Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Landes dennoch immer wieder die Kräfte zu entnehmen, um sich sowohl auf dem
Schlachtfelde wie in der Politik zu behaupten. Am Abend des 14. Oktober 1806
war zwar die preußische Armee unter schweren Verlusten des Feindes geschlagen
worden, die größer waren als die preußischen, aber alle.Hilfsquellen des Staates
sowie ein großer Teil der Armee, der nicht mit im Felde gestanden hatte, waren
vollständig intakt; es gebrach nur an der führenden und befehlenden Hand, um
daraus einen Wall zu'formen, der vielleicht sogar der napoleonischen Siegesflut
standzuhalten vermocht hätte. Aber am Abend des 14. Oktober fehlte jede
Disposition, jede Führung, für den Rückzug ebenso wie jede Disposition für die
gesamte Staatsleitung. Der Rückzug einzelner Teile, wie namentlich der des
Herzogs von Weimar und der Blüchersche nach Lübeck, die vorzüglich geleiteten
Gefechte bei Waren und Altenzaun, haben dargetan, daß die Auflösung des Heeres
in seine Atome keineswegs eine notwendige taktische Folge der Verlornen Schlacht,
sondern nur eine Folge der fehlenden obersten Führung war. Obwohl man schon
im Jahre 1805 zum Kriege gegen Frankreich entschlossen gewesen war, die Armee
mobil und wieder demobil gemacht wurde, war für die oberste Leitung im
Rücken des Heeres so gut wie nichts vorgesehen. Der Organismus des Staates,
in dem seit Friedrichs Tagen alles nur gewöhnt war, einem königlichen Befehl
zu folgen, versagte in dem Augenblicke, wo dieser Befehl ausblieb. Wäre die
Nation uach der Schlacht zu einem entschlossenen Widerstande aufgefordert, die
Armee in einer gesicherten, weiter zurückliegenden Linie gesammelt worden, so
würde weder Magdeburg noch Stettin schimpflich kapituliert haben, sofern ihre
Vcrteidigungsausrüstnng ihren Aufgaben entsprach. Es ist nicht die Verlorne
Schlacht, an der der Staat zugrunde ging, sondern die Kopflosigkeit nach der
Niederlage. Schlachten haben alle Nationen, auch die kriegerischsten verloren,
aber sie haben darum noch nicht sich selbst aufgegeben.

Die Haltung Frankreichs nach der Schlacht bei Sedan ist es namentlich
gewesen, die uns Deutschen den Vergleich mit 1806 besonders nahe gelegt hat.
Die Katastrophe von Sedan war nach so vielen voranfgegangnen Niederlagen
zerschmetternder als die von Jena, nicht allein in dem Umfang der Verluste,
sondern anch in Anbetracht der Tatsache, daß das Staatsoberhaupt mit dem
gesamten Heere in Kriegsgefangenschaft geraten war. Es bleibt Gambettas
unsterbliches Verdienst, nach dem militärischen Zusammenbruch von Sedan alle
Kräfte der französischen Nation zu einen, Widerstande zusammengefaßt zu haben,
der nachhaltiger und für den Sieger opferreicher war als der Widerstand,
den das Kaiserreich zu leisten vermocht hatte. Daß es in Preußen in den
Jahren 1806 und 1807 an Männern nicht fehlte, die zunächst in kleinern Ver¬
hältnissen dasselbe zu leisten vermochten, haben Gneisenau, Nettelbeck und Schill
bei der Verteidigung von Kolberg, der alte Courbiere in Graudenz, Graf Götzen
in der Grafschaft Glatz bewiesen, sobald sie von der Möglichkeit eines könig¬
lichen Befehls abgeschnitten, auf sich selbst, ihren Mannesmut und ihre Pflicht¬
treue angewiesen waren. Was dort im kleinen geschah, wäre im großen in


Landes dennoch immer wieder die Kräfte zu entnehmen, um sich sowohl auf dem
