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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sind wir eine Nation?

Staats, der auf eine große und stolze Geschichte zurücksieht, ein Partikularismus,
der sich auf 6400 Geviertmeilen von 10000 bezieht. Preußen in seinem jetzigen
Umfange würde, auf sich selbst beschränkt, vollkommen imstande sein, sich als
Großmacht zu behaupten und die kleinen norddeutschen Nachbarstaaten, die es
einschließt oder begrenzt, ohne jede Bundesverfassung von sich unbedingt ab¬
hängig zu machen; es hat eine Reihe nationaler Aufgaben allein zu lösen und
gelöst. Wenn es eine bundesstaatliche Ordnung für ganz Deutschland erstrebt
und durchgesetzt hat, so hat es dabei deutsch, nicht preußisch gehandelt, und es
hat dabei viel mehr gegeben als empfangen. Es hat sogar, indem es sich der
Rechtsgesetzgebung auf einer Reihe von Gebieten des öffentlichen Lebens eben¬
sogut unterwarf wie die Mittel- und Kleinstaaten, ebensogut wie diese auf seine
volle Autonomie verzichtet, es kann im Bundesrat überstimmt werden, da es
sich und vierzehn Stimmen von achtundfunfzig begnügt, obwohl es fast zwei
Drittel von Deutschland, und zwar die beiden zentralisierten Drittel umfaßt,
und es ist mehrfach überstimmt worden, obwohl es gefährlich wäre, die rein
formelle kleinstaatliche Mehrheit zu oft zu brauchen; es hat nach 1871 die
Großmut gehabt, was man natürlich längst vergessen hat, die Verteilung der
Kriegskostenentschädigung nach der Bevölkerungszahl statt nach den Kricgs-
leistungen zuzugestehen, zu seinem eignen Nachteil. Wer von preußischer
Herrschsucht im heutigen Deutschland redet, der redet bewußt oder unbewußt
die Unwahrheit. Zum Dank für diese Uneigennützigkeit und die sehr schonende
Art, mit der es sein tatsächliches Übergewicht seinen Bundesgenossen gegenüber
zur Geltung bringt, werden seine Verwaltung, überhaupt seine Verhältnisse in
der außerpreußischen deutschen Presse, die im eignen engern Vaterlande wahrlich
genug zu tun fände, oft genug absprechend kritisiert. Sollen wir nun wünschen,
daß sich das feste Gefüge des preußischen Staats löse, daß Preußen, wie die Phrase
1848/49 lautete, in Deutschland aufgehe? Das würde nicht nur der historischen
Entwicklung seit 1866, die vielmehr preußische Einrichtungen über ganz Deutsch¬
land ausgedehnt hat, widersprechen, sondern es wäre in deutschem Interesse
nicht einmal wünschenswert. Mit dem deutschen Reichstage ließe sich eine
nationale Politik zum Beispiel gegenüber den Polen überhaupt gar nicht machen,
hätte sich auch die Kirchengesetzgebung der Knlturkampfzeit nicht machen lassen,
und für den Fall einer schweren Niederlage und einer feindlichen Okkupation,
einer Feuerprobe, wie sie dem deutschen Bundesstaate zum Glück bisher erspart
geblieben ist, aber schwerlich für immer erspart bleiben wird, würde der preu¬
ßische Staat gerade in seiner Geschlossenheit, seinen monarchischen Traditionen
und seinem starken Selbstbewußtsein das feste Bollwerk ganz Deutschlands sein,
wie er schon jetzt ein solches ist gegen allzu starke demokratische Zeitströmungen.
Jedenfalls hat der preußische Vorbehalt deutscher Gesinnung einen ganz andern
Charakter als kleinstaatliche Vorbehalte dieser Art.

Gefährlicher als diese Vorbehalte sind die Vorbehalte der großen und
kleinen Parteien. Daß man manche Parteien als ^nationale" bezeichnet, das


Sind wir eine Nation?

