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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Sie "Eigenart" der Gymnasien

Ganz recht. Das bin ich, und ich werde in meinem Lobe nicht nachlassen.
Aber, Freund, alles an dem richtigen Orte und zur richtigen Zeit!

Fürchten Sie aber uicht, daß dem bis Prima an die mathematische Denk¬
arbeit gewöhnten Kopf die plötzliche Entziehung der Nahrung schlecht be¬
kommen wird?

Nicht schlechter als zwei Jahre später, wo ja die Entziehung ebenso plötz-
uch erfolgt und noch deutlicher empfunden werden dürfte, da die Zufuhr gerade
dieser Nahrung im letzten Halbjahre vor der Prüfung besonders lebhaft zu
>em pflegt.

Aber vorher halten Sie die mathematischen Studien für förderlich?

Für sehr förderlich.

Und warum wollen Sie diese sehr förderlichen Studien also vor der Zeit
abbrechen?

Ja, dies "vor der Zeit" ist eben der springende Punkt, mein Lieber.
Gewiß bin ich mit Ihnen der Meinung, daß ein Mensch ohne eine gewisse
mathematische Bildung nur eine unvollkommne Bildung hat.
"

Aber was heißt eine "gewisse mathematische Bildung? Die hat am Ende
auch schon ein Tertianer?

Doch nicht. Ebenso gut oder vielmehr ungut könnte ich sagen: die hat
nur ein Abiturient, obwohl auch er doch immer nur einen Ausschnitt von der
ganzen Wissenschaft kennt.

Aber immerhin einen viel größern.

Einen größern, ja. Einen viel größern, das ist noch fraglich. Denn das
eigentlich Wichtige und Grundlegende, das wirklich der Gebildete wissen muß,
um einige der wichtigsten Probleme des Lebens und der Kultur zu verstehn,
hat auch schon der Obersekundaner.

Auch Zinseszins- und Rentenrechnung?

Nein, da haben Sie Recht. Das ist aber auch das einzige, das müßte
also vorher allerdings wohl erledigt werden. Aber alles andre sind doch
eigentlich, wie es ganz richtig in den Lehrplänen heißt, "Ergänzungen, Zusammen¬
fassungen und Übungen auf allen Gebieten der vorhergehenden Klaffen".

Aber das ist gerade sehr wesentlich. Denn ohne diese Ergänzungen und
ZiUsammenfassenden Übungen würde der Wert des vorher angeeigneten Pensums
recht fraglich sein.

Nein, fraglich würde er Wohl nicht sein, wenn auch der Besitz nicht so
secher sein würde. Das wird ja kein Vernünftiger bestreiten.

Würde der Besitz dieser Kenntnisse nicht nur nicht fraglich, sondern voll¬
kommen illusorisch werden?

Aber ganz und gar nicht. Ich bitte Sie, sehen Sie sich doch um unter
^en gebildeten NichtMathematikern -- und schließlich können doch nicht
alle Mathematiker sein --, was ist ihnen geblieben, und zwar sehr mit Gewinn
geblieben, wie ich gern anerkenne, als eben das Pensum der Schulmathematik
ohne den binomischen Lehrsatz, die Koordinate und auch Kegelschnitte?

Auch wenn ich das zugebe, was ich freilich werde tun müssen, so ist
!ur ihr methodisches Denken die mathematische Übung der zwei Primanerjahre
doch nicht vergeblich gewesen.

Ganz gewiß nicht. Denn niemals ist eine ernsthafte Denkarbeit, was für
einer Art sie auch sei, vergeblich für die Entwicklung und Ausübung des Geistes.
Aber es fragt sich nur, ob deun die Ausbildung des Geistes gerade auf diesem
^ege zustande kommen muß?


Sie „Eigenart" der Gymnasien

Ganz recht. Das bin ich, und ich werde in meinem Lobe nicht nachlassen.
Aber, Freund, alles an dem richtigen Orte und zur richtigen Zeit!

Fürchten Sie aber uicht, daß dem bis Prima an die mathematische Denk¬
arbeit gewöhnten Kopf die plötzliche Entziehung der Nahrung schlecht be¬
kommen wird?

Nicht schlechter als zwei Jahre später, wo ja die Entziehung ebenso plötz-
uch erfolgt und noch deutlicher empfunden werden dürfte, da die Zufuhr gerade
dieser Nahrung im letzten Halbjahre vor der Prüfung besonders lebhaft zu
>em pflegt.

Aber vorher halten Sie die mathematischen Studien für förderlich?

Für sehr förderlich.

Und warum wollen Sie diese sehr förderlichen Studien also vor der Zeit
abbrechen?

Ja, dies „vor der Zeit" ist eben der springende Punkt, mein Lieber.
Gewiß bin ich mit Ihnen der Meinung, daß ein Mensch ohne eine gewisse
mathematische Bildung nur eine unvollkommne Bildung hat.
"

Aber was heißt eine „gewisse mathematische Bildung? Die hat am Ende
auch schon ein Tertianer?

Doch nicht. Ebenso gut oder vielmehr ungut könnte ich sagen: die hat
nur ein Abiturient, obwohl auch er doch immer nur einen Ausschnitt von der
ganzen Wissenschaft kennt.

Aber immerhin einen viel größern.

Einen größern, ja. Einen viel größern, das ist noch fraglich. Denn das
eigentlich Wichtige und Grundlegende, das wirklich der Gebildete wissen muß,
um einige der wichtigsten Probleme des Lebens und der Kultur zu verstehn,
hat auch schon der Obersekundaner.