Schlachtfelde wie in der Politik zu behaupten. Am Abend des 14. Oktober 1806
war zwar die preußische Armee unter schweren Verlusten des Feindes geschlagen
worden, die größer waren als die preußischen, aber alle.Hilfsquellen des Staates
sowie ein großer Teil der Armee, der nicht mit im Felde gestanden hatte, waren
vollständig intakt; es gebrach nur an der führenden und befehlenden Hand, um
daraus einen Wall zu'formen, der vielleicht sogar der napoleonischen Siegesflut
standzuhalten vermocht hätte. Aber am Abend des 14. Oktober fehlte jede
Disposition, jede Führung, für den Rückzug ebenso wie jede Disposition für die
gesamte Staatsleitung. Der Rückzug einzelner Teile, wie namentlich der des
Herzogs von Weimar und der Blüchersche nach Lübeck, die vorzüglich geleiteten
Gefechte bei Waren und Altenzaun, haben dargetan, daß die Auflösung des Heeres
in seine Atome keineswegs eine notwendige taktische Folge der Verlornen Schlacht,
sondern nur eine Folge der fehlenden obersten Führung war. Obwohl man schon
im Jahre 1805 zum Kriege gegen Frankreich entschlossen gewesen war, die Armee
mobil und wieder demobil gemacht wurde, war für die oberste Leitung im
Rücken des Heeres so gut wie nichts vorgesehen. Der Organismus des Staates,
in dem seit Friedrichs Tagen alles nur gewöhnt war, einem königlichen Befehl
zu folgen, versagte in dem Augenblicke, wo dieser Befehl ausblieb. Wäre die
Nation uach der Schlacht zu einem entschlossenen Widerstande aufgefordert, die
Armee in einer gesicherten, weiter zurückliegenden Linie gesammelt worden, so
würde weder Magdeburg noch Stettin schimpflich kapituliert haben, sofern ihre
Vcrteidigungsausrüstnng ihren Aufgaben entsprach. Es ist nicht die Verlorne
Schlacht, an der der Staat zugrunde ging, sondern die Kopflosigkeit nach der
Niederlage. Schlachten haben alle Nationen, auch die kriegerischsten verloren,
aber sie haben darum noch nicht sich selbst aufgegeben.

Die Haltung Frankreichs nach der Schlacht bei Sedan ist es namentlich
gewesen, die uns Deutschen den Vergleich mit 1806 besonders nahe gelegt hat.
Die Katastrophe von Sedan war nach so vielen voranfgegangnen Niederlagen
zerschmetternder als die von Jena, nicht allein in dem Umfang der Verluste,
sondern anch in Anbetracht der Tatsache, daß das Staatsoberhaupt mit dem
gesamten Heere in Kriegsgefangenschaft geraten war. Es bleibt Gambettas
unsterbliches Verdienst, nach dem militärischen Zusammenbruch von Sedan alle
Kräfte der französischen Nation zu einen, Widerstande zusammengefaßt zu haben,
der nachhaltiger und für den Sieger opferreicher war als der Widerstand,
den das Kaiserreich zu leisten vermocht hatte. Daß es in Preußen in den
Jahren 1806 und 1807 an Männern nicht fehlte, die zunächst in kleinern Ver¬
hältnissen dasselbe zu leisten vermochten, haben Gneisenau, Nettelbeck und Schill
bei der Verteidigung von Kolberg, der alte Courbiere in Graudenz, Graf Götzen
in der Grafschaft Glatz bewiesen, sobald sie von der Möglichkeit eines könig¬
lichen Befehls abgeschnitten, auf sich selbst, ihren Mannesmut und ihre Pflicht¬
treue angewiesen waren. Was dort im kleinen geschah, wäre im großen in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300574"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_248" prev="#ID_247"> Landes dennoch immer wieder die Kräfte zu entnehmen, um sich sowohl auf dem<lb/>
Schlachtfelde wie in der Politik zu behaupten. Am Abend des 14. Oktober 1806<lb/>
