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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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ZVundts Geschichte der musischen Künste

den niedrigen Scherzen und gymnastischen Schaustellungen wandernder Gaukler
an bis zu den der Gattung der höhern Komödie verwandten, nur mit einem
größern Aufwand szenischer Mittel aufgeführten Mimodramen der alexandrinisch-
römischen Zeit". Lediglich praktische Gedanken waren es, die den Mimus
von Tragödie und Komödie schieden. "In diesen beiden gehörten die Schau¬
spieler samt dem Chor den bürgerlichen Kreisen an. Frauen waren von ihnen,
wie von den öffentlichen Angelegenheiten überhaupt, ausgeschlossen. Dabei lag
das Schwergewicht der Darstellung bei der Tragödie in der Handlung, bei
der Komödie in den witzigen und humorvollen Wechselreden. Schon die Maske
aber, der sich die Darsteller bedienten, schloß eine eigentliche Nachahmung aus.
Demgegenüber war der sogenannte Mimus ursprünglich ein Spiel fahrender
Leute, wie sie im Orient und auch in Griechenland seit alter Zeit, durch Taschen¬
spielerkünste und gymnastische Produktionen, durch Tänze und Lieder die Menge
ergötzend, von Ort zu Ort zogen. Hier war auch, wie man annehmen darf,
die Heimat des Mimus, so mit Recht genannt, weil bei ihm weder in dem
kunstvoll aufgebauten Dialog, noch in der Handlung, die wohl nur in ein¬
zelnen ergötzlichen Situationen bestehn mochte, sondern in der karikierender,
übertreibender Nachahmung der Hauptreiz der Darstellung lag. Indem diese
Mimen ohne Maske auftraten, Männer und Frauen je nach ihren Rollen,
indem sie ferner ihre Vorbilder in den Kreisen des Volks, also der Zuschauer
selbst, wählten, und bei der Verspottung der kleinen Schwächen und Eigen¬
heiten, vor allem auch der körperlichen Gebrechen derbe und zynische Späße
nicht verschmähten, waren sie eine heitere Nachahmung des wirklichen Lebens,
die nicht, wie die Tragödie, erheben und nicht, wie die Komödie, die Geißel
der politischen oder sozialen Satire schwingen, sondern einfach das Publikum
ergötzen wollte."

Während bei den Alten die beiden Hauptgattungen und dann wieder die
Unterarten Tragödie und Komödie streng auseinander gehalten wurden, haben
sich in der Mimik der christlichen Zeit alle Arten gemischt. Schon in die
kirchlichen Mysterienspiele ist das Komische und zwar das niedrig Komische ein¬
gedrungen. Aus dem Salbenkrümer, bei dem die heiligen Frauen am Oster-
morgen Spezereien kaufen, ans dem dummen Teufel und andern Nebenfiguren
des Passionsspiels entwickelt sich die komische Person, deren Geschichte, ebenso
wie die des Puppenspiels, uns hier erzählt wird. Mit Befriedigung sehen wir,
daß Wundt das Wesen des Komischen in der Kontrastwirkung findet und die
"immer wieder auftauchende Theorie" zurückweist, nach der "die komische Wirkung
in dem erhebenden Gefühl der eignen Überlegenheit dessen bestehn soll, der
diese Wirkung empfindet". Diese Theorie ist uns vor einigen Jahren noch
einmal in einem dickleibigen Werke vordemonstriert worden. Die Absicht, eine
komische Wirkung zu erreichen, greift erst verhältnismüßig spät ein. Der Ernst
des Lebens ist überall das erste; auch der oben erwähnte Salbenkrämer und
der Teufel sind ursprünglich ernsthafte Personen gewesen. Aber alles Ernste


ZVundts Geschichte der musischen Künste

den niedrigen Scherzen und gymnastischen Schaustellungen wandernder Gaukler
an bis zu den der Gattung der höhern Komödie verwandten, nur mit einem
größern Aufwand szenischer Mittel aufgeführten Mimodramen der alexandrinisch-
römischen Zeit". Lediglich praktische Gedanken waren es, die den Mimus
von Tragödie und Komödie schieden. „In diesen beiden gehörten die Schau¬
spieler samt dem Chor den bürgerlichen Kreisen an. Frauen waren von ihnen,
wie von den öffentlichen Angelegenheiten überhaupt, ausgeschlossen. Dabei lag
das Schwergewicht der Darstellung bei der Tragödie in der Handlung, bei
der Komödie in den witzigen und humorvollen Wechselreden. Schon die Maske
aber, der sich die Darsteller bedienten, schloß eine eigentliche Nachahmung aus.
Demgegenüber war der sogenannte Mimus ursprünglich ein Spiel fahrender
Leute, wie sie im Orient und auch in Griechenland seit alter Zeit, durch Taschen¬
spielerkünste und gymnastische Produktionen, durch Tänze und Lieder die Menge
ergötzend, von Ort zu Ort zogen. Hier war auch, wie man annehmen darf,
die Heimat des Mimus, so mit Recht genannt, weil bei ihm weder in dem
kunstvoll aufgebauten Dialog, noch in der Handlung, die wohl nur in ein¬
zelnen ergötzlichen Situationen bestehn mochte, sondern in der karikierender,
übertreibender Nachahmung der Hauptreiz der Darstellung lag. Indem diese
Mimen ohne Maske auftraten, Männer und Frauen je nach ihren Rollen,
indem sie ferner ihre Vorbilder in den Kreisen des Volks, also der Zuschauer
selbst, wählten, und bei der Verspottung der kleinen Schwächen und Eigen¬
heiten, vor allem auch der körperlichen Gebrechen derbe und zynische Späße
nicht verschmähten, waren sie eine heitere Nachahmung des wirklichen Lebens,
die nicht, wie die Tragödie, erheben und nicht, wie die Komödie, die Geißel
der politischen oder sozialen Satire schwingen, sondern einfach das Publikum
ergötzen wollte."

