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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Das Bild in der Dichtung

ihre Euter, deren Segen die durstige Erde tränkt. Anderswo wird der Regen
ihr Schweiß oder Harn genannt oder Same des Dyaus (auch Äschylos nennt
in kr. 45 "za. Hermann den Regen Same des Himmels, Aristophanes in den
Wolken 373 Harn des Zeus).

Die Morgenröte (Usha) ist des Himmels Tochter; sie kommt wie eine
jugendliche Maid geschmückt mit buntem Kleid gleich einer Tänzerin; sie ent¬
hüllt ihren blühenden Busen wie die Kuh ihr Euter. Wenn sie erscheint,
räumt ihr die schwarze Schwester den Sitz, die abwechselnd mit ihr den Himmel
hütet. Der Usha folgt der Sonnengott wie der Braut der Freier. Usha ist
ewig jung, rossereich (d. h. strahlenreich; es gehört zu den Eigenheiten der brah-
manischen Phantasie, Rinder und Rosse als Symbol alles Köstlicher zu nehmen,
deshalb wird sogar der Opfertrank als Stier bezeichnet). Wenn auch fußlos,
schreitet sie doch im Flug durch die Welt, mit hundert Wagen fährt sie zu den
Menschen, rings Segen spendend (die hundert Wagen beziehen sich wohl darauf,
daß die Morgenröte an vielen Orten zu gleicher Zeit erscheint). Aber auch die
Nacht, die Besänftigerin, ist eine erquickende Göttin.

Im 127. Hymnus des 10. Vedabuchs heißt es:

Wie fein psychologisch ist das Bild! Glauben wir nicht beim Wandern
durch Nachtdnnkel das unheimliche Spähen eines dämonischen Geistes wahr¬
zunehmen, wie Goethe es ausdrückt: "Wo Finsternis aus dem Gesträuche mit
tausend schwarzen Augen sah"!

Seltsam berührt es uns, wie die Anschauungswelt des Ackerbaus den
Inder beherrscht: Agni zieht als Himmelspriester des Opfers Deichsel; wie
Rosse schirrt er sich die Gebete an; diese fliegen zu Gott wie Vögel zu ihrem
Nest, wie Kühe auf die Weide. Auch die Liebessymbolik spielt stark herein:
Wie voll Begier die Frauen zu dem Gatten, so kommen liebkosend die Gesänge
zu Indra; die zwei Neibehölzer, aus denen der Priester das Opferfeuer ge¬
wann, sind die Mütter Agnis oder das harte Holz der Vater, das weiche die
Mutter. Aus der Trächtigen kommt der junge Agni als Sohn geschritten;
das Reiben ist die Zeugung. Oder die zehn Finger, die bei der Reibung
tätig sind, stellen zehn Jungfrauen vor, die nie ermattend Agni gebären, oder
liebende Frauen eines gemeinsamen Gatten auf gleichem Sitz.

Erhaben klingt es, wenn im Ramajana der Himalaja als Haupt Siwas
erscheint, der das Himmelswasser des Ganga im Waldgeflecht seiner Locken
auffängt, das ihn wie ein Stirnkranz umwogt. Glühend ist die Liebesmeta-
phorik in Kalidasas und Bhartriharis Gesängen; scharf damit kontrastierend
der asketische Geist der Upcmischad und der buddhistischen Literatur; gleich in


Das Bild in der Dichtung

ihre Euter, deren Segen die durstige Erde tränkt. Anderswo wird der Regen
ihr Schweiß oder Harn genannt oder Same des Dyaus (auch Äschylos nennt
in kr. 45 «za. Hermann den Regen Same des Himmels, Aristophanes in den
Wolken 373 Harn des Zeus).

Die Morgenröte (Usha) ist des Himmels Tochter; sie kommt wie eine
jugendliche Maid geschmückt mit buntem Kleid gleich einer Tänzerin; sie ent¬
hüllt ihren blühenden Busen wie die Kuh ihr Euter. Wenn sie erscheint,
räumt ihr die schwarze Schwester den Sitz, die abwechselnd mit ihr den Himmel
hütet. Der Usha folgt der Sonnengott wie der Braut der Freier. Usha ist
ewig jung, rossereich (d. h. strahlenreich; es gehört zu den Eigenheiten der brah-
manischen Phantasie, Rinder und Rosse als Symbol alles Köstlicher zu nehmen,
deshalb wird sogar der Opfertrank als Stier bezeichnet). Wenn auch fußlos,
schreitet sie doch im Flug durch die Welt, mit hundert Wagen fährt sie zu den
Menschen, rings Segen spendend (die hundert Wagen beziehen sich wohl darauf,
daß die Morgenröte an vielen Orten zu gleicher Zeit erscheint). Aber auch die
Nacht, die Besänftigerin, ist eine erquickende Göttin.

