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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

könnten. Das darf man unter keinen Umständen gelten lassen. Um so weniger,
als dos Zentrum in seinem Wahlaufruf den Charakter der Maßregel der Auslösung
völlig zu entstellen versucht hat. Der entscheidende Schritt der Regierung erscheint
in dem Aufruf als ein ungehöriger Akt, als ein Schlag gegen die Rechte der Volks¬
vertretung. Ein dreistes Beginnen! Denn die Auflösung des Reichstags ist be¬
kanntlich ein verfassungsmäßiger Akt, das gesetzlich anerkannte Mittel, womit die
Regierung einen Appell an das Volk richtet. Nicht die Regierung, die sich dieses
Mittels bedient, sondern die Partei, die das Volk über die Bedeutung des Mittels
zu täuschen sucht, versündigt sich an den wirklichen Vvlksrechten. Aber auch jeder
verschleierte Versuch, die Verantwortung des deutschen Volks für die bevorstehenden
Wahlen einzuschränken und die Aufmerksamkeit davon abzulenken, muß bekämpft
werden. Dahin gehört auch der wohl gut gemeinte, aber höchst unüberlegte und
unzeitgemäße Hinweis auf die vielleicht eintretende Notwendigkeit einer wieder¬
holten Auslösung. Ob der neugewählte Reichstag wieder aufgelöst werden muß,
kann heute noch niemand wissen. Möglich ist ja, daß die Tätigkeit des neuen
Reichstags zu einer abermaligen Krisis führt. Wenn aber die Sache so dargestellt
wird, als ob die Regierung schon jetzt mit dem Gedanken umgehe, sofort zur Auf¬
lösung zu schreiten, wenn die Zusammensetzung des neuen Reichstags ihren Wünschen
nicht entspricht, so wird damit ein ganz falscher Zug in das Bild der Lage ge¬
bracht. Es wird das Bild einer das Volk aufrufenden und aufrüttelnden Regierung
verwischt und das Bild einer experimentierenden Regierung, die dem Volkswillen
nicht die gebührende Bedeutung zuweisen will, an die Stelle gesetzt.

Es wird also die Hauptaufgabe der Wahlbewegung sein, die schlummernde poli¬
tische Tatkraft und das Verantwortungsgefühl im deutschen Volke zu wecken und alle
Kräfte auf ein praktisches Ziel hinzulenken. Es ist sehr verständig, daß die Regierung
beizeiten die Aufmerksamkeit auf die große "Partei der Nichtwählcr" gelenkt hat, die
Wähler, die bei den letzten allgemeinen Wahlen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch
gemacht haben. Nach der Statistik dieser Wahlen sind es mehr als drei Millionen ge¬
wesen. Gewiß waren unter diesen Säumigen nur verschwindend wenig Anhänger der
Sozialdemokratie; die Bequemen, Lässigen und Verdrossenen sowie alle die, die sich
womöglich noch dessen rühmen, daß sie sich um Politik nicht kümmern, sind gewöhnlich
im Lager der bürgerlichen Parteien zu finden. Diese "Dreimillionenpartei" der Nicht¬
Wähler könnte, wenn sie ihre Pflicht tun wollte, gewiß sehr viel dazu tun, daß die
Zusammensetzung des Reichstags gründlich verändert würde. Mindestens hat man
bei einem so starken Ausfall an Wählern nicht das Recht, die Lage, wie sie sich in
den letzten Legislaturperioden dargestellt hat, als unabänderlich anzusehen.

Nun wissen wir freilich, daß sich der alte Parteidoktrinarismus nicht von heute zu
morgen ans dem deutschen Vaterlande hinausjagen läßt. Bei der großen Zerrissenheit
und Zersplitterung unsers Parteiwesens muß die Frage der Wahlbündnisse und Kartelle
immer eine große Rolle spielen, und ob hier in kurzer Zeit eine wirksame Klärung
hergestellt werden kann, das ist gegenwärtig die größte Sorge aller Patrioten.

Im Kampfe muß man vor allem wissen, wo der Feind steht. Erst daraus
ergibt sich die Frage der Aussichten des Kampfes und der Bundesgenosfenschaften.
Nun ist ja durch die Lage bei der Reichstagsauflösung für alle Parteien, die an
einer positiven Änderung und Besserung der politischen Zustände mitarbeiten wollen,
die Gegnerschaft gegen das Zentrum gegeben. Aber Klarheit muß herrschen, was
man dem Zentrum mit Recht vorwirft. Die Partei selbst hat an einer solchen
Klärung natürlich kein Interesse. Sie sucht in ihrer Rüstkammer nach den alten
Waffen, um sich die Gegner vom Leibe zu halten. Da fallen ihr an erster Stelle
die Ideen des Kulturkampfs in die Hand. Es wäre für die Anhänger des Zentrums
vorteilhaft, sich als die von konfessioneller Unduldsamkeit und Mißgunst Verfolgten
hinzustellen. Schon werden die Versuche dazu eingeleitet. Es wird also eine wichtige
Aufgabe der nationalen Führer im Wahlkampfe sein, die Wähler aufzuklären und zu


