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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

Wurde (das heutige Scherschel in Algerien) -- und Mauritania Tingitana
mit Tingis Tanger) als Hauptstadt. Die Grenze zwischen Algerien
und Marokko aber war später an der Tafua, halbwegs zwischen Oran und
der Muluja gewesen, niemals an dieser selbst. Die jetzige, ganz willkürlich
gezogne Grenzlinie kreuzt Flußtäler, wie das des Jsly, Gebirge, Hochebnen
und Schotts Salzsümpfe) und ließ, nach Osten ausbiegend, Figig und Tuat
den Marokkanern. Eine bessere Abgrenzung war also sehr wünschenswert,
Wie zum Beispiel auch schon der große deutsche Afrikaforscher Gerhard Nohlfs
anerkannte. Vereitelt aber wurde sie bisher gerade von den Franzosen selbst!
Die Schuld an der dauernden Unsicherheit in diesen Grenzgebieten liegt weder
an der vielgeschmähten Regierung von Fez noch an den algerischen Behörden,
sondern einzig an der von Paris aus bisher beliebten Politik, die jeden
Versuch einer ernstlichen, definitiven Schlichtung der Grenzfragen verhinderte,
um jederzeit Gelegenheit zu einem energischen, kriegerischen Vorgehn zu be¬
halten und unter dem Vorwande von "Strafexpeditionen" für begangne Grenz¬
verletzung unauffällig immer weiter vordringen zu können. Immer wurde
"die Pflicht, die Grenze zu schützen", angerufen, um das stete Weitervorgehn
der französischen Kolonnen zu rechtfertigen, von der blutigen Kampagne gegen
die Beni-Snasscn im Jahre 1855 an, die 10000 französischen Soldaten das
Leben kostete, bis zur kürzlichen "Besetzung" Raub) von Tuat.

Algerische Aufständische, wie neuerdings Si-Sliman und Bu-Amena,
fanden in den Oasen der Grenzgebiete, wo der Sultan nur eine nominelle
Autorität hat und meist beim besten Willen das Völkerrecht nicht zu schützen
vermag, sichere Zufluchtsstätten. Ebenso veranlaßten die unaufhörlichen
Raufereien zwischen den räuberischen, unbotmäßigen Nomadenstämmen immer
neue französische Reklamationen und Entschüdigungsforderungen am Hofe des
Scherifs, die dort wiederum den Haß gegen die übermütigen christlichen Nach¬
barn steigerten. Auch durch Bestechungen suchten die Franzosen die Nomaden
nach und nach für ihre Interessen zu gewinnen, oft mit Erfolg. Bei deren
festgewurzelten Haß gegen jede Fremdherrschaft bleibt freilich die so erlangte
Unterwerfung immer problematisch. Gelegentlich bestimmten auch rein finanzielle
Gründe die französische Grenzpolitik. So bestätigte General Sciussier, daß
man die Hochebnen im Süden mit bedeutenden Unkosten nur deshalb okkupierte,
um die der "Franko-algerischen Gesellschaft" erteilten großen Landkonzessionen
SU decken. Wiederholt beklagten sich die Generalgouverneure von Algerien
über die bedeutenden Ausgaben, die zur Züchtigung räuberischer Nomaden
gemacht werden mußten, und beantragten eine Teilung des Saharagebiets
Mischen Algerien und Marokko, mit einer Grenzlinie vom Paß von Teniet-
cs-Sassi ab, in der Mitte zwischen dein Ksur Wüstendorfe) Isch und Ain-
Sfissifa. Tirman erklärte 1882 als Generalgouvemeur eine solche Abgrenzung
"vernunftgemäß" und meinte, daß sie auch bei dem Bau der projektierten
Saharabahn den französischen Interessen durchaus entsprechen würde. Der


Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

Wurde (das heutige Scherschel in Algerien) — und Mauritania Tingitana
mit Tingis Tanger) als Hauptstadt. Die Grenze zwischen Algerien
und Marokko aber war später an der Tafua, halbwegs zwischen Oran und
der Muluja gewesen, niemals an dieser selbst. Die jetzige, ganz willkürlich
gezogne Grenzlinie kreuzt Flußtäler, wie das des Jsly, Gebirge, Hochebnen
und Schotts Salzsümpfe) und ließ, nach Osten ausbiegend, Figig und Tuat
den Marokkanern. Eine bessere Abgrenzung war also sehr wünschenswert,
Wie zum Beispiel auch schon der große deutsche Afrikaforscher Gerhard Nohlfs
anerkannte. Vereitelt aber wurde sie bisher gerade von den Franzosen selbst!
Die Schuld an der dauernden Unsicherheit in diesen Grenzgebieten liegt weder
an der vielgeschmähten Regierung von Fez noch an den algerischen Behörden,
sondern einzig an der von Paris aus bisher beliebten Politik, die jeden
Versuch einer ernstlichen, definitiven Schlichtung der Grenzfragen verhinderte,
um jederzeit Gelegenheit zu einem energischen, kriegerischen Vorgehn zu be¬
halten und unter dem Vorwande von „Strafexpeditionen" für begangne Grenz¬
verletzung unauffällig immer weiter vordringen zu können. Immer wurde
„die Pflicht, die Grenze zu schützen", angerufen, um das stete Weitervorgehn
der französischen Kolonnen zu rechtfertigen, von der blutigen Kampagne gegen
die Beni-Snasscn im Jahre 1855 an, die 10000 französischen Soldaten das
Leben kostete, bis zur kürzlichen „Besetzung" Raub) von Tuat.

