Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches bewilligt werden würde. Mit andern Worten: erst müssen wieder deutsche Frauen Der erste Eindruck ist überall der einer befreienden Tat gewesen. Daß Zen¬ Aus diesen Erwägungen kann aber trotz mancher hoffnungsreichen Anzeichen Maßgebliches und Unmaßgebliches bewilligt werden würde. Mit andern Worten: erst müssen wieder deutsche Frauen Der erste Eindruck ist überall der einer befreienden Tat gewesen. Daß Zen¬ Aus diesen Erwägungen kann aber trotz mancher hoffnungsreichen Anzeichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0684" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301183"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2797" prev="#ID_2796"> bewilligt werden würde. Mit andern Worten: erst müssen wieder deutsche Frauen<lb/> und Kinder von Eingebornen abgeschlachtet worden sein, dann kann das ganze Spiel<lb/> auf Kosten des deutschen Volkes von neuem beginnen! Das alles bedeutet einen<lb/> moralischen Tiefstand der Partei, der kaum überboten werden kann. Vor die Frage<lb/> gestellt, sich einem aus solchen Motiven hervorgehenden Beschluß zu fügen, konnte<lb/> die Negierung mit Ehren nur einen Ausweg finden: die Auflösung des Reichs¬<lb/> tags. Jeder Versuch einer Verhandlung barg in sich schon die Anerkennung von<lb/> Grundsätzen, die zu unberechenbaren Folgerungen führen mußten und die verfassungs¬<lb/> mäßige Autorität der Negierung in verhängnisvoller Weise bedrohten. Fürst Bülow<lb/> hatte den rechten Entschluß gefaßt; setzt ging es nicht so weiter, der Ruf an das<lb/> deutsche Volk mußte ergehn.</p><lb/> <p xml:id="ID_2798"> Der erste Eindruck ist überall der einer befreienden Tat gewesen. Daß Zen¬<lb/> trum und Sozialdemokratie hierbei ausgenommen sind, ist selbstverständlich. Aber<lb/> auch die freisinnigen Parteien haben den Entschluß der Regierung gebilligt und<lb/> gehn mit gutem Mut in den Wahlkampf. Es fragt sich nnr, ob die günstige<lb/> Stimmung vorhält, und ob sie ausreicht. Für den nachdenklichen Politiker bleibt<lb/> eine ganze Reihe von Bedenken bestehn. Wir wollen nicht die Methode des Vogels<lb/> Strauß befolgen, sondern uns das ehrlich klar machen. Die Parteien, gegen die<lb/> sich der Kampf der nationalen Parteien richtet, Zentrum und Sozialdemokratie,<lb/> sind am besten organisiert und gerüstet und haben den sichersten Besitzstand. Diese<lb/> Stellung so zu erschüttern, daß der neue Reichstag ein wesentlich neues Gefüge<lb/> der Parteien zeigt, wird man kaum hoffen dürfen. Daß dem Zentrum einige Sitze<lb/> entrissen werden, wird allgemein angenommen, aber bedeutend geschwächt wird es<lb/> wahrscheinlich nicht werden. Über die Aussichten der Sozialdemokratie gehn die<lb/> Meinungen der Wetterpropheten auseinander. Es gibt Leute, für die es von<lb/> vornherein feststeht, daß die Sozialdemokratie bei den nächsten Wahlen neue Er¬<lb/> oberungen machen müsse. Diese Befürchtung konnte man für sehr begründet halten,<lb/> solange das schleichende Fieber, das unser Volk erfaßt zu habe» schien, ungehemmt<lb/> seine verwüstenden Wirkungen üben durfte. Warum aber vorschnell die Hoffnung<lb/> aufgeben, daß die kräftige Entschlossenheit der Regierung, ihre von Vertrauen ans<lb/> das deutsche Volk zeugende Tat, ihr lauter Weckruf an das nationale Ehrgefühl,<lb/> ihr festes Eintreten für Sauberkeit und Ehrlichkeit in dem politischen Zusammen¬<lb/> wirken vou Regierung und Volksvertretung — daß dies alles vielleicht gerade das<lb/> rechte Heilmittel für unsre Krankheit bedeuten wird? Was man wohl sicher erwarten<lb/> durfte, wenn die Dinge bis zum Jahre 1908 den bisherigen Weg genommen<lb/> hätten, das braucht jetzt durchaus nicht als ganz sicher zu gelten. Von verständigen<lb/> Leuten, die Gelegenheit haben, tief in das Volk hineinzuhorcheu, kann man jetzt<lb/> gelegentlich schon ganz andre Urteile hören, als der landläufige Pessimismus wahr<lb/> haben will. Es schlummert da unter der Hülle zielloser Verdrossenheit und Nörgel¬<lb/> sucht eine Fülle vou gesunden Regungen, die nur der Aufrüttlung und der sichern<lb/> Führung warten. Es ist freilich außerordentlich schwer vorauszusagen, ob der<lb/> gegenwärtige Antrieb genügt, solche Regungen freizumachen. Der Parteiterroris-<lb/> mus und das stark entwickelte Klassenbewußtsein des Arbeiters, das das junge Ge¬<lb/> schlecht der Gegenwart nicht erst auf der Arbeitsstätte von den Agitatoren lernt,<lb/> sondern schon mit der Muttermilch in sich aufnimmt, können bei den Wahlen noch,<lb/> einen kräftigen Strich durch alle Hoffnungen machen. Aber so selbstverständlich<lb/> wie manche glauben, ist ein neuer Sieg der Sozialdemokratie unter diesen Um¬<lb/> ständen nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_2799" next="#ID_2800"> Aus diesen Erwägungen kann aber trotz mancher hoffnungsreichen Anzeichen<lb/> doch im ganzen vielleicht geschlossen werden, daß sich die Auflösung des Reichstags<lb/> als ein Schlag ins Wasser erweisen wird. Wenn ein ähnlicher Reichstag wieder-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0684]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
bewilligt werden würde. Mit andern Worten: erst müssen wieder deutsche Frauen
und Kinder von Eingebornen abgeschlachtet worden sein, dann kann das ganze Spiel
auf Kosten des deutschen Volkes von neuem beginnen! Das alles bedeutet einen
moralischen Tiefstand der Partei, der kaum überboten werden kann. Vor die Frage
gestellt, sich einem aus solchen Motiven hervorgehenden Beschluß zu fügen, konnte
die Negierung mit Ehren nur einen Ausweg finden: die Auflösung des Reichs¬
tags. Jeder Versuch einer Verhandlung barg in sich schon die Anerkennung von
Grundsätzen, die zu unberechenbaren Folgerungen führen mußten und die verfassungs¬
mäßige Autorität der Negierung in verhängnisvoller Weise bedrohten. Fürst Bülow
hatte den rechten Entschluß gefaßt; setzt ging es nicht so weiter, der Ruf an das
deutsche Volk mußte ergehn.
