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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

lebhaften Debatten, auch in der "Sozietät", der ersten Gesellschaft der Stadt,
deren Lesezimmer der regelmäßige Sammelplatz gebildeter Männer war. Als
einmal einer der Herren behauptete, Osterreich habe in dem ganzen Konflikt
"moralischer" gehandelt, wurde ihm das von verschiednen Seiten aufs ent¬
schiedenste bestritten. Recht bedenklich war es vollends, daß Theologen innerhalb
und außerhalb der Kirche in dem wohlgemeinten Bemühen, die Ereignisse
"unter christliche Gesichtspunkte zu stellen", nach Theologenunart von ihrer
engen theologisch-moralisierenden Schablone aus ein apodiktisches politisches
Urteil über die jüngste Vergangenheit fällten und dieses subjektive Urteil, das
nur gut und böse kennen wollte, schlechtweg für das christliche hielten,
gewissermaßen dem lieben Gott unterschieben wollten, als ob die göttliche
Weltregierung nicht auch aus diesen Ereignissen deutlich genug gesprochen Hütte.
War nicht auch hier die Weltgeschichte das Weltgericht gewesen, oder soll man
sie nur dann als solches anerkennen, wenn sie mit dem eignen Wuhnen über¬
einstimmt? Erzürnt schrieb ich damals nach einem solchen Erlebnis in mein
Tagebuch: "Die Weltgeschichte ist ein sittlicher Prozeß, aber ihre Tafeln sind
keine Moralfibel für Kinder." Doch die Zahl der unbefangner urteilenden
wurde immerhin größer. Nicht wenig trug zu dieser Wandlung der tiefe
Mißmut darüber bei, daß der Anschluß Sachsens an Österreich das Land der
Invasion schutzlos preisgegeben und die tapfern sächsischen Truppen zu einem
österreichischen Hilfskorps ohne Nutzen für ihr Heimatland gemacht habe. Be¬
sonders unter unserm Landvolk, das damals die Lasten der Wehrpflicht ganz
überwiegend trug, war diese Stimmung um so weiter verbreitet, als von dem
Schicksal der eignen Söhne und Brüder natürlich zunächst gar nichts und auch
später nur Unvollständiges bekannt wurde. "Warum schmeißen denn unsre
Soldaten nicht die Gewehre weg und ergeben sich?" fragte man da wohl
grimmig. Das Urteil des kleinen Bürgerstandes aber faßte in diesen dunkeln
Tagen ein Handwerksmeister in die Worte zusammen: "Preußen muß auf sein
Großmaul (das sich übrigens in den Kriegsdepeschen nicht gezeigt hatte) Kloppe
kriegen, aber Österreich darf nicht siegen." Denn bei den Tausenden von
österreichischen Gefangnen, mit denen man sich meist nicht einmal verständigen
konnte, weil sie überwiegend undeutschen Stämmen angehörten -- die deutsch¬
österreichischen Regimenter hatten in Italien gefochten --war doch immer
wieder das Gefühl durchgebrochen: "Das sind Fremde, die uns im Grunde
nichts angehn", und hatte ein Staat, der so zusammengesetzt war, ein Recht
auf die Führung des deutschen Volks? Auf der andern Seite hatten die end¬
losen preußischen Kolonnen, die ganze imponierend großartige Heeresrüstung
und der ununterbrochne Siegeslauf dieses Heeres einen um so tiefern Eindruck
gemacht, je weniger man das alles erwartet hatte -- was wußte man damals
in Sachsen von Preußen und seiner Armee! --, und mochten sie auch unsre
Gegner sein, niemand konnte doch verkennen, daß sie unsre deutschen Lands¬
leute waren. Ich habe damals versucht, diese Stimmungen in einem Artikel


vor vierzig Jahren

lebhaften Debatten, auch in der „Sozietät", der ersten Gesellschaft der Stadt,
deren Lesezimmer der regelmäßige Sammelplatz gebildeter Männer war. Als
einmal einer der Herren behauptete, Osterreich habe in dem ganzen Konflikt
„moralischer" gehandelt, wurde ihm das von verschiednen Seiten aufs ent¬
schiedenste bestritten. Recht bedenklich war es vollends, daß Theologen innerhalb
und außerhalb der Kirche in dem wohlgemeinten Bemühen, die Ereignisse
„unter christliche Gesichtspunkte zu stellen", nach Theologenunart von ihrer
engen theologisch-moralisierenden Schablone aus ein apodiktisches politisches
Urteil über die jüngste Vergangenheit fällten und dieses subjektive Urteil, das
nur gut und böse kennen wollte, schlechtweg für das christliche hielten,
gewissermaßen dem lieben Gott unterschieben wollten, als ob die göttliche
Weltregierung nicht auch aus diesen Ereignissen deutlich genug gesprochen Hütte.
War nicht auch hier die Weltgeschichte das Weltgericht gewesen, oder soll man
sie nur dann als solches anerkennen, wenn sie mit dem eignen Wuhnen über¬
einstimmt? Erzürnt schrieb ich damals nach einem solchen Erlebnis in mein
Tagebuch: „Die Weltgeschichte ist ein sittlicher Prozeß, aber ihre Tafeln sind
keine Moralfibel für Kinder." Doch die Zahl der unbefangner urteilenden
wurde immerhin größer. Nicht wenig trug zu dieser Wandlung der tiefe
Mißmut darüber bei, daß der Anschluß Sachsens an Österreich das Land der
Invasion schutzlos preisgegeben und die tapfern sächsischen Truppen zu einem
österreichischen Hilfskorps ohne Nutzen für ihr Heimatland gemacht habe. Be¬
sonders unter unserm Landvolk, das damals die Lasten der Wehrpflicht ganz
überwiegend trug, war diese Stimmung um so weiter verbreitet, als von dem
Schicksal der eignen Söhne und Brüder natürlich zunächst gar nichts und auch
später nur Unvollständiges bekannt wurde. „Warum schmeißen denn unsre
Soldaten nicht die Gewehre weg und ergeben sich?" fragte man da wohl
grimmig. Das Urteil des kleinen Bürgerstandes aber faßte in diesen dunkeln
Tagen ein Handwerksmeister in die Worte zusammen: „Preußen muß auf sein
Großmaul (das sich übrigens in den Kriegsdepeschen nicht gezeigt hatte) Kloppe
kriegen, aber Österreich darf nicht siegen." Denn bei den Tausenden von
österreichischen Gefangnen, mit denen man sich meist nicht einmal verständigen
konnte, weil sie überwiegend undeutschen Stämmen angehörten — die deutsch¬
österreichischen Regimenter hatten in Italien gefochten —war doch immer
wieder das Gefühl durchgebrochen: „Das sind Fremde, die uns im Grunde
nichts angehn", und hatte ein Staat, der so zusammengesetzt war, ein Recht
auf die Führung des deutschen Volks? Auf der andern Seite hatten die end¬
losen preußischen Kolonnen, die ganze imponierend großartige Heeresrüstung
und der ununterbrochne Siegeslauf dieses Heeres einen um so tiefern Eindruck
gemacht, je weniger man das alles erwartet hatte — was wußte man damals
in Sachsen von Preußen und seiner Armee! —, und mochten sie auch unsre
Gegner sein, niemand konnte doch verkennen, daß sie unsre deutschen Lands¬
leute waren. Ich habe damals versucht, diese Stimmungen in einem Artikel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/600>, abgerufen am 23.07.2024.