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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Die Sperlinge auf dem Naschmarkt

ab, daß sie nun nicht wieder nach Leipzig zu kommen brauche. Aber diese Hoffnung
erwies sich als trügerisch: der Freund, der fortgezogen war, um in den Klüften der
Hohen Tatra die wunderbare Wurzel zu suchen, kehrte nicht zurück und ließ auch
nichts von sich hören. So mußte sie wohl oder übel auch in der nächsten Herbst¬
messe ihren alten Stand auf dem Naschmarkt beziehen. Sie gab jedoch das Bübchen,
das der Alte so viele Jahrzehnte lang innegehabt hatte, auf und begnügte sich damit,
die gangbarsten Mittel seines Olitcitenkramcs in ihrer eignen Bude weiter zu führen.
Freilich, wenn einer der Artikel ausgegangen war, konnte sie die Kunden, die
danach fragten, nicht mehr zufriedenstellen, denn sie hatte keine Ahnung, aus welchen
Dingen die Mixturen, Essenzen und Pulver zusammengesetzt waren, und wußte ebenso
wenig, wie und woher sie ihre Vorräte ergänzen sollte. So kam es, daß die
Fläschchen, Büchschen "ut Töpfchen nach und nach wieder aus der Gesellschaft der
Pfefferkuchenpakete, Matronen und Pfefferminzplätzchen verschwanden, und daß
schließlich von dem ganzen Zinngrttberschen Kram nur noch der geheimnisvolle Kasten
übrig war, den das sonderbare Weiblein noch sorgfältiger und mißtrauerischer hütete
als sein früherer Besitzer. Denn Christinens Wunsch, durch die Rückkehr ihres Freiers
von den ihr immer lästiger werdenden Reisen zur Leipziger Messe erlöst zu werdeu,
wollte und wollte nicht in Erfüllung gehn. Jahraus jahrein erschien sie wieder an
ihrem alten Platz, unbekümmert darum, daß die andern Lebküchler längst den Nasch-
markt geräumt und ihre Stände an andre Kramhändler abgetreten hatten. Jahraus
jahrein saß sie halb versteckt hinter ihren Waren, still vor sich hinträumend und
Tag für Tag auf den Zauberer wartend, der ihr die Jugend wiederbringen sollte.
Und weil sie erbarmungswürdig aussah und das Publikum, das sich durch die
Budenreihen drängte, nicht ansprach, nicht wie die andern Fierante" fortwährend rief:
Was solls denn sein, meine liebe Dame? Kaufen Sie mir was ab, junger Herr !
blieb mancher vor ihrer Auslage stehen und erstand aus Mitleid einen Pfefferkuchen,
für den er nicht einmal eine rechte Verwendung hatte. Denn die Welt war inzwischen
fortgeschritten und viel, viel klüger geworden, und die meisten Leute wußten schon,
daß Lebkuchen weder für den Magen noch für die Zähne besonders zuträglich ist.

Nur eine Kategorie von Menschen wollte von dieser neuen Weisheit nichts
wissen, das waren die Gassenjungen, die im übrigen freilich auch recht fortgeschritten
waren und mit dem altmodischen Grundsatz, daß man das Alter ehren müsse, längst
gebrochen hatten. Ihr Interesse für die Bunicksche Bude war zwar von jeher groß
gewesen, aber früher hatten sie sich auf diskrete Griffe in die Pfeffernußkiste be¬
schränkt und waren dem alten Zinngräber, der ein wachsames Auge auf sie hielt,
mit frommer Scheu ausgewichen, jetzt aber machten sie in ganzen Rotten am hell¬
lichtem Tage förmliche Attacken, raubten den Lebkuchen gleich paketweise, rissen den
ans einer Kiste behaglich schlafenden Kater am Schwanz oder zogen die Stützen des
Vordaches weg, daß es mit furchtbarem Lärm herunterklappte und die süßen Herr¬
lichkeiten von der Auslage in die Bude fegte. Und wenn dann die Alte, aus ihren
Träumen aufgeschreckt, wutentbrannt hervor humpelte und den Federwedel drohend
über ihrem Haupte schwang, dann stoben sie lächelnd und johlend davon, schlüpften
hinter die Nachbarbudeu und riefen mit liebloser Anspielung auf das eulenartige
Aussehen ihrer Feindin: Uhu! Uhu!

Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und schließlich hatte auch
einmal Christinens schier übermenschliche Geduld ein Ende. Eines Abends, gerade
als die Dämmerung hereinbrach, bemerkte das alte Weiblein, daß sich in einiger
Entfernung von ihrer Bude die Rotte ihrer Widersacher wieder sammelte, und zwar
zahlreicher als je, sodaß ein Angriff zu erwarten stand, wie sie bis dahin noch
keinen erlebt hatte. Dem Feinde mochte die Gelegenheit, der Alten eins auszuwischen,
besonders günstig erscheinen, denn des Regenwetters wegen war zwischen den Buden
kein Erwachsner zu sehe", und die Kramhändler saßen miteinander plaudernd an


Die Sperlinge auf dem Naschmarkt

ab, daß sie nun nicht wieder nach Leipzig zu kommen brauche. Aber diese Hoffnung
erwies sich als trügerisch: der Freund, der fortgezogen war, um in den Klüften der
Hohen Tatra die wunderbare Wurzel zu suchen, kehrte nicht zurück und ließ auch
nichts von sich hören. So mußte sie wohl oder übel auch in der nächsten Herbst¬
messe ihren alten Stand auf dem Naschmarkt beziehen. Sie gab jedoch das Bübchen,
das der Alte so viele Jahrzehnte lang innegehabt hatte, auf und begnügte sich damit,
die gangbarsten Mittel seines Olitcitenkramcs in ihrer eignen Bude weiter zu führen.
Freilich, wenn einer der Artikel ausgegangen war, konnte sie die Kunden, die
danach fragten, nicht mehr zufriedenstellen, denn sie hatte keine Ahnung, aus welchen
Dingen die Mixturen, Essenzen und Pulver zusammengesetzt waren, und wußte ebenso
wenig, wie und woher sie ihre Vorräte ergänzen sollte. So kam es, daß die
Fläschchen, Büchschen «ut Töpfchen nach und nach wieder aus der Gesellschaft der
Pfefferkuchenpakete, Matronen und Pfefferminzplätzchen verschwanden, und daß
schließlich von dem ganzen Zinngrttberschen Kram nur noch der geheimnisvolle Kasten
übrig war, den das sonderbare Weiblein noch sorgfältiger und mißtrauerischer hütete
als sein früherer Besitzer. Denn Christinens Wunsch, durch die Rückkehr ihres Freiers
von den ihr immer lästiger werdenden Reisen zur Leipziger Messe erlöst zu werdeu,
wollte und wollte nicht in Erfüllung gehn. Jahraus jahrein erschien sie wieder an
ihrem alten Platz, unbekümmert darum, daß die andern Lebküchler längst den Nasch-
markt geräumt und ihre Stände an andre Kramhändler abgetreten hatten. Jahraus
jahrein saß sie halb versteckt hinter ihren Waren, still vor sich hinträumend und
Tag für Tag auf den Zauberer wartend, der ihr die Jugend wiederbringen sollte.
Und weil sie erbarmungswürdig aussah und das Publikum, das sich durch die
Budenreihen drängte, nicht ansprach, nicht wie die andern Fierante» fortwährend rief:
Was solls denn sein, meine liebe Dame? Kaufen Sie mir was ab, junger Herr !
blieb mancher vor ihrer Auslage stehen und erstand aus Mitleid einen Pfefferkuchen,
für den er nicht einmal eine rechte Verwendung hatte. Denn die Welt war inzwischen
fortgeschritten und viel, viel klüger geworden, und die meisten Leute wußten schon,
daß Lebkuchen weder für den Magen noch für die Zähne besonders zuträglich ist.

Nur eine Kategorie von Menschen wollte von dieser neuen Weisheit nichts
wissen, das waren die Gassenjungen, die im übrigen freilich auch recht fortgeschritten
waren und mit dem altmodischen Grundsatz, daß man das Alter ehren müsse, längst
gebrochen hatten. Ihr Interesse für die Bunicksche Bude war zwar von jeher groß
gewesen, aber früher hatten sie sich auf diskrete Griffe in die Pfeffernußkiste be¬
schränkt und waren dem alten Zinngräber, der ein wachsames Auge auf sie hielt,
mit frommer Scheu ausgewichen, jetzt aber machten sie in ganzen Rotten am hell¬
lichtem Tage förmliche Attacken, raubten den Lebkuchen gleich paketweise, rissen den
ans einer Kiste behaglich schlafenden Kater am Schwanz oder zogen die Stützen des
Vordaches weg, daß es mit furchtbarem Lärm herunterklappte und die süßen Herr¬
lichkeiten von der Auslage in die Bude fegte. Und wenn dann die Alte, aus ihren
Träumen aufgeschreckt, wutentbrannt hervor humpelte und den Federwedel drohend
über ihrem Haupte schwang, dann stoben sie lächelnd und johlend davon, schlüpften
hinter die Nachbarbudeu und riefen mit liebloser Anspielung auf das eulenartige
Aussehen ihrer Feindin: Uhu! Uhu!

Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und schließlich hatte auch
einmal Christinens schier übermenschliche Geduld ein Ende. Eines Abends, gerade
als die Dämmerung hereinbrach, bemerkte das alte Weiblein, daß sich in einiger
Entfernung von ihrer Bude die Rotte ihrer Widersacher wieder sammelte, und zwar
zahlreicher als je, sodaß ein Angriff zu erwarten stand, wie sie bis dahin noch
keinen erlebt hatte. Dem Feinde mochte die Gelegenheit, der Alten eins auszuwischen,
besonders günstig erscheinen, denn des Regenwetters wegen war zwischen den Buden
kein Erwachsner zu sehe», und die Kramhändler saßen miteinander plaudernd an


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[0739] Die Sperlinge auf dem Naschmarkt ab, daß sie nun nicht wieder nach Leipzig zu kommen brauche. Aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch: der Freund, der fortgezogen war, um in den Klüften der Hohen Tatra die wunderbare Wurzel zu suchen, kehrte nicht zurück und ließ auch nichts von sich hören. So mußte sie wohl oder übel auch in der nächsten Herbst¬ messe ihren alten Stand auf dem Naschmarkt beziehen. Sie gab jedoch das Bübchen, das der Alte so viele Jahrzehnte lang innegehabt hatte, auf und begnügte sich damit, die gangbarsten Mittel seines Olitcitenkramcs in ihrer eignen Bude weiter zu führen. Freilich, wenn einer der Artikel ausgegangen war, konnte sie die Kunden, die danach fragten, nicht mehr zufriedenstellen, denn sie hatte keine Ahnung, aus welchen Dingen die Mixturen, Essenzen und Pulver zusammengesetzt waren, und wußte ebenso wenig, wie und woher sie ihre Vorräte ergänzen sollte. So kam es, daß die Fläschchen, Büchschen «ut Töpfchen nach und nach wieder aus der Gesellschaft der Pfefferkuchenpakete, Matronen und Pfefferminzplätzchen verschwanden, und daß schließlich von dem ganzen Zinngrttberschen Kram nur noch der geheimnisvolle Kasten übrig war, den das sonderbare Weiblein noch sorgfältiger und mißtrauerischer hütete als sein früherer Besitzer. Denn Christinens Wunsch, durch die Rückkehr ihres Freiers von den ihr immer lästiger werdenden Reisen zur Leipziger Messe erlöst zu werdeu, wollte und wollte nicht in Erfüllung gehn. Jahraus jahrein erschien sie wieder an ihrem alten Platz, unbekümmert darum, daß die andern Lebküchler längst den Nasch- markt geräumt und ihre Stände an andre Kramhändler abgetreten hatten. Jahraus jahrein saß sie halb versteckt hinter ihren Waren, still vor sich hinträumend und Tag für Tag auf den Zauberer wartend, der ihr die Jugend wiederbringen sollte. Und weil sie erbarmungswürdig aussah und das Publikum, das sich durch die Budenreihen drängte, nicht ansprach, nicht wie die andern Fierante» fortwährend rief: Was solls denn sein, meine liebe Dame? Kaufen Sie mir was ab, junger Herr ! blieb mancher vor ihrer Auslage stehen und erstand aus Mitleid einen Pfefferkuchen, für den er nicht einmal eine rechte Verwendung hatte. Denn die Welt war inzwischen fortgeschritten und viel, viel klüger geworden, und die meisten Leute wußten schon, daß Lebkuchen weder für den Magen noch für die Zähne besonders zuträglich ist. Nur eine Kategorie von Menschen wollte von dieser neuen Weisheit nichts wissen, das waren die Gassenjungen, die im übrigen freilich auch recht fortgeschritten waren und mit dem altmodischen Grundsatz, daß man das Alter ehren müsse, längst gebrochen hatten. Ihr Interesse für die Bunicksche Bude war zwar von jeher groß gewesen, aber früher hatten sie sich auf diskrete Griffe in die Pfeffernußkiste be¬ schränkt und waren dem alten Zinngräber, der ein wachsames Auge auf sie hielt, mit frommer Scheu ausgewichen, jetzt aber machten sie in ganzen Rotten am hell¬ lichtem Tage förmliche Attacken, raubten den Lebkuchen gleich paketweise, rissen den ans einer Kiste behaglich schlafenden Kater am Schwanz oder zogen die Stützen des Vordaches weg, daß es mit furchtbarem Lärm herunterklappte und die süßen Herr¬ lichkeiten von der Auslage in die Bude fegte. Und wenn dann die Alte, aus ihren Träumen aufgeschreckt, wutentbrannt hervor humpelte und den Federwedel drohend über ihrem Haupte schwang, dann stoben sie lächelnd und johlend davon, schlüpften hinter die Nachbarbudeu und riefen mit liebloser Anspielung auf das eulenartige Aussehen ihrer Feindin: Uhu! Uhu! Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und schließlich hatte auch einmal Christinens schier übermenschliche Geduld ein Ende. Eines Abends, gerade als die Dämmerung hereinbrach, bemerkte das alte Weiblein, daß sich in einiger Entfernung von ihrer Bude die Rotte ihrer Widersacher wieder sammelte, und zwar zahlreicher als je, sodaß ein Angriff zu erwarten stand, wie sie bis dahin noch keinen erlebt hatte. Dem Feinde mochte die Gelegenheit, der Alten eins auszuwischen, besonders günstig erscheinen, denn des Regenwetters wegen war zwischen den Buden kein Erwachsner zu sehe», und die Kramhändler saßen miteinander plaudernd an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/739>, abgerufen am 23.07.2024.