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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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den Marken, in Pommern und in Ostpreußen möglich gewesen, wenn unmittel¬
bar nach der Schlacht ein entschlossener Organisator des Widerstandes, mit
diktatorischer Gewalt bekleidet, an die Spitze des Staates getreten wäre. Aber
die Überraschung über das für unglaublich gehaltne Ereignis war so groß und
so allgemein, daß niemand daran dachte, die im Staate noch reichlich vorhandnen
Kräfte aufzubieten oder dafür zu sorgen, daß sie wenigstens an der Oder einen
Kouzentrationspunkt fanden. Bevor man sich von der Überraschung erholt hatte,
waren die rastlos nachstürmenden Sieger zur Stelle. Auch auf französischer
Seite hatte wohl niemand daran geglaubt, daß ein einziger Schlachttag genügen
würde, die Monarchie Friedrichs des Großen so vollständig zu Boden zu schmettern,
das Heer so gründlich zu zertrümmern, das bis dahin auch bei dem nunmehr
siegreichen Feinde in hoher Achtung gestanden und als der gefährlichste Gegner
gegolten hatte. Die Kräfte, die im preußischen Volke schlummerten, waren im
Frühling 1813 keine andern, als wie sie 1806 und 1807 auch vorhanden
waren. Im Gegenteil. Im Frühling 1813 konnte nur mit einem unendlich ver¬
kleinerten, vom Feinde vollständig cmsgesognen, kaum noch leistungsfähigen
Staatsgebiet gerechnet werden, das zum Teil noch von französischen Heeren
besetzt und nach jeder Richtung hin aufs äußerste erschöpft war; dem nur ein
Heer von 42000 Mann zu Gebote stand, das man künstlich und ohne Auf¬
sehen verstärken mußte, um den König und das Land nicht neuen französischen
Gewalttaten auszusetzen. Vergegenwärtigt man sich die Leistungen des kleinen
Preußens im Frühling 1813 unter dem Druck französischer Behörden und
Garnisonen, so wird mau auf die Frage, weshalb sich das mindestens doppelt
so große Preußen vom Herbst 1806 nicht zu einer ähnlichen Leistung aufraffte,
immer nur die Antwort finden: weil die Führung fehlte, und weil man die
Folgen der ungewohnten Niederlage nur durch Kopflosigkeit zu einem Umfange
anwachsen ließ, der durch die taktische Entscheidung von Jena und Auerstedt
an sich keineswegs geboten war.

Um wieviel höher Napoleon die geschlagner Preußen einschätzte als diese
sich selbst, beweist der Umstand, daß obwohl er im Tilsiter Frieden das Land
fast bis zur völligen Ohnmacht reduziert und wehrlos gemacht hatte, obwohl
er von dem Könige persönlich einen sehr geringen, wenn auch unrichtigen Ein¬
druck empfangen hatte, er dennoch nie aufgehört hat, Preußen als seinen ge¬
fährlichsten Feind anzusehen. Sein Sinnen ist bis zum Jahre 1811 darauf
gerichtet gewesen, diesen Staat zu vernichten. Die Ahnung, daß von diesem zer¬
stückelten Preußen aus die Axt an die Wurzeln seiner Macht gelegt werden,
daß sich jenseits der Oder die Nemesis zum vernichtenden Schlage erheben
würde, hat ihn nie verlassen. Segur erzählt, daß im Frühsommer 1812, auf
dem Zuge nach Nußland, dem Kaiser und seiner Umgebung in den preußischen
Dörfern die Zahl der jungen Leute aufgefallen sei, die in soldatischer Haltung
ihn und sein stattliches Gefolge vorüberziehen sahen, ernst, schweigend und ohne
Begrüßung. Es waren die mit Hilfe des Scharnhorstschen Krümpersystems


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den Marken, in Pommern und in Ostpreußen möglich gewesen, wenn unmittel¬
bar nach der Schlacht ein entschlossener Organisator des Widerstandes, mit
diktatorischer Gewalt bekleidet, an die Spitze des Staates getreten wäre. Aber
die Überraschung über das für unglaublich gehaltne Ereignis war so groß und
so allgemein, daß niemand daran dachte, die im Staate noch reichlich vorhandnen
Kräfte aufzubieten oder dafür zu sorgen, daß sie wenigstens an der Oder einen
Kouzentrationspunkt fanden. Bevor man sich von der Überraschung erholt hatte,
waren die rastlos nachstürmenden Sieger zur Stelle. Auch auf französischer
Seite hatte wohl niemand daran geglaubt, daß ein einziger Schlachttag genügen
würde, die Monarchie Friedrichs des Großen so vollständig zu Boden zu schmettern,
das Heer so gründlich zu zertrümmern, das bis dahin auch bei dem nunmehr
siegreichen Feinde in hoher Achtung gestanden und als der gefährlichste Gegner
gegolten hatte. Die Kräfte, die im preußischen Volke schlummerten, waren im
Frühling 1813 keine andern, als wie sie 1806 und 1807 auch vorhanden
waren. Im Gegenteil. Im Frühling 1813 konnte nur mit einem unendlich ver¬
kleinerten, vom Feinde vollständig cmsgesognen, kaum noch leistungsfähigen
Staatsgebiet gerechnet werden, das zum Teil noch von französischen Heeren
besetzt und nach jeder Richtung hin aufs äußerste erschöpft war; dem nur ein
Heer von 42000 Mann zu Gebote stand, das man künstlich und ohne Auf¬
sehen verstärken mußte, um den König und das Land nicht neuen französischen
Gewalttaten auszusetzen. Vergegenwärtigt man sich die Leistungen des kleinen
Preußens im Frühling 1813 unter dem Druck französischer Behörden und
Garnisonen, so wird mau auf die Frage, weshalb sich das mindestens doppelt
so große Preußen vom Herbst 1806 nicht zu einer ähnlichen Leistung aufraffte,
immer nur die Antwort finden: weil die Führung fehlte, und weil man die
Folgen der ungewohnten Niederlage nur durch Kopflosigkeit zu einem Umfange
anwachsen ließ, der durch die taktische Entscheidung von Jena und Auerstedt
an sich keineswegs geboten war.