Der erste Eindruck ist überall der einer befreienden Tat gewesen. Daß Zen¬
trum und Sozialdemokratie hierbei ausgenommen sind, ist selbstverständlich. Aber
auch die freisinnigen Parteien haben den Entschluß der Regierung gebilligt und
gehn mit gutem Mut in den Wahlkampf. Es fragt sich nnr, ob die günstige
Stimmung vorhält, und ob sie ausreicht. Für den nachdenklichen Politiker bleibt
eine ganze Reihe von Bedenken bestehn. Wir wollen nicht die Methode des Vogels
Strauß befolgen, sondern uns das ehrlich klar machen. Die Parteien, gegen die
sich der Kampf der nationalen Parteien richtet, Zentrum und Sozialdemokratie,
sind am besten organisiert und gerüstet und haben den sichersten Besitzstand. Diese
Stellung so zu erschüttern, daß der neue Reichstag ein wesentlich neues Gefüge
der Parteien zeigt, wird man kaum hoffen dürfen. Daß dem Zentrum einige Sitze
entrissen werden, wird allgemein angenommen, aber bedeutend geschwächt wird es
wahrscheinlich nicht werden. Über die Aussichten der Sozialdemokratie gehn die
Meinungen der Wetterpropheten auseinander. Es gibt Leute, für die es von
vornherein feststeht, daß die Sozialdemokratie bei den nächsten Wahlen neue Er¬
oberungen machen müsse. Diese Befürchtung konnte man für sehr begründet halten,
solange das schleichende Fieber, das unser Volk erfaßt zu habe» schien, ungehemmt
seine verwüstenden Wirkungen üben durfte. Warum aber vorschnell die Hoffnung
aufgeben, daß die kräftige Entschlossenheit der Regierung, ihre von Vertrauen ans
das deutsche Volk zeugende Tat, ihr lauter Weckruf an das nationale Ehrgefühl,
ihr festes Eintreten für Sauberkeit und Ehrlichkeit in dem politischen Zusammen¬
wirken vou Regierung und Volksvertretung — daß dies alles vielleicht gerade das
rechte Heilmittel für unsre Krankheit bedeuten wird? Was man wohl sicher erwarten
durfte, wenn die Dinge bis zum Jahre 1908 den bisherigen Weg genommen
hätten, das braucht jetzt durchaus nicht als ganz sicher zu gelten. Von verständigen
Leuten, die Gelegenheit haben, tief in das Volk hineinzuhorcheu, kann man jetzt
gelegentlich schon ganz andre Urteile hören, als der landläufige Pessimismus wahr
haben will. Es schlummert da unter der Hülle zielloser Verdrossenheit und Nörgel¬
sucht eine Fülle vou gesunden Regungen, die nur der Aufrüttlung und der sichern
Führung warten. Es ist freilich außerordentlich schwer vorauszusagen, ob der
gegenwärtige Antrieb genügt, solche Regungen freizumachen. Der Parteiterroris-
mus und das stark entwickelte Klassenbewußtsein des Arbeiters, das das junge Ge¬
schlecht der Gegenwart nicht erst auf der Arbeitsstätte von den Agitatoren lernt,
sondern schon mit der Muttermilch in sich aufnimmt, können bei den Wahlen noch,
einen kräftigen Strich durch alle Hoffnungen machen. Aber so selbstverständlich
wie manche glauben, ist ein neuer Sieg der Sozialdemokratie unter diesen Um¬
ständen nicht.
Aus diesen Erwägungen kann aber trotz mancher hoffnungsreichen Anzeichen
doch im ganzen vielleicht geschlossen werden, daß sich die Auflösung des Reichstags
als ein Schlag ins Wasser erweisen wird. Wenn ein ähnlicher Reichstag wieder-
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