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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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lvundts Geschichte der musischen Uünste

sind Gegenstand der kosmogonischen und theogonischen Mythologie geworden.
Auch die Naturmythologie, die sich später mit der Sage verbindet, ist anfangs
märchenhaft, kindlich, kindisch. Uns Kulturmenschen, heißt das, scheint die Kosmo-
gonie der Naturvölker ebenso wie ihr Märchen als eine Herabziehung des
Großen ins Kleine und Kindliche, für den Naturmenschen selbst sind sie das
nicht. "Wenn er Sonne, Mond und Sterne mit den Menschen und Tieren
oder auch mit den Bäumen und Steinen seiner Umgebung auf die gleiche Stufe
stellt, so ist das für ihn eben eine natürliche und ursprüngliche Auffassung. Er
kann diese großen Gegenstände der Natur nicht zur Alltäglichkeit Herabdrücken,
weil sie sich für ihn überhaupt noch nicht über das Alltägliche erheben. j^Er
ist, wie das Kind, imstande, einem zu glauben, der ihn überredet, der Mond
sei ein ans Himmelsgewölbe geworfner Käse.^ Eben darum aber bleibt zwischen
dieser primitiven Form märchenhafter Erzählung und der Märchendichtung der
Kulturvölker bei aller Übereinstimmung gewisser Grundmotive doch ebensogut
ein tiefgreifender Unterschied, wie ein solcher trotz manchen Analogien zwischen
dem Denken und Fühlen eines heutigen Kindes und dem des Naturmenschen
besteht." Die Sage sodann gehört einer ganz andern, einer höhern Klasse von
Erzählungen an. Ihr Untergrund ist immer die Geschichte; ehe sie entsteh"
kann, muß also schon Denkwürdiges geschehen, von Menschen vollbracht worden
sein, und muß die Fähigkeit, dieses Denkwürdige aufzufassen, im Gedächtnis zu
behalten und, wenn auch nicht ohne Phantasiezutat, in geordneter Rede wieder¬
zugeben, ausgebildet sein. An den Dichtungen der Kirgisen, der Serben, der
Russen zeigt der Verfasser, wie einerseits Heldenlieder zu Romanzenzyklen zu¬
sammengefaßt werden, und wie andrerseits das Epos entsteht; an der griechischen
und der deutschen Heldensage, wie sich geschichtliche Erinnerungen mit Natur¬
mythen verflechten, und wie der Heldengesang dem Ahnenkult dient. Die be¬
ginnende Epik ist "nichts andres als Mürchenerzühlung in einer rhythmisch ge¬
hobnen, von lyrischen Episoden und sagenhaften Erinnerungen durchsetzten Form-
Die mythologischen Bestandteile dieser Form gehören noch ganz der niedern
Zauber- oder Dämonenwelt des Märchens an. Zugleich zeigen aber diese ver¬
schieden Vorstufen bereits den Weg, der allmählich zu dem höhern Epos
herüberführt. In dem Maße, als die geschichtlichen Sagenstoffe in den Vorder¬
grund treten und sich zu einer geschlossenen Handlung abrunden, wird auch jene
Mythologie des Märchens teils ganz zurückgedrängt, teils in eine höhere Sphäre
erhoben. So ist schließlich nicht das Märchen ein von seiner Höhe herabge-
suntner epischer Mythus, sondern umgekehrt: der epische Mythus ist der durch
die gehobne epische Stimmung in eine höhere Sphäre entrückte Mürcheniuhthus-
Das im verzauberten Schloß hinter der Dornhecke schlafende Dornröschen ist
nicht die in die Kinderstube hinübergewanderte, von der Waberlohe umgebne
Brunhild, sondern jenes bescheidne Dornröschen des Märchens ist im Munde
der nordischen Statten, die die Helden der Vorzeit und ihre Taten besangen,
zur hehren Walküre erhoben worden." Grimm gegenüber mag Wunde


lvundts Geschichte der musischen Uünste

sind Gegenstand der kosmogonischen und theogonischen Mythologie geworden.