Staats, der auf eine große und stolze Geschichte zurücksieht, ein Partikularismus,
der sich auf 6400 Geviertmeilen von 10000 bezieht. Preußen in seinem jetzigen
Umfange würde, auf sich selbst beschränkt, vollkommen imstande sein, sich als
Großmacht zu behaupten und die kleinen norddeutschen Nachbarstaaten, die es
einschließt oder begrenzt, ohne jede Bundesverfassung von sich unbedingt ab¬
hängig zu machen; es hat eine Reihe nationaler Aufgaben allein zu lösen und
gelöst. Wenn es eine bundesstaatliche Ordnung für ganz Deutschland erstrebt
und durchgesetzt hat, so hat es dabei deutsch, nicht preußisch gehandelt, und es
hat dabei viel mehr gegeben als empfangen. Es hat sogar, indem es sich der
Rechtsgesetzgebung auf einer Reihe von Gebieten des öffentlichen Lebens eben¬
sogut unterwarf wie die Mittel- und Kleinstaaten, ebensogut wie diese auf seine
volle Autonomie verzichtet, es kann im Bundesrat überstimmt werden, da es
sich und vierzehn Stimmen von achtundfunfzig begnügt, obwohl es fast zwei
Drittel von Deutschland, und zwar die beiden zentralisierten Drittel umfaßt,
und es ist mehrfach überstimmt worden, obwohl es gefährlich wäre, die rein
formelle kleinstaatliche Mehrheit zu oft zu brauchen; es hat nach 1871 die
Großmut gehabt, was man natürlich längst vergessen hat, die Verteilung der
Kriegskostenentschädigung nach der Bevölkerungszahl statt nach den Kricgs-
leistungen zuzugestehen, zu seinem eignen Nachteil. Wer von preußischer
Herrschsucht im heutigen Deutschland redet, der redet bewußt oder unbewußt
die Unwahrheit. Zum Dank für diese Uneigennützigkeit und die sehr schonende
Art, mit der es sein tatsächliches Übergewicht seinen Bundesgenossen gegenüber
zur Geltung bringt, werden seine Verwaltung, überhaupt seine Verhältnisse in
der außerpreußischen deutschen Presse, die im eignen engern Vaterlande wahrlich
genug zu tun fände, oft genug absprechend kritisiert. Sollen wir nun wünschen,
daß sich das feste Gefüge des preußischen Staats löse, daß Preußen, wie die Phrase
1848/49 lautete, in Deutschland aufgehe? Das würde nicht nur der historischen
Entwicklung seit 1866, die vielmehr preußische Einrichtungen über ganz Deutsch¬
land ausgedehnt hat, widersprechen, sondern es wäre in deutschem Interesse
nicht einmal wünschenswert. Mit dem deutschen Reichstage ließe sich eine
nationale Politik zum Beispiel gegenüber den Polen überhaupt gar nicht machen,
hätte sich auch die Kirchengesetzgebung der Knlturkampfzeit nicht machen lassen,
und für den Fall einer schweren Niederlage und einer feindlichen Okkupation,
einer Feuerprobe, wie sie dem deutschen Bundesstaate zum Glück bisher erspart
geblieben ist, aber schwerlich für immer erspart bleiben wird, würde der preu¬
ßische Staat gerade in seiner Geschlossenheit, seinen monarchischen Traditionen
und seinem starken Selbstbewußtsein das feste Bollwerk ganz Deutschlands sein,
wie er schon jetzt ein solches ist gegen allzu starke demokratische Zeitströmungen.
Jedenfalls hat der preußische Vorbehalt deutscher Gesinnung einen ganz andern
Charakter als kleinstaatliche Vorbehalte dieser Art.

Gefährlicher als diese Vorbehalte sind die Vorbehalte der großen und
kleinen Parteien. Daß man manche Parteien als ^nationale" bezeichnet, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/12>, abgerufen am 27.07.2024.