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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

durch einen formellen Friedensvertrag bestätigt wurde. Von da ab gab es
eine algerisch-marokkanische Grenzfrage. Denn die französischen Chauvinisten
behaupteten bald, infolge der Unerfahrenheit des Unterhändlers, General
de la Rue, sei der glorreiche Sieg des Marschalls nicht gebührend ausgenützt
worden. Sie vergaßen dabei, wie schwierig in jener Zeit die Lage der Fran¬
zosen in dem noch nicht gänzlich unterworfnen Algerien war. Der von Eng¬
land aufgestachelte marokkanische Sultan hätte durch energische Unterstützung
des Emirs vielleicht die französische Herrschaft in Nordafrika vernichten,
wenigstens aufs äußerste gefährden können. Jedenfalls erwies er durch Achtung
und Verbannung Abd-el-Katers Frankreich einen großen Dienst. Auch bei
der Grenzregulierung zeigte er sich willfährig und erkannte als Grenze an:
die Mündung des Ueb-Adjerud (Ueb-Kiß) ins Mittelmeer und eine Linie,
die über Kudyat-el-Debbagh -- einen Hügel an der äußersten Grenze des
Tell, d. h. des kultivierten Küstenlands -- nach dem Paß von Teniet-es-Sassi
führte, während im Süden die Wüste -- "das Land der Flinten" -- als
herrenlos ungeteilt blieb, wodurch bald vielerlei Schwierigkeiten entstanden.
"Die Wüste ist Gottes", sagte man zur Türkenzeit. Aber über ihre Oasen
zogen von alters her die Handelskarawanen der Marokkaner nach Timbuktu
unter dem Geleit der Machazini -- Lehnssoldaten und Negierungsagenten zu¬
gleich --, die am Niger die Autorität des Sultans vertraten, der durch seine
geistliche Würde eines "Großscherifs" auch in diesen entfernten Gegenden einen
nicht geringen Einfluß ausübte. Damals jedoch schienen diese entlegnen Ge¬
biete des geheimnisvollen Sudans in keinerlei Verbindung mit den algerischen
Grenzfragen zu stehn.

Grenzverletzungen kamen auf beiden Seiten oft genug vor, und schon von 1847
an reklamierten die Marokkaner nicht ohne Grund gegen französische Übergriffe.
Vielfach hat man in Frankreich über das "perfide Albion" geklagt, besonders
auch sein Verhalten gegen die indischen Einzelstaaten auf das schärfste ver¬
urteilt. An Unaufrichtigkeit und Gewalttätigkeit steht jedoch die von Frank¬
reich gegen Marokko verfolgte Politik der englischen in Indien und ander¬
wärts gewiß nicht nach. Indem die französischen Zeitungen die Mängel des
Vertrags planmäßig übertrieben, erklärten sie sehr bald schon, daß man nicht
ruhen dürfe, bis man "wenigstens" die "historischen Grenzen" -- Muluja,
Udjda, Figig und Gnrara -- erlangt habe. Das rechte Ufer der Muluja
aber war niemals die Grenze des alten Mauretaniens gewesen, und was Figig
betrifft, so erkannte das algerische Generalgouvernement noch 1886 in einem
offiziellen Rapport an: "daß die Okkupation dritten gegenüber schwerlich als
legitim hingestellt werden könnte".

Das unter Caligula dem römischen Staate einverleibte alte Reich
Mauretanien umfaßte auch ganz Marokko. Unter Claudius wurde es im
Jahre 42 n. Chr. in zwei Provinzen getrennt: Mauritania Caesariensis mit
der altphönizischen Seestadt Jot als Hauptstadt -- die später Caesarea genannt


Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

durch einen formellen Friedensvertrag bestätigt wurde. Von da ab gab es
eine algerisch-marokkanische Grenzfrage. Denn die französischen Chauvinisten
behaupteten bald, infolge der Unerfahrenheit des Unterhändlers, General
de la Rue, sei der glorreiche Sieg des Marschalls nicht gebührend ausgenützt
worden. Sie vergaßen dabei, wie schwierig in jener Zeit die Lage der Fran¬
zosen in dem noch nicht gänzlich unterworfnen Algerien war. Der von Eng¬
land aufgestachelte marokkanische Sultan hätte durch energische Unterstützung
des Emirs vielleicht die französische Herrschaft in Nordafrika vernichten,
wenigstens aufs äußerste gefährden können. Jedenfalls erwies er durch Achtung
und Verbannung Abd-el-Katers Frankreich einen großen Dienst. Auch bei
der Grenzregulierung zeigte er sich willfährig und erkannte als Grenze an:
die Mündung des Ueb-Adjerud (Ueb-Kiß) ins Mittelmeer und eine Linie,
die über Kudyat-el-Debbagh — einen Hügel an der äußersten Grenze des
Tell, d. h. des kultivierten Küstenlands — nach dem Paß von Teniet-es-Sassi
führte, während im Süden die Wüste — „das Land der Flinten" — als
herrenlos ungeteilt blieb, wodurch bald vielerlei Schwierigkeiten entstanden.
„Die Wüste ist Gottes", sagte man zur Türkenzeit. Aber über ihre Oasen
zogen von alters her die Handelskarawanen der Marokkaner nach Timbuktu
unter dem Geleit der Machazini — Lehnssoldaten und Negierungsagenten zu¬
gleich —, die am Niger die Autorität des Sultans vertraten, der durch seine
geistliche Würde eines „Großscherifs" auch in diesen entfernten Gegenden einen
nicht geringen Einfluß ausübte. Damals jedoch schienen diese entlegnen Ge¬
biete des geheimnisvollen Sudans in keinerlei Verbindung mit den algerischen
Grenzfragen zu stehn.