Auch die Naturmythologie, die sich später mit der Sage verbindet, ist anfangs
märchenhaft, kindlich, kindisch. Uns Kulturmenschen, heißt das, scheint die Kosmo-
gonie der Naturvölker ebenso wie ihr Märchen als eine Herabziehung des
Großen ins Kleine und Kindliche, für den Naturmenschen selbst sind sie das
nicht. „Wenn er Sonne, Mond und Sterne mit den Menschen und Tieren
oder auch mit den Bäumen und Steinen seiner Umgebung auf die gleiche Stufe
stellt, so ist das für ihn eben eine natürliche und ursprüngliche Auffassung. Er
kann diese großen Gegenstände der Natur nicht zur Alltäglichkeit Herabdrücken,
weil sie sich für ihn überhaupt noch nicht über das Alltägliche erheben. j^Er
ist, wie das Kind, imstande, einem zu glauben, der ihn überredet, der Mond
sei ein ans Himmelsgewölbe geworfner Käse.^ Eben darum aber bleibt zwischen
dieser primitiven Form märchenhafter Erzählung und der Märchendichtung der
Kulturvölker bei aller Übereinstimmung gewisser Grundmotive doch ebensogut
ein tiefgreifender Unterschied, wie ein solcher trotz manchen Analogien zwischen
dem Denken und Fühlen eines heutigen Kindes und dem des Naturmenschen
besteht." Die Sage sodann gehört einer ganz andern, einer höhern Klasse von
Erzählungen an. Ihr Untergrund ist immer die Geschichte; ehe sie entsteh«
kann, muß also schon Denkwürdiges geschehen, von Menschen vollbracht worden
sein, und muß die Fähigkeit, dieses Denkwürdige aufzufassen, im Gedächtnis zu
behalten und, wenn auch nicht ohne Phantasiezutat, in geordneter Rede wieder¬
zugeben, ausgebildet sein. An den Dichtungen der Kirgisen, der Serben, der
Russen zeigt der Verfasser, wie einerseits Heldenlieder zu Romanzenzyklen zu¬
sammengefaßt werden, und wie andrerseits das Epos entsteht; an der griechischen
und der deutschen Heldensage, wie sich geschichtliche Erinnerungen mit Natur¬
mythen verflechten, und wie der Heldengesang dem Ahnenkult dient. Die be¬
ginnende Epik ist „nichts andres als Mürchenerzühlung in einer rhythmisch ge¬
hobnen, von lyrischen Episoden und sagenhaften Erinnerungen durchsetzten Form-
Die mythologischen Bestandteile dieser Form gehören noch ganz der niedern
Zauber- oder Dämonenwelt des Märchens an. Zugleich zeigen aber diese ver¬
schieden Vorstufen bereits den Weg, der allmählich zu dem höhern Epos
herüberführt. In dem Maße, als die geschichtlichen Sagenstoffe in den Vorder¬
grund treten und sich zu einer geschlossenen Handlung abrunden, wird auch jene
Mythologie des Märchens teils ganz zurückgedrängt, teils in eine höhere Sphäre
erhoben. So ist schließlich nicht das Märchen ein von seiner Höhe herabge-
suntner epischer Mythus, sondern umgekehrt: der epische Mythus ist der durch
die gehobne epische Stimmung in eine höhere Sphäre entrückte Mürcheniuhthus-
Das im verzauberten Schloß hinter der Dornhecke schlafende Dornröschen ist
nicht die in die Kinderstube hinübergewanderte, von der Waberlohe umgebne
Brunhild, sondern jenes bescheidne Dornröschen des Märchens ist im Munde
der nordischen Statten, die die Helden der Vorzeit und ihre Taten besangen,
zur hehren Walküre erhoben worden." Grimm gegenüber mag Wunde