Um wieviel höher Napoleon die geschlagner Preußen einschätzte als diese
sich selbst, beweist der Umstand, daß obwohl er im Tilsiter Frieden das Land
fast bis zur völligen Ohnmacht reduziert und wehrlos gemacht hatte, obwohl
er von dem Könige persönlich einen sehr geringen, wenn auch unrichtigen Ein¬
druck empfangen hatte, er dennoch nie aufgehört hat, Preußen als seinen ge¬
fährlichsten Feind anzusehen. Sein Sinnen ist bis zum Jahre 1811 darauf
gerichtet gewesen, diesen Staat zu vernichten. Die Ahnung, daß von diesem zer¬
stückelten Preußen aus die Axt an die Wurzeln seiner Macht gelegt werden,
daß sich jenseits der Oder die Nemesis zum vernichtenden Schlage erheben
würde, hat ihn nie verlassen. Segur erzählt, daß im Frühsommer 1812, auf
dem Zuge nach Nußland, dem Kaiser und seiner Umgebung in den preußischen
Dörfern die Zahl der jungen Leute aufgefallen sei, die in soldatischer Haltung
ihn und sein stattliches Gefolge vorüberziehen sahen, ernst, schweigend und ohne
Begrüßung. Es waren die mit Hilfe des Scharnhorstschen Krümpersystems


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[0076] I^>in den Marken, in Pommern und in Ostpreußen möglich gewesen, wenn unmittel¬ bar nach der Schlacht ein entschlossener Organisator des Widerstandes, mit diktatorischer Gewalt bekleidet, an die Spitze des Staates getreten wäre. Aber die Überraschung über das für unglaublich gehaltne Ereignis war so groß und so allgemein, daß niemand daran dachte, die im Staate noch reichlich vorhandnen Kräfte aufzubieten oder dafür zu sorgen, daß sie wenigstens an der Oder einen Kouzentrationspunkt fanden. Bevor man sich von der Überraschung erholt hatte, waren die rastlos nachstürmenden Sieger zur Stelle. Auch auf französischer Seite hatte wohl niemand daran geglaubt, daß ein einziger Schlachttag genügen würde, die Monarchie Friedrichs des Großen so vollständig zu Boden zu schmettern, das Heer so gründlich zu zertrümmern, das bis dahin auch bei dem nunmehr siegreichen Feinde in hoher Achtung gestanden und als der gefährlichste Gegner gegolten hatte. Die Kräfte, die im preußischen Volke schlummerten, waren im Frühling 1813 keine andern, als wie sie 1806 und 1807 auch vorhanden waren. Im Gegenteil. Im Frühling 1813 konnte nur mit einem unendlich ver¬ kleinerten, vom Feinde vollständig cmsgesognen, kaum noch leistungsfähigen Staatsgebiet gerechnet werden, das zum Teil noch von französischen Heeren besetzt und nach jeder Richtung hin aufs äußerste erschöpft war; dem nur ein Heer von 42000 Mann zu Gebote stand, das man künstlich und ohne Auf¬ sehen verstärken mußte, um den König und das Land nicht neuen französischen Gewalttaten auszusetzen. Vergegenwärtigt man sich die Leistungen des kleinen Preußens im Frühling 1813 unter dem Druck französischer Behörden und Garnisonen, so wird mau auf die Frage, weshalb sich das mindestens doppelt so große Preußen vom Herbst 1806 nicht zu einer ähnlichen Leistung aufraffte, immer nur die Antwort finden: weil die Führung fehlte, und weil man die Folgen der ungewohnten Niederlage nur durch Kopflosigkeit zu einem Umfange anwachsen ließ, der durch die taktische Entscheidung von Jena und Auerstedt an sich keineswegs geboten war. Um wieviel höher Napoleon die geschlagner Preußen einschätzte als diese sich selbst, beweist der Umstand, daß obwohl er im Tilsiter Frieden das Land fast bis zur völligen Ohnmacht reduziert und wehrlos gemacht hatte, obwohl er von dem Könige persönlich einen sehr geringen, wenn auch unrichtigen Ein¬ druck empfangen hatte, er dennoch nie aufgehört hat, Preußen als seinen ge¬ fährlichsten Feind anzusehen. Sein Sinnen ist bis zum Jahre 1811 darauf gerichtet gewesen, diesen Staat zu vernichten. Die Ahnung, daß von diesem zer¬ stückelten Preußen aus die Axt an die Wurzeln seiner Macht gelegt werden, daß sich jenseits der Oder die Nemesis zum vernichtenden Schlage erheben würde, hat ihn nie verlassen. Segur erzählt, daß im Frühsommer 1812, auf dem Zuge nach Nußland, dem Kaiser und seiner Umgebung in den preußischen Dörfern die Zahl der jungen Leute aufgefallen sei, die in soldatischer Haltung ihn und sein stattliches Gefolge vorüberziehen sahen, ernst, schweigend und ohne Begrüßung. Es waren die mit Hilfe des Scharnhorstschen Krümpersystems

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/76>, abgerufen am 23.07.2024.