war zwar die preußische Armee unter schweren Verlusten des Feindes geschlagen<lb/>
worden, die größer waren als die preußischen, aber alle.Hilfsquellen des Staates<lb/>
sowie ein großer Teil der Armee, der nicht mit im Felde gestanden hatte, waren<lb/>
vollständig intakt; es gebrach nur an der führenden und befehlenden Hand, um<lb/>
daraus einen Wall zu'formen, der vielleicht sogar der napoleonischen Siegesflut<lb/>
standzuhalten vermocht hätte.  Aber am Abend des 14. Oktober fehlte jede<lb/>
Disposition, jede Führung, für den Rückzug ebenso wie jede Disposition für die<lb/>
gesamte Staatsleitung.  Der Rückzug einzelner Teile, wie namentlich der des<lb/>
Herzogs von Weimar und der Blüchersche nach Lübeck, die vorzüglich geleiteten<lb/>
Gefechte bei Waren und Altenzaun, haben dargetan, daß die Auflösung des Heeres<lb/>
in seine Atome keineswegs eine notwendige taktische Folge der Verlornen Schlacht,<lb/>
sondern nur eine Folge der fehlenden obersten Führung war. Obwohl man schon<lb/>
im Jahre 1805 zum Kriege gegen Frankreich entschlossen gewesen war, die Armee<lb/>
mobil und wieder demobil gemacht wurde, war für die oberste Leitung im<lb/>
Rücken des Heeres so gut wie nichts vorgesehen. Der Organismus des Staates,<lb/>
in dem seit Friedrichs Tagen alles nur gewöhnt war, einem königlichen Befehl<lb/>
zu folgen, versagte in dem Augenblicke, wo dieser Befehl ausblieb.  Wäre die<lb/>
Nation uach der Schlacht zu einem entschlossenen Widerstande aufgefordert, die<lb/>
Armee in einer gesicherten, weiter zurückliegenden Linie gesammelt worden, so<lb/>
würde weder Magdeburg noch Stettin schimpflich kapituliert haben, sofern ihre<lb/>
Vcrteidigungsausrüstnng ihren Aufgaben entsprach.  Es ist nicht die Verlorne<lb/>
Schlacht, an der der Staat zugrunde ging, sondern die Kopflosigkeit nach der<lb/>
Niederlage. Schlachten haben alle Nationen, auch die kriegerischsten verloren,<lb/>
aber sie haben darum noch nicht sich selbst aufgegeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_249" next="#ID_250"> Die Haltung Frankreichs nach der Schlacht bei Sedan ist es namentlich<lb/>
gewesen, die uns Deutschen den Vergleich mit 1806 besonders nahe gelegt hat.<lb/>
Die Katastrophe von Sedan war nach so vielen voranfgegangnen Niederlagen<lb/>
zerschmetternder als die von Jena, nicht allein in dem Umfang der Verluste,<lb/>
sondern anch in Anbetracht der Tatsache, daß das Staatsoberhaupt mit dem<lb/>
gesamten Heere in Kriegsgefangenschaft geraten war.  Es bleibt Gambettas<lb/>
unsterbliches Verdienst, nach dem militärischen Zusammenbruch von Sedan alle<lb/>
Kräfte der französischen Nation zu einen, Widerstande zusammengefaßt zu haben,<lb/>
der nachhaltiger und für den Sieger opferreicher war als der Widerstand,<lb/>
den das Kaiserreich zu leisten vermocht hatte.  Daß es in Preußen in den<lb/>
Jahren 1806 und 1807 an Männern nicht fehlte, die zunächst in kleinern Ver¬<lb/>
hältnissen dasselbe zu leisten vermochten, haben Gneisenau, Nettelbeck und Schill<lb/>
bei der Verteidigung von Kolberg, der alte Courbiere in Graudenz, Graf Götzen<lb/>
in der Grafschaft Glatz bewiesen, sobald sie von der Möglichkeit eines könig¬<lb/>
lichen Befehls abgeschnitten, auf sich selbst, ihren Mannesmut und ihre Pflicht¬<lb/>