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[0706] lvundts Geschichte der musischen Uünste sind Gegenstand der kosmogonischen und theogonischen Mythologie geworden. Auch die Naturmythologie, die sich später mit der Sage verbindet, ist anfangs märchenhaft, kindlich, kindisch. Uns Kulturmenschen, heißt das, scheint die Kosmo- gonie der Naturvölker ebenso wie ihr Märchen als eine Herabziehung des Großen ins Kleine und Kindliche, für den Naturmenschen selbst sind sie das nicht. „Wenn er Sonne, Mond und Sterne mit den Menschen und Tieren oder auch mit den Bäumen und Steinen seiner Umgebung auf die gleiche Stufe stellt, so ist das für ihn eben eine natürliche und ursprüngliche Auffassung. Er kann diese großen Gegenstände der Natur nicht zur Alltäglichkeit Herabdrücken, weil sie sich für ihn überhaupt noch nicht über das Alltägliche erheben. j^Er ist, wie das Kind, imstande, einem zu glauben, der ihn überredet, der Mond sei ein ans Himmelsgewölbe geworfner Käse.^ Eben darum aber bleibt zwischen dieser primitiven Form märchenhafter Erzählung und der Märchendichtung der Kulturvölker bei aller Übereinstimmung gewisser Grundmotive doch ebensogut ein tiefgreifender Unterschied, wie ein solcher trotz manchen Analogien zwischen dem Denken und Fühlen eines heutigen Kindes und dem des Naturmenschen besteht." Die Sage sodann gehört einer ganz andern, einer höhern Klasse von Erzählungen an. Ihr Untergrund ist immer die Geschichte; ehe sie entsteh« kann, muß also schon Denkwürdiges geschehen, von Menschen vollbracht worden sein, und muß die Fähigkeit, dieses Denkwürdige aufzufassen, im Gedächtnis zu behalten und, wenn auch nicht ohne Phantasiezutat, in geordneter Rede wieder¬ zugeben, ausgebildet sein. An den Dichtungen der Kirgisen, der Serben, der Russen zeigt der Verfasser, wie einerseits Heldenlieder zu Romanzenzyklen zu¬ sammengefaßt werden, und wie andrerseits das Epos entsteht; an der griechischen und der deutschen Heldensage, wie sich geschichtliche Erinnerungen mit Natur¬ mythen verflechten, und wie der Heldengesang dem Ahnenkult dient. Die be¬ ginnende Epik ist „nichts andres als Mürchenerzühlung in einer rhythmisch ge¬ hobnen, von lyrischen Episoden und sagenhaften Erinnerungen durchsetzten Form- Die mythologischen Bestandteile dieser Form gehören noch ganz der niedern Zauber- oder Dämonenwelt des Märchens an. Zugleich zeigen aber diese ver¬ schieden Vorstufen bereits den Weg, der allmählich zu dem höhern Epos herüberführt. In dem Maße, als die geschichtlichen Sagenstoffe in den Vorder¬ grund treten und sich zu einer geschlossenen Handlung abrunden, wird auch jene Mythologie des Märchens teils ganz zurückgedrängt, teils in eine höhere Sphäre erhoben. So ist schließlich nicht das Märchen ein von seiner Höhe herabge- suntner epischer Mythus, sondern umgekehrt: der epische Mythus ist der durch die gehobne epische Stimmung in eine höhere Sphäre entrückte Mürcheniuhthus- Das im verzauberten Schloß hinter der Dornhecke schlafende Dornröschen ist nicht die in die Kinderstube hinübergewanderte, von der Waberlohe umgebne Brunhild, sondern jenes bescheidne Dornröschen des Märchens ist im Munde der nordischen Statten, die die Helden der Vorzeit und ihre Taten besangen, zur hehren Walküre erhoben worden." Grimm gegenüber mag Wunde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/706>, abgerufen am 23.07.2024.