Maßgebliches und Unmaßgebliches

könnten. Das darf man unter keinen Umständen gelten lassen. Um so weniger,
als dos Zentrum in seinem Wahlaufruf den Charakter der Maßregel der Auslösung
völlig zu entstellen versucht hat. Der entscheidende Schritt der Regierung erscheint
in dem Aufruf als ein ungehöriger Akt, als ein Schlag gegen die Rechte der Volks¬
vertretung. Ein dreistes Beginnen! Denn die Auflösung des Reichstags ist be¬
kanntlich ein verfassungsmäßiger Akt, das gesetzlich anerkannte Mittel, womit die
Regierung einen Appell an das Volk richtet. Nicht die Regierung, die sich dieses
Mittels bedient, sondern die Partei, die das Volk über die Bedeutung des Mittels
zu täuschen sucht, versündigt sich an den wirklichen Vvlksrechten. Aber auch jeder
verschleierte Versuch, die Verantwortung des deutschen Volks für die bevorstehenden
Wahlen einzuschränken und die Aufmerksamkeit davon abzulenken, muß bekämpft
werden. Dahin gehört auch der wohl gut gemeinte, aber höchst unüberlegte und
unzeitgemäße Hinweis auf die vielleicht eintretende Notwendigkeit einer wieder¬
holten Auslösung. Ob der neugewählte Reichstag wieder aufgelöst werden muß,
kann heute noch niemand wissen. Möglich ist ja, daß die Tätigkeit des neuen
Reichstags zu einer abermaligen Krisis führt. Wenn aber die Sache so dargestellt
wird, als ob die Regierung schon jetzt mit dem Gedanken umgehe, sofort zur Auf¬
lösung zu schreiten, wenn die Zusammensetzung des neuen Reichstags ihren Wünschen
nicht entspricht, so wird damit ein ganz falscher Zug in das Bild der Lage ge¬
bracht. Es wird das Bild einer das Volk aufrufenden und aufrüttelnden Regierung
verwischt und das Bild einer experimentierenden Regierung, die dem Volkswillen
nicht die gebührende Bedeutung zuweisen will, an die Stelle gesetzt.

Es wird also die Hauptaufgabe der Wahlbewegung sein, die schlummernde poli¬
tische Tatkraft und das Verantwortungsgefühl im deutschen Volke zu wecken und alle
Kräfte auf ein praktisches Ziel hinzulenken. Es ist sehr verständig, daß die Regierung
beizeiten die Aufmerksamkeit auf die große „Partei der Nichtwählcr" gelenkt hat, die
Wähler, die bei den letzten allgemeinen Wahlen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch
gemacht haben. Nach der Statistik dieser Wahlen sind es mehr als drei Millionen ge¬
wesen. Gewiß waren unter diesen Säumigen nur verschwindend wenig Anhänger der
Sozialdemokratie; die Bequemen, Lässigen und Verdrossenen sowie alle die, die sich
womöglich noch dessen rühmen, daß sie sich um Politik nicht kümmern, sind gewöhnlich
im Lager der bürgerlichen Parteien zu finden. Diese „Dreimillionenpartei" der Nicht¬
Wähler könnte, wenn sie ihre Pflicht tun wollte, gewiß sehr viel dazu tun, daß die
Zusammensetzung des Reichstags gründlich verändert würde. Mindestens hat man
bei einem so starken Ausfall an Wählern nicht das Recht, die Lage, wie sie sich in
den letzten Legislaturperioden dargestellt hat, als unabänderlich anzusehen.

Nun wissen wir freilich, daß sich der alte Parteidoktrinarismus nicht von heute zu
morgen ans dem deutschen Vaterlande hinausjagen läßt. Bei der großen Zerrissenheit
und Zersplitterung unsers Parteiwesens muß die Frage der Wahlbündnisse und Kartelle
immer eine große Rolle spielen, und ob hier in kurzer Zeit eine wirksame Klärung
hergestellt werden kann, das ist gegenwärtig die größte Sorge aller Patrioten.

Im Kampfe muß man vor allem wissen, wo der Feind steht. Erst daraus
ergibt sich die Frage der Aussichten des Kampfes und der Bundesgenosfenschaften.
Nun ist ja durch die Lage bei der Reichstagsauflösung für alle Parteien, die an
einer positiven Änderung und Besserung der politischen Zustände mitarbeiten wollen,
die Gegnerschaft gegen das Zentrum gegeben. Aber Klarheit muß herrschen, was
man dem Zentrum mit Recht vorwirft. Die Partei selbst hat an einer solchen
Klärung natürlich kein Interesse. Sie sucht in ihrer Rüstkammer nach den alten
Waffen, um sich die Gegner vom Leibe zu halten. Da fallen ihr an erster Stelle
die Ideen des Kulturkampfs in die Hand. Es wäre für die Anhänger des Zentrums
vorteilhaft, sich als die von konfessioneller Unduldsamkeit und Mißgunst Verfolgten
hinzustellen. Schon werden die Versuche dazu eingeleitet. Es wird also eine wichtige
Aufgabe der nationalen Führer im Wahlkampfe sein, die Wähler aufzuklären und zu


