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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Mundes Geschichte der musischen Aünste

religiösen zur profanen Poesie stattzufinden. Doch ist nach Analogie der Ent¬
stehung mancher religiöser Gesänge in moderner Zeit auch der entgegengesetzte
Vorgang wohl nicht ausgeschlossen, wenngleich auf primitiven Stufen schwerlich
nachzuweisen. Bekanntlich hat der neuere evangelische Kirchengesang seine Melodien
vielfach dem Volksliede entlehnt, ein Übergang, der wegen des langsamern
Tempos des alten Volksliedes dereinst leichter und unmittelbarer möglich war,
als er es heute sein würde. In einigen Füllen scheint aber auch der Text den Wandel
aus der profanen in die religiöse Form mitgemacht zu haben. So bei dem
Übergang von "Wie schön leuchten die Äugelein der Schönen und der Zarten
mein" in "Wie schön leucht't mir der Morgenstern", oder von "Innsbruck, ich
muß dich lassen" in "O Welt, ich muß dich lassen". Übrigens ist es nicht
unwahrscheinlich, daß schon die alte ambrosianische und gregorianische Kirchen¬
musik teilweise aus dem Volksgesang ihre Melodien geschöpft hat. Das Gegen¬
stück dazu bildeten dann die bekannten Profanierungen und Parodierungen der
Meszliturgie in der mittelalterlichen Mönchsdichtung." Die Zauberlieder und
die Zaubersprüche (der Spruch kauu das Ursprüngliche oder auch die Abkürzung
eines Liedes sein) sind oft unverständlich. Bei den vom Zauberpriester ange¬
wandten Beschwörungsformeln wird man nicht selten annehmen dürfen, daß er
sie absichtlich unverständlich formte, um den geheimnisvollen Charakter der
Handlung anzudeuten. Ein andrer Grund der UnVerständlichkeit aber, und
dieser wird der gewöhnliche gewesen sein, liegt darin, "daß die beim Zaubern
verwendeten Lieder und liedartigen Spruchformeln wegen der Macht, die matt
an sie gebunden glaubt, von Generation zu Generation und von Stamm zu
Stamm sich unverändert fortpflanzen, da man schon durch die kleinste Änderung
ihre Kraft zu vernichten fürchtet." Die Sprache ändert sich nun, und so werden
diese Formeln den spätern Geschlechtern unverständlich. Aber eben weil sie un¬
verständlich sind, werden sie für kräftiger gehalten, denn vor allein Unverständ¬
lichen hat der Einfältige eine abergläubische Ehrfurcht. Dieses Motiv wirkt dann
auch zur Beibehaltung untergegcmgner Sprachen als Kultsprachen mit. Zur Ver¬
stärkung der Wirkung dienen sowohl bei heiligen wie bei profanen Liedern Wieder¬
holungen, die teils Satz-, teils Wort-, teils Lautwiederholungen sind. Aus jenen
entwickelt sich der Parallelismus, der denselben Gedanken in zwei oder mehreren
verschiednen Formen wiederholt, aus diesen die Assonanz und der Nein.

Mit dem Liede verbindet sich später die Erzählung. Ursprünglich dient
diese einem andern Bedürfnis als das durch Rhythmus und Tonfall Gemüts¬
bewegungen ausdrückende Lied, einem Bedürfnis der Mitteilung. Dafür ist die
ungebundne, die Prosarede, geeigneter. Die Mitteilung von Vorkommnissen
unterhält die Phantasie, ohne das Gefühl unmittelbar zu erregen. Und aus
der Phantasie sind die Vorkommnisse geschöpft, die Naturmenschen einander zur
Unterhaltung am liebsten mitteilen. Sie sind Dichtungen, und zwar Märchen-
"Treffend weist schon die Diminutivform dieses Wortes darauf hin, daß das
"Märchen" alles, was etwa die Märe oder Sage berichten mag, in das Kleine,