Auch Zinseszins- und Rentenrechnung?

Nein, da haben Sie Recht. Das ist aber auch das einzige, das müßte
also vorher allerdings wohl erledigt werden. Aber alles andre sind doch
eigentlich, wie es ganz richtig in den Lehrplänen heißt, „Ergänzungen, Zusammen¬
fassungen und Übungen auf allen Gebieten der vorhergehenden Klaffen".

Aber das ist gerade sehr wesentlich. Denn ohne diese Ergänzungen und
ZiUsammenfassenden Übungen würde der Wert des vorher angeeigneten Pensums
recht fraglich sein.

Nein, fraglich würde er Wohl nicht sein, wenn auch der Besitz nicht so
secher sein würde. Das wird ja kein Vernünftiger bestreiten.

Würde der Besitz dieser Kenntnisse nicht nur nicht fraglich, sondern voll¬
kommen illusorisch werden?

Aber ganz und gar nicht. Ich bitte Sie, sehen Sie sich doch um unter
^en gebildeten NichtMathematikern — und schließlich können doch nicht
alle Mathematiker sein —, was ist ihnen geblieben, und zwar sehr mit Gewinn
geblieben, wie ich gern anerkenne, als eben das Pensum der Schulmathematik
ohne den binomischen Lehrsatz, die Koordinate und auch Kegelschnitte?

Auch wenn ich das zugebe, was ich freilich werde tun müssen, so ist
!ur ihr methodisches Denken die mathematische Übung der zwei Primanerjahre
doch nicht vergeblich gewesen.

Ganz gewiß nicht. Denn niemals ist eine ernsthafte Denkarbeit, was für
einer Art sie auch sei, vergeblich für die Entwicklung und Ausübung des Geistes.
Aber es fragt sich nur, ob deun die Ausbildung des Geistes gerade auf diesem
^ege zustande kommen muß?


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[0727] Sie „Eigenart" der Gymnasien Ganz recht. Das bin ich, und ich werde in meinem Lobe nicht nachlassen. Aber, Freund, alles an dem richtigen Orte und zur richtigen Zeit! Fürchten Sie aber uicht, daß dem bis Prima an die mathematische Denk¬ arbeit gewöhnten Kopf die plötzliche Entziehung der Nahrung schlecht be¬ kommen wird? Nicht schlechter als zwei Jahre später, wo ja die Entziehung ebenso plötz- uch erfolgt und noch deutlicher empfunden werden dürfte, da die Zufuhr gerade dieser Nahrung im letzten Halbjahre vor der Prüfung besonders lebhaft zu >em pflegt. Aber vorher halten Sie die mathematischen Studien für förderlich? Für sehr förderlich. Und warum wollen Sie diese sehr förderlichen Studien also vor der Zeit abbrechen? Ja, dies „vor der Zeit" ist eben der springende Punkt, mein Lieber. Gewiß bin ich mit Ihnen der Meinung, daß ein Mensch ohne eine gewisse mathematische Bildung nur eine unvollkommne Bildung hat. " Aber was heißt eine „gewisse mathematische Bildung? Die hat am Ende auch schon ein Tertianer? Doch nicht. Ebenso gut oder vielmehr ungut könnte ich sagen: die hat nur ein Abiturient, obwohl auch er doch immer nur einen Ausschnitt von der ganzen Wissenschaft kennt. Aber immerhin einen viel größern. Einen größern, ja. Einen viel größern, das ist noch fraglich. Denn das eigentlich Wichtige und Grundlegende, das wirklich der Gebildete wissen muß, um einige der wichtigsten Probleme des Lebens und der Kultur zu verstehn, hat auch schon der Obersekundaner. Auch Zinseszins- und Rentenrechnung? Nein, da haben Sie Recht. Das ist aber auch das einzige, das müßte also vorher allerdings wohl erledigt werden. Aber alles andre sind doch eigentlich, wie es ganz richtig in den Lehrplänen heißt, „Ergänzungen, Zusammen¬ fassungen und Übungen auf allen Gebieten der vorhergehenden Klaffen". Aber das ist gerade sehr wesentlich. Denn ohne diese Ergänzungen und ZiUsammenfassenden Übungen würde der Wert des vorher angeeigneten Pensums recht fraglich sein. Nein, fraglich würde er Wohl nicht sein, wenn auch der Besitz nicht so secher sein würde. Das wird ja kein Vernünftiger bestreiten. Würde der Besitz dieser Kenntnisse nicht nur nicht fraglich, sondern voll¬ kommen illusorisch werden? Aber ganz und gar nicht. Ich bitte Sie, sehen Sie sich doch um unter ^en gebildeten NichtMathematikern — und schließlich können doch nicht alle Mathematiker sein —, was ist ihnen geblieben, und zwar sehr mit Gewinn geblieben, wie ich gern anerkenne, als eben das Pensum der Schulmathematik ohne den binomischen Lehrsatz, die Koordinate und auch Kegelschnitte? Auch wenn ich das zugebe, was ich freilich werde tun müssen, so ist !ur ihr methodisches Denken die mathematische Übung der zwei Primanerjahre doch nicht vergeblich gewesen. Ganz gewiß nicht. Denn niemals ist eine ernsthafte Denkarbeit, was für einer Art sie auch sei, vergeblich für die Entwicklung und Ausübung des Geistes. Aber es fragt sich nur, ob deun die Ausbildung des Geistes gerade auf diesem ^ege zustande kommen muß?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/727>, abgerufen am 23.07.2024.