Algerische Aufständische, wie neuerdings Si-Sliman und Bu-Amena,
fanden in den Oasen der Grenzgebiete, wo der Sultan nur eine nominelle
Autorität hat und meist beim besten Willen das Völkerrecht nicht zu schützen
vermag, sichere Zufluchtsstätten. Ebenso veranlaßten die unaufhörlichen
Raufereien zwischen den räuberischen, unbotmäßigen Nomadenstämmen immer
neue französische Reklamationen und Entschüdigungsforderungen am Hofe des
Scherifs, die dort wiederum den Haß gegen die übermütigen christlichen Nach¬
barn steigerten. Auch durch Bestechungen suchten die Franzosen die Nomaden
nach und nach für ihre Interessen zu gewinnen, oft mit Erfolg. Bei deren
festgewurzelten Haß gegen jede Fremdherrschaft bleibt freilich die so erlangte
Unterwerfung immer problematisch. Gelegentlich bestimmten auch rein finanzielle
Gründe die französische Grenzpolitik. So bestätigte General Sciussier, daß
man die Hochebnen im Süden mit bedeutenden Unkosten nur deshalb okkupierte,
um die der „Franko-algerischen Gesellschaft" erteilten großen Landkonzessionen
SU decken. Wiederholt beklagten sich die Generalgouverneure von Algerien
über die bedeutenden Ausgaben, die zur Züchtigung räuberischer Nomaden
gemacht werden mußten, und beantragten eine Teilung des Saharagebiets
Mischen Algerien und Marokko, mit einer Grenzlinie vom Paß von Teniet-
cs-Sassi ab, in der Mitte zwischen dein Ksur Wüstendorfe) Isch und Ain-
Sfissifa. Tirman erklärte 1882 als Generalgouvemeur eine solche Abgrenzung
"vernunftgemäß" und meinte, daß sie auch bei dem Bau der projektierten
Saharabahn den französischen Interessen durchaus entsprechen würde. Der


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[0639] Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze Wurde (das heutige Scherschel in Algerien) — und Mauritania Tingitana mit Tingis Tanger) als Hauptstadt. Die Grenze zwischen Algerien und Marokko aber war später an der Tafua, halbwegs zwischen Oran und der Muluja gewesen, niemals an dieser selbst. Die jetzige, ganz willkürlich gezogne Grenzlinie kreuzt Flußtäler, wie das des Jsly, Gebirge, Hochebnen und Schotts Salzsümpfe) und ließ, nach Osten ausbiegend, Figig und Tuat den Marokkanern. Eine bessere Abgrenzung war also sehr wünschenswert, Wie zum Beispiel auch schon der große deutsche Afrikaforscher Gerhard Nohlfs anerkannte. Vereitelt aber wurde sie bisher gerade von den Franzosen selbst! Die Schuld an der dauernden Unsicherheit in diesen Grenzgebieten liegt weder an der vielgeschmähten Regierung von Fez noch an den algerischen Behörden, sondern einzig an der von Paris aus bisher beliebten Politik, die jeden Versuch einer ernstlichen, definitiven Schlichtung der Grenzfragen verhinderte, um jederzeit Gelegenheit zu einem energischen, kriegerischen Vorgehn zu be¬ halten und unter dem Vorwande von „Strafexpeditionen" für begangne Grenz¬ verletzung unauffällig immer weiter vordringen zu können. Immer wurde „die Pflicht, die Grenze zu schützen", angerufen, um das stete Weitervorgehn der französischen Kolonnen zu rechtfertigen, von der blutigen Kampagne gegen die Beni-Snasscn im Jahre 1855 an, die 10000 französischen Soldaten das Leben kostete, bis zur kürzlichen „Besetzung" Raub) von Tuat. Algerische Aufständische, wie neuerdings Si-Sliman und Bu-Amena, fanden in den Oasen der Grenzgebiete, wo der Sultan nur eine nominelle Autorität hat und meist beim besten Willen das Völkerrecht nicht zu schützen vermag, sichere Zufluchtsstätten. Ebenso veranlaßten die unaufhörlichen Raufereien zwischen den räuberischen, unbotmäßigen Nomadenstämmen immer neue französische Reklamationen und Entschüdigungsforderungen am Hofe des Scherifs, die dort wiederum den Haß gegen die übermütigen christlichen Nach¬ barn steigerten. Auch durch Bestechungen suchten die Franzosen die Nomaden nach und nach für ihre Interessen zu gewinnen, oft mit Erfolg. Bei deren festgewurzelten Haß gegen jede Fremdherrschaft bleibt freilich die so erlangte Unterwerfung immer problematisch. Gelegentlich bestimmten auch rein finanzielle Gründe die französische Grenzpolitik. So bestätigte General Sciussier, daß man die Hochebnen im Süden mit bedeutenden Unkosten nur deshalb okkupierte, um die der „Franko-algerischen Gesellschaft" erteilten großen Landkonzessionen SU decken. Wiederholt beklagten sich die Generalgouverneure von Algerien über die bedeutenden Ausgaben, die zur Züchtigung räuberischer Nomaden gemacht werden mußten, und beantragten eine Teilung des Saharagebiets Mischen Algerien und Marokko, mit einer Grenzlinie vom Paß von Teniet- cs-Sassi ab, in der Mitte zwischen dein Ksur Wüstendorfe) Isch und Ain- Sfissifa. Tirman erklärte 1882 als Generalgouvemeur eine solche Abgrenzung "vernunftgemäß" und meinte, daß sie auch bei dem Bau der projektierten Saharabahn den französischen Interessen durchaus entsprechen würde. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/639>, abgerufen am 23.07.2024.