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[0742] Maßgebliches und Unmaßgebliches könnten. Das darf man unter keinen Umständen gelten lassen. Um so weniger, als dos Zentrum in seinem Wahlaufruf den Charakter der Maßregel der Auslösung völlig zu entstellen versucht hat. Der entscheidende Schritt der Regierung erscheint in dem Aufruf als ein ungehöriger Akt, als ein Schlag gegen die Rechte der Volks¬ vertretung. Ein dreistes Beginnen! Denn die Auflösung des Reichstags ist be¬ kanntlich ein verfassungsmäßiger Akt, das gesetzlich anerkannte Mittel, womit die Regierung einen Appell an das Volk richtet. Nicht die Regierung, die sich dieses Mittels bedient, sondern die Partei, die das Volk über die Bedeutung des Mittels zu täuschen sucht, versündigt sich an den wirklichen Vvlksrechten. Aber auch jeder verschleierte Versuch, die Verantwortung des deutschen Volks für die bevorstehenden Wahlen einzuschränken und die Aufmerksamkeit davon abzulenken, muß bekämpft werden. Dahin gehört auch der wohl gut gemeinte, aber höchst unüberlegte und unzeitgemäße Hinweis auf die vielleicht eintretende Notwendigkeit einer wieder¬ holten Auslösung. Ob der neugewählte Reichstag wieder aufgelöst werden muß, kann heute noch niemand wissen. Möglich ist ja, daß die Tätigkeit des neuen Reichstags zu einer abermaligen Krisis führt. Wenn aber die Sache so dargestellt wird, als ob die Regierung schon jetzt mit dem Gedanken umgehe, sofort zur Auf¬ lösung zu schreiten, wenn die Zusammensetzung des neuen Reichstags ihren Wünschen nicht entspricht, so wird damit ein ganz falscher Zug in das Bild der Lage ge¬ bracht. Es wird das Bild einer das Volk aufrufenden und aufrüttelnden Regierung verwischt und das Bild einer experimentierenden Regierung, die dem Volkswillen nicht die gebührende Bedeutung zuweisen will, an die Stelle gesetzt. Es wird also die Hauptaufgabe der Wahlbewegung sein, die schlummernde poli¬ tische Tatkraft und das Verantwortungsgefühl im deutschen Volke zu wecken und alle Kräfte auf ein praktisches Ziel hinzulenken. Es ist sehr verständig, daß die Regierung beizeiten die Aufmerksamkeit auf die große „Partei der Nichtwählcr" gelenkt hat, die Wähler, die bei den letzten allgemeinen Wahlen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht haben. Nach der Statistik dieser Wahlen sind es mehr als drei Millionen ge¬ wesen. Gewiß waren unter diesen Säumigen nur verschwindend wenig Anhänger der Sozialdemokratie; die Bequemen, Lässigen und Verdrossenen sowie alle die, die sich womöglich noch dessen rühmen, daß sie sich um Politik nicht kümmern, sind gewöhnlich im Lager der bürgerlichen Parteien zu finden. Diese „Dreimillionenpartei" der Nicht¬ Wähler könnte, wenn sie ihre Pflicht tun wollte, gewiß sehr viel dazu tun, daß die Zusammensetzung des Reichstags gründlich verändert würde. Mindestens hat man bei einem so starken Ausfall an Wählern nicht das Recht, die Lage, wie sie sich in den letzten Legislaturperioden dargestellt hat, als unabänderlich anzusehen. Nun wissen wir freilich, daß sich der alte Parteidoktrinarismus nicht von heute zu morgen ans dem deutschen Vaterlande hinausjagen läßt. Bei der großen Zerrissenheit und Zersplitterung unsers Parteiwesens muß die Frage der Wahlbündnisse und Kartelle immer eine große Rolle spielen, und ob hier in kurzer Zeit eine wirksame Klärung hergestellt werden kann, das ist gegenwärtig die größte Sorge aller Patrioten. Im Kampfe muß man vor allem wissen, wo der Feind steht. Erst daraus ergibt sich die Frage der Aussichten des Kampfes und der Bundesgenosfenschaften. Nun ist ja durch die Lage bei der Reichstagsauflösung für alle Parteien, die an einer positiven Änderung und Besserung der politischen Zustände mitarbeiten wollen, die Gegnerschaft gegen das Zentrum gegeben. Aber Klarheit muß herrschen, was man dem Zentrum mit Recht vorwirft. Die Partei selbst hat an einer solchen Klärung natürlich kein Interesse. Sie sucht in ihrer Rüstkammer nach den alten Waffen, um sich die Gegner vom Leibe zu halten. Da fallen ihr an erster Stelle die Ideen des Kulturkampfs in die Hand. Es wäre für die Anhänger des Zentrums vorteilhaft, sich als die von konfessioneller Unduldsamkeit und Mißgunst Verfolgten hinzustellen. Schon werden die Versuche dazu eingeleitet. Es wird also eine wichtige Aufgabe der nationalen Führer im Wahlkampfe sein, die Wähler aufzuklären und zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/742>, abgerufen am 25.08.2024.