Grenzverletzungen kamen auf beiden Seiten oft genug vor, und schon von 1847
an reklamierten die Marokkaner nicht ohne Grund gegen französische Übergriffe.
Vielfach hat man in Frankreich über das „perfide Albion" geklagt, besonders
auch sein Verhalten gegen die indischen Einzelstaaten auf das schärfste ver¬
urteilt. An Unaufrichtigkeit und Gewalttätigkeit steht jedoch die von Frank¬
reich gegen Marokko verfolgte Politik der englischen in Indien und ander¬
wärts gewiß nicht nach. Indem die französischen Zeitungen die Mängel des
Vertrags planmäßig übertrieben, erklärten sie sehr bald schon, daß man nicht
ruhen dürfe, bis man „wenigstens" die „historischen Grenzen" — Muluja,
Udjda, Figig und Gnrara — erlangt habe. Das rechte Ufer der Muluja
aber war niemals die Grenze des alten Mauretaniens gewesen, und was Figig
betrifft, so erkannte das algerische Generalgouvernement noch 1886 in einem
offiziellen Rapport an: „daß die Okkupation dritten gegenüber schwerlich als
legitim hingestellt werden könnte".

Das unter Caligula dem römischen Staate einverleibte alte Reich
Mauretanien umfaßte auch ganz Marokko. Unter Claudius wurde es im
Jahre 42 n. Chr. in zwei Provinzen getrennt: Mauritania Caesariensis mit
der altphönizischen Seestadt Jot als Hauptstadt — die später Caesarea genannt


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[0638] Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze durch einen formellen Friedensvertrag bestätigt wurde. Von da ab gab es eine algerisch-marokkanische Grenzfrage. Denn die französischen Chauvinisten behaupteten bald, infolge der Unerfahrenheit des Unterhändlers, General de la Rue, sei der glorreiche Sieg des Marschalls nicht gebührend ausgenützt worden. Sie vergaßen dabei, wie schwierig in jener Zeit die Lage der Fran¬ zosen in dem noch nicht gänzlich unterworfnen Algerien war. Der von Eng¬ land aufgestachelte marokkanische Sultan hätte durch energische Unterstützung des Emirs vielleicht die französische Herrschaft in Nordafrika vernichten, wenigstens aufs äußerste gefährden können. Jedenfalls erwies er durch Achtung und Verbannung Abd-el-Katers Frankreich einen großen Dienst. Auch bei der Grenzregulierung zeigte er sich willfährig und erkannte als Grenze an: die Mündung des Ueb-Adjerud (Ueb-Kiß) ins Mittelmeer und eine Linie, die über Kudyat-el-Debbagh — einen Hügel an der äußersten Grenze des Tell, d. h. des kultivierten Küstenlands — nach dem Paß von Teniet-es-Sassi führte, während im Süden die Wüste — „das Land der Flinten" — als herrenlos ungeteilt blieb, wodurch bald vielerlei Schwierigkeiten entstanden. „Die Wüste ist Gottes", sagte man zur Türkenzeit. Aber über ihre Oasen zogen von alters her die Handelskarawanen der Marokkaner nach Timbuktu unter dem Geleit der Machazini — Lehnssoldaten und Negierungsagenten zu¬ gleich —, die am Niger die Autorität des Sultans vertraten, der durch seine geistliche Würde eines „Großscherifs" auch in diesen entfernten Gegenden einen nicht geringen Einfluß ausübte. Damals jedoch schienen diese entlegnen Ge¬ biete des geheimnisvollen Sudans in keinerlei Verbindung mit den algerischen Grenzfragen zu stehn. Grenzverletzungen kamen auf beiden Seiten oft genug vor, und schon von 1847 an reklamierten die Marokkaner nicht ohne Grund gegen französische Übergriffe. Vielfach hat man in Frankreich über das „perfide Albion" geklagt, besonders auch sein Verhalten gegen die indischen Einzelstaaten auf das schärfste ver¬ urteilt. An Unaufrichtigkeit und Gewalttätigkeit steht jedoch die von Frank¬ reich gegen Marokko verfolgte Politik der englischen in Indien und ander¬ wärts gewiß nicht nach. Indem die französischen Zeitungen die Mängel des Vertrags planmäßig übertrieben, erklärten sie sehr bald schon, daß man nicht ruhen dürfe, bis man „wenigstens" die „historischen Grenzen" — Muluja, Udjda, Figig und Gnrara — erlangt habe. Das rechte Ufer der Muluja aber war niemals die Grenze des alten Mauretaniens gewesen, und was Figig betrifft, so erkannte das algerische Generalgouvernement noch 1886 in einem offiziellen Rapport an: „daß die Okkupation dritten gegenüber schwerlich als legitim hingestellt werden könnte". Das unter Caligula dem römischen Staate einverleibte alte Reich Mauretanien umfaßte auch ganz Marokko. Unter Claudius wurde es im Jahre 42 n. Chr. in zwei Provinzen getrennt: Mauritania Caesariensis mit der altphönizischen Seestadt Jot als Hauptstadt — die später Caesarea genannt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/638>, abgerufen am 23.07.2024.