Mundes Geschichte der musischen Aünste

religiösen zur profanen Poesie stattzufinden. Doch ist nach Analogie der Ent¬
stehung mancher religiöser Gesänge in moderner Zeit auch der entgegengesetzte
Vorgang wohl nicht ausgeschlossen, wenngleich auf primitiven Stufen schwerlich
nachzuweisen. Bekanntlich hat der neuere evangelische Kirchengesang seine Melodien
vielfach dem Volksliede entlehnt, ein Übergang, der wegen des langsamern
Tempos des alten Volksliedes dereinst leichter und unmittelbarer möglich war,
als er es heute sein würde. In einigen Füllen scheint aber auch der Text den Wandel
aus der profanen in die religiöse Form mitgemacht zu haben. So bei dem
Übergang von »Wie schön leuchten die Äugelein der Schönen und der Zarten
mein« in »Wie schön leucht't mir der Morgenstern«, oder von »Innsbruck, ich
muß dich lassen« in »O Welt, ich muß dich lassen«. Übrigens ist es nicht
unwahrscheinlich, daß schon die alte ambrosianische und gregorianische Kirchen¬
musik teilweise aus dem Volksgesang ihre Melodien geschöpft hat. Das Gegen¬
stück dazu bildeten dann die bekannten Profanierungen und Parodierungen der
Meszliturgie in der mittelalterlichen Mönchsdichtung." Die Zauberlieder und
die Zaubersprüche (der Spruch kauu das Ursprüngliche oder auch die Abkürzung
eines Liedes sein) sind oft unverständlich. Bei den vom Zauberpriester ange¬
wandten Beschwörungsformeln wird man nicht selten annehmen dürfen, daß er
sie absichtlich unverständlich formte, um den geheimnisvollen Charakter der
Handlung anzudeuten. Ein andrer Grund der UnVerständlichkeit aber, und
dieser wird der gewöhnliche gewesen sein, liegt darin, „daß die beim Zaubern
verwendeten Lieder und liedartigen Spruchformeln wegen der Macht, die matt
an sie gebunden glaubt, von Generation zu Generation und von Stamm zu
Stamm sich unverändert fortpflanzen, da man schon durch die kleinste Änderung
ihre Kraft zu vernichten fürchtet." Die Sprache ändert sich nun, und so werden
diese Formeln den spätern Geschlechtern unverständlich. Aber eben weil sie un¬
verständlich sind, werden sie für kräftiger gehalten, denn vor allein Unverständ¬
lichen hat der Einfältige eine abergläubische Ehrfurcht. Dieses Motiv wirkt dann
auch zur Beibehaltung untergegcmgner Sprachen als Kultsprachen mit. Zur Ver¬
stärkung der Wirkung dienen sowohl bei heiligen wie bei profanen Liedern Wieder¬
holungen, die teils Satz-, teils Wort-, teils Lautwiederholungen sind. Aus jenen
entwickelt sich der Parallelismus, der denselben Gedanken in zwei oder mehreren
verschiednen Formen wiederholt, aus diesen die Assonanz und der Nein.

Mit dem Liede verbindet sich später die Erzählung. Ursprünglich dient
diese einem andern Bedürfnis als das durch Rhythmus und Tonfall Gemüts¬
bewegungen ausdrückende Lied, einem Bedürfnis der Mitteilung. Dafür ist die
ungebundne, die Prosarede, geeigneter. Die Mitteilung von Vorkommnissen
unterhält die Phantasie, ohne das Gefühl unmittelbar zu erregen. Und aus
der Phantasie sind die Vorkommnisse geschöpft, die Naturmenschen einander zur
Unterhaltung am liebsten mitteilen. Sie sind Dichtungen, und zwar Märchen-
„Treffend weist schon die Diminutivform dieses Wortes darauf hin, daß das
»Märchen« alles, was etwa die Märe oder Sage berichten mag, in das Kleine,