Während bei den Alten die beiden Hauptgattungen und dann wieder die
Unterarten Tragödie und Komödie streng auseinander gehalten wurden, haben
sich in der Mimik der christlichen Zeit alle Arten gemischt. Schon in die
kirchlichen Mysterienspiele ist das Komische und zwar das niedrig Komische ein¬
gedrungen. Aus dem Salbenkrümer, bei dem die heiligen Frauen am Oster-
morgen Spezereien kaufen, ans dem dummen Teufel und andern Nebenfiguren
des Passionsspiels entwickelt sich die komische Person, deren Geschichte, ebenso
wie die des Puppenspiels, uns hier erzählt wird. Mit Befriedigung sehen wir,
daß Wundt das Wesen des Komischen in der Kontrastwirkung findet und die
„immer wieder auftauchende Theorie" zurückweist, nach der „die komische Wirkung
in dem erhebenden Gefühl der eignen Überlegenheit dessen bestehn soll, der
diese Wirkung empfindet". Diese Theorie ist uns vor einigen Jahren noch
einmal in einem dickleibigen Werke vordemonstriert worden. Die Absicht, eine
komische Wirkung zu erreichen, greift erst verhältnismüßig spät ein. Der Ernst
des Lebens ist überall das erste; auch der oben erwähnte Salbenkrämer und
der Teufel sind ursprünglich ernsthafte Personen gewesen. Aber alles Ernste


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[0710] ZVundts Geschichte der musischen Künste den niedrigen Scherzen und gymnastischen Schaustellungen wandernder Gaukler an bis zu den der Gattung der höhern Komödie verwandten, nur mit einem größern Aufwand szenischer Mittel aufgeführten Mimodramen der alexandrinisch- römischen Zeit". Lediglich praktische Gedanken waren es, die den Mimus von Tragödie und Komödie schieden. „In diesen beiden gehörten die Schau¬ spieler samt dem Chor den bürgerlichen Kreisen an. Frauen waren von ihnen, wie von den öffentlichen Angelegenheiten überhaupt, ausgeschlossen. Dabei lag das Schwergewicht der Darstellung bei der Tragödie in der Handlung, bei der Komödie in den witzigen und humorvollen Wechselreden. Schon die Maske aber, der sich die Darsteller bedienten, schloß eine eigentliche Nachahmung aus. Demgegenüber war der sogenannte Mimus ursprünglich ein Spiel fahrender Leute, wie sie im Orient und auch in Griechenland seit alter Zeit, durch Taschen¬ spielerkünste und gymnastische Produktionen, durch Tänze und Lieder die Menge ergötzend, von Ort zu Ort zogen. Hier war auch, wie man annehmen darf, die Heimat des Mimus, so mit Recht genannt, weil bei ihm weder in dem kunstvoll aufgebauten Dialog, noch in der Handlung, die wohl nur in ein¬ zelnen ergötzlichen Situationen bestehn mochte, sondern in der karikierender, übertreibender Nachahmung der Hauptreiz der Darstellung lag. Indem diese Mimen ohne Maske auftraten, Männer und Frauen je nach ihren Rollen, indem sie ferner ihre Vorbilder in den Kreisen des Volks, also der Zuschauer selbst, wählten, und bei der Verspottung der kleinen Schwächen und Eigen¬ heiten, vor allem auch der körperlichen Gebrechen derbe und zynische Späße nicht verschmähten, waren sie eine heitere Nachahmung des wirklichen Lebens, die nicht, wie die Tragödie, erheben und nicht, wie die Komödie, die Geißel der politischen oder sozialen Satire schwingen, sondern einfach das Publikum ergötzen wollte." Während bei den Alten die beiden Hauptgattungen und dann wieder die Unterarten Tragödie und Komödie streng auseinander gehalten wurden, haben sich in der Mimik der christlichen Zeit alle Arten gemischt. Schon in die kirchlichen Mysterienspiele ist das Komische und zwar das niedrig Komische ein¬ gedrungen. Aus dem Salbenkrümer, bei dem die heiligen Frauen am Oster- morgen Spezereien kaufen, ans dem dummen Teufel und andern Nebenfiguren des Passionsspiels entwickelt sich die komische Person, deren Geschichte, ebenso wie die des Puppenspiels, uns hier erzählt wird. Mit Befriedigung sehen wir, daß Wundt das Wesen des Komischen in der Kontrastwirkung findet und die „immer wieder auftauchende Theorie" zurückweist, nach der „die komische Wirkung in dem erhebenden Gefühl der eignen Überlegenheit dessen bestehn soll, der diese Wirkung empfindet". Diese Theorie ist uns vor einigen Jahren noch einmal in einem dickleibigen Werke vordemonstriert worden. Die Absicht, eine komische Wirkung zu erreichen, greift erst verhältnismüßig spät ein. Der Ernst des Lebens ist überall das erste; auch der oben erwähnte Salbenkrämer und der Teufel sind ursprünglich ernsthafte Personen gewesen. Aber alles Ernste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/710>, abgerufen am 23.07.2024.