßten kapitalistischen Klassenstaat.
Es ist ein Jammer, zu sehen, wie sich viele Hunderttausende braver, verstündiger
und fleißiger Männer, auf deren Arbeit unsre wirtschaftliche Entwicklung mit
beruht, und deren Väter die Siege von 1870/71 miterfochten haben, so gut wie
ihre Brüder und Söhne jetzt in Südafrika stehn, von den abgedroschnen dok¬
trinären Phrasen ihrer fanatischen und verlognen Verführer einfangen lassen,
wie sie ihnen als willenlose Herde folgen, wie sie für Parteizwecke schwere
Opfer bringen, um einem nicht nur unerfüllbaren, sondern auch unvernünftigen
und verderblichen Traumbilde nachzulaufen, wie die sozialdemokratische Neichstags-
fraktion schlechterdings als eine tote, hemmende Last am nationalen Körper
hängt, statt, wenn sie ihre Zeit verstünde, der deutschen Arbeiterschaft durch posi¬
tives Wirken einen wesentlichen, gesunden, berechtigten Einfluß auf die nationale
Politik zu verschaffen. Das Zentrum nennt sich national, es hat bei einer
Reihe von Entscheidungen im nationalen Sinne gestimmt, es umfaßt gewiß eine
Menge wackrer, kenntnisreicher patriotischer Männer unter den Abgeordneten
wie unter den Wählern. Aber es kann sich von den verhängnisvollen Tradi¬
tionen des Kulturkampfes nicht losmachen, es ist eine deutsche Partei nur mit
dem stärksten kirchlichen Vorbehalt, obwohl es für die Bewahrung der kirchlichen
Rechte unsrer Katholiken einer katholischen Partei wahrhaftig längst nicht mehr
bedarf, und obwohl sich der Vatikan hütet, mit dem Interesse des Zentrums
sein kirchliches Interesse zu identifizieren, das weit besser gefördert wird durch
ein gutes Einvernehmen zwischen Rom und Berlin als durch irgendwelche
politische Partei in Deutschland.

Unter solchen Umständen ist der Reichstag geradezu ein Hohn auf seine
nationale Bestimmung geworden. Was die Fremden niemals begreifen oder
falsch beurteilen, das ist doch Tatsache: der Reichstag hat im letzten Vintel-
jahrhundert niemals eine zuverlässige nationale Mehrheit gehabt. Er ist eben
der Ausdruck der zifsermäßigen Mehrheit des deutschen Volks, wie sie durch das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum getreuen Ausdruck kommt, sodaß
sich die ganze traurige politische Unreife des deutschen Volks darin spiegelt.
Von der zweiten Aufgabe einer Volksvertretung freilich, die Intelligenz der
Nation zu vertreten, hat sich der Reichstag immer weiter entfernt, das allge¬
meine Wahlrecht hat bis jetzt bei uns geradezu als eine Versicherung gegen
die Herrschaft der Intelligenz und Bildung im Parlament gewirkt. Wie un¬
endlich tief steht deshalb doch der Reichstag gegenüber dem vielverhöhnten
Frankfurter Professorenparlament von 1848/49! Und doch soll die Volksbildung


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[0013] Sind wir eine Nation? kommt doch nur in Deutschland vor. Aber auch diese Parteien haben einander oft genug in Parlament und Presse mit einer Erbitterung bekämpft, wie ein¬ ander Städte und Adel im spätern Mittelalter bekämpften, und sie, die sich national nennen, haben selten genug den andern Parteien eine feste Phalanx entgegengestellt. Von diesen sind bekanntlich die Sozialdemokraten ohne jeden Vorbehalt antinational, die „klassenbewußten Genossen" sehen in unsrer Staats¬ ordnung trotz alleu Sozialgesetzen nur den verhaßten kapitalistischen Klassenstaat. Es ist ein Jammer, zu sehen, wie sich viele Hunderttausende braver, verstündiger und fleißiger Männer, auf deren Arbeit unsre wirtschaftliche Entwicklung mit beruht, und deren Väter die Siege von 1870/71 miterfochten haben, so gut wie ihre Brüder und Söhne jetzt in Südafrika stehn, von den abgedroschnen dok¬ trinären Phrasen ihrer fanatischen und verlognen Verführer einfangen lassen, wie sie ihnen als willenlose Herde folgen, wie sie für Parteizwecke schwere Opfer bringen, um einem nicht nur unerfüllbaren, sondern auch unvernünftigen und verderblichen Traumbilde nachzulaufen, wie die sozialdemokratische Neichstags- fraktion schlechterdings als eine tote, hemmende Last am nationalen Körper hängt, statt, wenn sie ihre Zeit verstünde, der deutschen Arbeiterschaft durch posi¬ tives Wirken einen wesentlichen, gesunden, berechtigten Einfluß auf die nationale Politik zu verschaffen. Das Zentrum nennt sich national, es hat bei einer Reihe von Entscheidungen im nationalen Sinne gestimmt, es umfaßt gewiß eine Menge wackrer, kenntnisreicher patriotischer Männer unter den Abgeordneten wie unter den Wählern. Aber es kann sich von den verhängnisvollen Tradi¬ tionen des Kulturkampfes nicht losmachen, es ist eine deutsche Partei nur mit dem stärksten kirchlichen Vorbehalt, obwohl es für die Bewahrung der kirchlichen Rechte unsrer Katholiken einer katholischen Partei wahrhaftig längst nicht mehr bedarf, und obwohl sich der Vatikan hütet, mit dem Interesse des Zentrums sein kirchliches Interesse zu identifizieren, das weit besser gefördert wird durch ein gutes Einvernehmen zwischen Rom und Berlin als durch irgendwelche politische Partei in Deutschland. Unter solchen Umständen ist der Reichstag geradezu ein Hohn auf seine nationale Bestimmung geworden. Was die Fremden niemals begreifen oder falsch beurteilen, das ist doch Tatsache: der Reichstag hat im letzten Vintel- jahrhundert niemals eine zuverlässige nationale Mehrheit gehabt. Er ist eben der Ausdruck der zifsermäßigen Mehrheit des deutschen Volks, wie sie durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum getreuen Ausdruck kommt, sodaß sich die ganze traurige politische Unreife des deutschen Volks darin spiegelt. Von der zweiten Aufgabe einer Volksvertretung freilich, die Intelligenz der Nation zu vertreten, hat sich der Reichstag immer weiter entfernt, das allge¬ meine Wahlrecht hat bis jetzt bei uns geradezu als eine Versicherung gegen die Herrschaft der Intelligenz und Bildung im Parlament gewirkt. Wie un¬ endlich tief steht deshalb doch der Reichstag gegenüber dem vielverhöhnten Frankfurter Professorenparlament von 1848/49! Und doch soll die Volksbildung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/13>, abgerufen am 24.07.2024.