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[0704] Mundes Geschichte der musischen Aünste religiösen zur profanen Poesie stattzufinden. Doch ist nach Analogie der Ent¬ stehung mancher religiöser Gesänge in moderner Zeit auch der entgegengesetzte Vorgang wohl nicht ausgeschlossen, wenngleich auf primitiven Stufen schwerlich nachzuweisen. Bekanntlich hat der neuere evangelische Kirchengesang seine Melodien vielfach dem Volksliede entlehnt, ein Übergang, der wegen des langsamern Tempos des alten Volksliedes dereinst leichter und unmittelbarer möglich war, als er es heute sein würde. In einigen Füllen scheint aber auch der Text den Wandel aus der profanen in die religiöse Form mitgemacht zu haben. So bei dem Übergang von »Wie schön leuchten die Äugelein der Schönen und der Zarten mein« in »Wie schön leucht't mir der Morgenstern«, oder von »Innsbruck, ich muß dich lassen« in »O Welt, ich muß dich lassen«. Übrigens ist es nicht unwahrscheinlich, daß schon die alte ambrosianische und gregorianische Kirchen¬ musik teilweise aus dem Volksgesang ihre Melodien geschöpft hat. Das Gegen¬ stück dazu bildeten dann die bekannten Profanierungen und Parodierungen der Meszliturgie in der mittelalterlichen Mönchsdichtung." Die Zauberlieder und die Zaubersprüche (der Spruch kauu das Ursprüngliche oder auch die Abkürzung eines Liedes sein) sind oft unverständlich. Bei den vom Zauberpriester ange¬ wandten Beschwörungsformeln wird man nicht selten annehmen dürfen, daß er sie absichtlich unverständlich formte, um den geheimnisvollen Charakter der Handlung anzudeuten. Ein andrer Grund der UnVerständlichkeit aber, und dieser wird der gewöhnliche gewesen sein, liegt darin, „daß die beim Zaubern verwendeten Lieder und liedartigen Spruchformeln wegen der Macht, die matt an sie gebunden glaubt, von Generation zu Generation und von Stamm zu Stamm sich unverändert fortpflanzen, da man schon durch die kleinste Änderung ihre Kraft zu vernichten fürchtet." Die Sprache ändert sich nun, und so werden diese Formeln den spätern Geschlechtern unverständlich. Aber eben weil sie un¬ verständlich sind, werden sie für kräftiger gehalten, denn vor allein Unverständ¬ lichen hat der Einfältige eine abergläubische Ehrfurcht. Dieses Motiv wirkt dann auch zur Beibehaltung untergegcmgner Sprachen als Kultsprachen mit. Zur Ver¬ stärkung der Wirkung dienen sowohl bei heiligen wie bei profanen Liedern Wieder¬ holungen, die teils Satz-, teils Wort-, teils Lautwiederholungen sind. Aus jenen entwickelt sich der Parallelismus, der denselben Gedanken in zwei oder mehreren verschiednen Formen wiederholt, aus diesen die Assonanz und der Nein. Mit dem Liede verbindet sich später die Erzählung. Ursprünglich dient diese einem andern Bedürfnis als das durch Rhythmus und Tonfall Gemüts¬ bewegungen ausdrückende Lied, einem Bedürfnis der Mitteilung. Dafür ist die ungebundne, die Prosarede, geeigneter. Die Mitteilung von Vorkommnissen unterhält die Phantasie, ohne das Gefühl unmittelbar zu erregen. Und aus der Phantasie sind die Vorkommnisse geschöpft, die Naturmenschen einander zur Unterhaltung am liebsten mitteilen. Sie sind Dichtungen, und zwar Märchen- „Treffend weist schon die Diminutivform dieses Wortes darauf hin, daß das »Märchen« alles, was etwa die Märe oder Sage berichten mag, in das Kleine,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/704>, abgerufen am 23.07.2024.