Im 127. Hymnus des 10. Vedabuchs heißt es:

Wie fein psychologisch ist das Bild! Glauben wir nicht beim Wandern
durch Nachtdnnkel das unheimliche Spähen eines dämonischen Geistes wahr¬
zunehmen, wie Goethe es ausdrückt: „Wo Finsternis aus dem Gesträuche mit
tausend schwarzen Augen sah"!

Seltsam berührt es uns, wie die Anschauungswelt des Ackerbaus den
Inder beherrscht: Agni zieht als Himmelspriester des Opfers Deichsel; wie
Rosse schirrt er sich die Gebete an; diese fliegen zu Gott wie Vögel zu ihrem
Nest, wie Kühe auf die Weide. Auch die Liebessymbolik spielt stark herein:
Wie voll Begier die Frauen zu dem Gatten, so kommen liebkosend die Gesänge
zu Indra; die zwei Neibehölzer, aus denen der Priester das Opferfeuer ge¬
wann, sind die Mütter Agnis oder das harte Holz der Vater, das weiche die
Mutter. Aus der Trächtigen kommt der junge Agni als Sohn geschritten;
das Reiben ist die Zeugung. Oder die zehn Finger, die bei der Reibung
tätig sind, stellen zehn Jungfrauen vor, die nie ermattend Agni gebären, oder
liebende Frauen eines gemeinsamen Gatten auf gleichem Sitz.

Erhaben klingt es, wenn im Ramajana der Himalaja als Haupt Siwas
erscheint, der das Himmelswasser des Ganga im Waldgeflecht seiner Locken
auffängt, das ihn wie ein Stirnkranz umwogt. Glühend ist die Liebesmeta-
phorik in Kalidasas und Bhartriharis Gesängen; scharf damit kontrastierend
der asketische Geist der Upcmischad und der buddhistischen Literatur; gleich in


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[0664] Das Bild in der Dichtung ihre Euter, deren Segen die durstige Erde tränkt. Anderswo wird der Regen ihr Schweiß oder Harn genannt oder Same des Dyaus (auch Äschylos nennt in kr. 45 «za. Hermann den Regen Same des Himmels, Aristophanes in den Wolken 373 Harn des Zeus). Die Morgenröte (Usha) ist des Himmels Tochter; sie kommt wie eine jugendliche Maid geschmückt mit buntem Kleid gleich einer Tänzerin; sie ent¬ hüllt ihren blühenden Busen wie die Kuh ihr Euter. Wenn sie erscheint, räumt ihr die schwarze Schwester den Sitz, die abwechselnd mit ihr den Himmel hütet. Der Usha folgt der Sonnengott wie der Braut der Freier. Usha ist ewig jung, rossereich (d. h. strahlenreich; es gehört zu den Eigenheiten der brah- manischen Phantasie, Rinder und Rosse als Symbol alles Köstlicher zu nehmen, deshalb wird sogar der Opfertrank als Stier bezeichnet). Wenn auch fußlos, schreitet sie doch im Flug durch die Welt, mit hundert Wagen fährt sie zu den Menschen, rings Segen spendend (die hundert Wagen beziehen sich wohl darauf, daß die Morgenröte an vielen Orten zu gleicher Zeit erscheint). Aber auch die Nacht, die Besänftigerin, ist eine erquickende Göttin. Im 127. Hymnus des 10. Vedabuchs heißt es: Wie fein psychologisch ist das Bild! Glauben wir nicht beim Wandern durch Nachtdnnkel das unheimliche Spähen eines dämonischen Geistes wahr¬ zunehmen, wie Goethe es ausdrückt: „Wo Finsternis aus dem Gesträuche mit tausend schwarzen Augen sah"! Seltsam berührt es uns, wie die Anschauungswelt des Ackerbaus den Inder beherrscht: Agni zieht als Himmelspriester des Opfers Deichsel; wie Rosse schirrt er sich die Gebete an; diese fliegen zu Gott wie Vögel zu ihrem Nest, wie Kühe auf die Weide. Auch die Liebessymbolik spielt stark herein: Wie voll Begier die Frauen zu dem Gatten, so kommen liebkosend die Gesänge zu Indra; die zwei Neibehölzer, aus denen der Priester das Opferfeuer ge¬ wann, sind die Mütter Agnis oder das harte Holz der Vater, das weiche die Mutter. Aus der Trächtigen kommt der junge Agni als Sohn geschritten; das Reiben ist die Zeugung. Oder die zehn Finger, die bei der Reibung tätig sind, stellen zehn Jungfrauen vor, die nie ermattend Agni gebären, oder liebende Frauen eines gemeinsamen Gatten auf gleichem Sitz. Erhaben klingt es, wenn im Ramajana der Himalaja als Haupt Siwas erscheint, der das Himmelswasser des Ganga im Waldgeflecht seiner Locken auffängt, das ihn wie ein Stirnkranz umwogt. Glühend ist die Liebesmeta- phorik in Kalidasas und Bhartriharis Gesängen; scharf damit kontrastierend der asketische Geist der Upcmischad und der buddhistischen Literatur; gleich in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/664>, abgerufen am 23.07.2024.