treue angewiesen waren.  Was dort im kleinen geschah, wäre im großen in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0075] Landes dennoch immer wieder die Kräfte zu entnehmen, um sich sowohl auf dem Schlachtfelde wie in der Politik zu behaupten. Am Abend des 14. Oktober 1806 war zwar die preußische Armee unter schweren Verlusten des Feindes geschlagen worden, die größer waren als die preußischen, aber alle.Hilfsquellen des Staates sowie ein großer Teil der Armee, der nicht mit im Felde gestanden hatte, waren vollständig intakt; es gebrach nur an der führenden und befehlenden Hand, um daraus einen Wall zu'formen, der vielleicht sogar der napoleonischen Siegesflut standzuhalten vermocht hätte. Aber am Abend des 14. Oktober fehlte jede Disposition, jede Führung, für den Rückzug ebenso wie jede Disposition für die gesamte Staatsleitung. Der Rückzug einzelner Teile, wie namentlich der des Herzogs von Weimar und der Blüchersche nach Lübeck, die vorzüglich geleiteten Gefechte bei Waren und Altenzaun, haben dargetan, daß die Auflösung des Heeres in seine Atome keineswegs eine notwendige taktische Folge der Verlornen Schlacht, sondern nur eine Folge der fehlenden obersten Führung war. Obwohl man schon im Jahre 1805 zum Kriege gegen Frankreich entschlossen gewesen war, die Armee mobil und wieder demobil gemacht wurde, war für die oberste Leitung im Rücken des Heeres so gut wie nichts vorgesehen. Der Organismus des Staates, in dem seit Friedrichs Tagen alles nur gewöhnt war, einem königlichen Befehl zu folgen, versagte in dem Augenblicke, wo dieser Befehl ausblieb. Wäre die Nation uach der Schlacht zu einem entschlossenen Widerstande aufgefordert, die Armee in einer gesicherten, weiter zurückliegenden Linie gesammelt worden, so würde weder Magdeburg noch Stettin schimpflich kapituliert haben, sofern ihre Vcrteidigungsausrüstnng ihren Aufgaben entsprach. Es ist nicht die Verlorne Schlacht, an der der Staat zugrunde ging, sondern die Kopflosigkeit nach der Niederlage. Schlachten haben alle Nationen, auch die kriegerischsten verloren, aber sie haben darum noch nicht sich selbst aufgegeben. Die Haltung Frankreichs nach der Schlacht bei Sedan ist es namentlich gewesen, die uns Deutschen den Vergleich mit 1806 besonders nahe gelegt hat. Die Katastrophe von Sedan war nach so vielen voranfgegangnen Niederlagen zerschmetternder als die von Jena, nicht allein in dem Umfang der Verluste, sondern anch in Anbetracht der Tatsache, daß das Staatsoberhaupt mit dem gesamten Heere in Kriegsgefangenschaft geraten war. Es bleibt Gambettas unsterbliches Verdienst, nach dem militärischen Zusammenbruch von Sedan alle Kräfte der französischen Nation zu einen, Widerstande zusammengefaßt zu haben, der nachhaltiger und für den Sieger opferreicher war als der Widerstand, den das Kaiserreich zu leisten vermocht hatte. Daß es in Preußen in den Jahren 1806 und 1807 an Männern nicht fehlte, die zunächst in kleinern Ver¬ hältnissen dasselbe zu leisten vermochten, haben Gneisenau, Nettelbeck und Schill bei der Verteidigung von Kolberg, der alte Courbiere in Graudenz, Graf Götzen in der Grafschaft Glatz bewiesen, sobald sie von der Möglichkeit eines könig¬ lichen Befehls abgeschnitten, auf sich selbst, ihren Mannesmut und ihre Pflicht¬ treue angewiesen waren. Was dort im kleinen geschah, wäre im großen in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/75
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/75>, abgerufen am 23.07.2024.