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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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inmitten eines neuen Zeitalters fortlebte, ohne daß die geeigneten Kräfte vorhanden
waren, die alte Tradition mit den Forderungen der neuen Zeit vorschauend zu
verbinden und zu durchdringen. Friedrich der Große hatte vom Hubertusburger
Frieden bis zu seinem Todestage die kontinentale Politik Europas in gewissem
Sinne beherrscht, jedenfalls insoweit, daß neue Koalitionen gegen ihn nicht
mehr zustande kamen, und daß sich eine Politik, der er nicht zustimmte, nicht
zu behaupten vermochte. Mit dem Emporkommen Napoleons war die autori¬
tative Stellung in Europa, die Friedrich der Große und Preußen behauptet
hatten, auf Frankreich und sein Staatsoberhaupt übergegangen, während der
preußische Staat noch mit der alten Überlegenheit rechnete, die ihm tatsächlich
längst entglitten war.

Die Geschichtsforschung hat sich namentlich in den letzten dreißig Jahren
angelegen sein lassen, die eigentlichen Ursachen eines Zusammenbruches zu er¬
gründen, der auch für die erleuchteten Geister des Heeres von 1806 unerwartet
war. Noch am Vorabend der Katastrophe atmen die Aussprüche und die Nieder¬
schriften von Männern wie Blücher, Scharnhorsi, Knesebeck, Marwitz, Reiche und
sogar Clausewitz, der später ein scharfer Kritiker der führenden Persönlichkeiten
geworden ist, volles Vertrauen, und den Truppen ist von den einzelnen Be¬
fehlshabern in den spätern Berichten und Nechtfertigungsschriften fast durchweg
große Bravour zuerkannt worden. Das weitaus größte Verdienst um die Er¬
forschung jener Zeit fällt dem heutigen kommandierender General unsers ersten
Armeekorps zu, Freiherrn von der Goltz, der seine bahnbrechende Studie vom
Jahre 1883 "Roßbach und Jena" zu einem wertvollen Buche erweitert hat,
das ebenso für die Armee wie für die bürgerlichen Kreise der Ration geschrieben,
in beiden die weiteste Verbreitung finden und namentlich dem vaterländischen
Geschichtsunterricht bedingungslos zugrunde gelegt werden sollte. Aber schon
Droysen hat in seinem unsterblichen Buche vom alten Aork, das sich jetzt schon
mehr als vierzig Jahre in den Händen des deutschen Leserkreises behauptet,
mit den Grund zu diesen Forschungen gelegt, indem er darauf hingewiesen hat,
daß die Generale, die 1813 bis 1815 das preußische Heer von Sieg zu Sieg
führten, doch sämtlich der Armee von 1806 angehört hatten, zum mindesten als
Stabsoffiziere, sodaß also die Männer nicht gefehlt haben, die unter andern
Bedingungen auch damals den Sieg an die preußischen Fahnen gefesselt haben
würden. Das beredteste Zeugnis zugunsten des preußischen Heeres ist aber den
Behauptungen Napoleons und seiner Marschülle nach der Schlacht zu entnehmen,
die den geschlagner Feind in seiner numerischen Stärke ganz bedeutend über¬
schätzten.

Bei einer einheitlichen, ihrer Aufgabe gewachsnen Leitung auf preußischer
Seite würde somit die eine Verlorne Schlacht einen so furchtbaren Zusammenbruch
des Staates schwerlich zur Folge gehabt haben. Auch Friedrich der Große hat
Schlachten verloren, auch während des siebenjährigen Krieges geriet Berlin in die
Hand des Feindes, aber der König vermochte den so sehr erschöpften Mitteln seines


inmitten eines neuen Zeitalters fortlebte, ohne daß die geeigneten Kräfte vorhanden
waren, die alte Tradition mit den Forderungen der neuen Zeit vorschauend zu
verbinden und zu durchdringen. Friedrich der Große hatte vom Hubertusburger
Frieden bis zu seinem Todestage die kontinentale Politik Europas in gewissem
Sinne beherrscht, jedenfalls insoweit, daß neue Koalitionen gegen ihn nicht
mehr zustande kamen, und daß sich eine Politik, der er nicht zustimmte, nicht
zu behaupten vermochte. Mit dem Emporkommen Napoleons war die autori¬
tative Stellung in Europa, die Friedrich der Große und Preußen behauptet
hatten, auf Frankreich und sein Staatsoberhaupt übergegangen, während der
preußische Staat noch mit der alten Überlegenheit rechnete, die ihm tatsächlich
längst entglitten war.

Die Geschichtsforschung hat sich namentlich in den letzten dreißig Jahren
angelegen sein lassen, die eigentlichen Ursachen eines Zusammenbruches zu er¬
gründen, der auch für die erleuchteten Geister des Heeres von 1806 unerwartet
war. Noch am Vorabend der Katastrophe atmen die Aussprüche und die Nieder¬
schriften von Männern wie Blücher, Scharnhorsi, Knesebeck, Marwitz, Reiche und
sogar Clausewitz, der später ein scharfer Kritiker der führenden Persönlichkeiten
geworden ist, volles Vertrauen, und den Truppen ist von den einzelnen Be¬
fehlshabern in den spätern Berichten und Nechtfertigungsschriften fast durchweg
große Bravour zuerkannt worden. Das weitaus größte Verdienst um die Er¬
forschung jener Zeit fällt dem heutigen kommandierender General unsers ersten
Armeekorps zu, Freiherrn von der Goltz, der seine bahnbrechende Studie vom
Jahre 1883 „Roßbach und Jena" zu einem wertvollen Buche erweitert hat,
das ebenso für die Armee wie für die bürgerlichen Kreise der Ration geschrieben,
in beiden die weiteste Verbreitung finden und namentlich dem vaterländischen
Geschichtsunterricht bedingungslos zugrunde gelegt werden sollte. Aber schon
Droysen hat in seinem unsterblichen Buche vom alten Aork, das sich jetzt schon
mehr als vierzig Jahre in den Händen des deutschen Leserkreises behauptet,
mit den Grund zu diesen Forschungen gelegt, indem er darauf hingewiesen hat,
daß die Generale, die 1813 bis 1815 das preußische Heer von Sieg zu Sieg
führten, doch sämtlich der Armee von 1806 angehört hatten, zum mindesten als
Stabsoffiziere, sodaß also die Männer nicht gefehlt haben, die unter andern
Bedingungen auch damals den Sieg an die preußischen Fahnen gefesselt haben
würden. Das beredteste Zeugnis zugunsten des preußischen Heeres ist aber den
Behauptungen Napoleons und seiner Marschülle nach der Schlacht zu entnehmen,
die den geschlagner Feind in seiner numerischen Stärke ganz bedeutend über¬
schätzten.

Bei einer einheitlichen, ihrer Aufgabe gewachsnen Leitung auf preußischer
Seite würde somit die eine Verlorne Schlacht einen so furchtbaren Zusammenbruch
des Staates schwerlich zur Folge gehabt haben. Auch Friedrich der Große hat
Schlachten verloren, auch während des siebenjährigen Krieges geriet Berlin in die
Hand des Feindes, aber der König vermochte den so sehr erschöpften Mitteln seines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/74>, abgerufen am 23.07.2024.