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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

Österreichern aus den Prager Lazaretten, die von ihren Bedeckungsmann¬
schaften. 80 Mann Gardelandwehr, stattlichen Leuten, mit großer Sorgfalt
behandelt und von uns verpflegt wurden, obwohl der kommandierende Leutnant
das anfangs nicht zugeben wollte. Die etwa ankommenden Sachsen wurden
gegen Handschlag in die Heimat oder in Privatpflege entlassen und von uns,
wenn nötig, mit Geld unterstützt. Auch eroberte Geschütze trafen noch ein.
am 16. Juli 15, darunter das einzige sächsische, das bei Königgrätz verloren
worden war, am 19. Juli 17, am 21. 13 mit einigen Pontons und einer Masse
von Gewehren usf.. sodaß wir im ganzen 154 Kanonen vorübergehn sahen,
und noch sollte eine Menge in Tnrnau stehn. Allmählich hörten jedoch die
großen Transporte auf, und vom 16. Juli ab wurde wieder wenigstens ein
regelmüßiger Zug zwischen Reichenberg. Löbau und Görlitz eingerichtet, der
auch "Zivilisten" beförderte; über acht Wochen lang war der gewöhnliche Ver¬
kehr völlig unterbrochen gewesen. Und wie sah es auf dem Bahnhofe aus,
über den vom 25. Juni bis zum 6. September im ganzen 52000 Achsen
zu je 40 Zentnern Belastung gegangen waren! Die Schienen waren so
zerfahren, daß lange Eisenspäne herabhingen, denn sie auszuwechseln war
keine Zeit.

Je augenscheinlicher nun der Krieg nicht nur entschieden war, sondern
auch zu Ende ging, desto drängender trat die Frage an uns heran: Was
wird ans Sachsen? So wenig man eine Annexion wünschte, die Möglichkeit
einer solchen mit ihren einschneidenden Konsequenzen nach der jahrelangen
feindseligen Spannung zwischen Sachsen und Preußen und der Rolle, die
Beust dabei gespielt hatte, lag doch vor. Mein Vater erörterte einmal und
mir, weil das für mich entscheidend werden konnte, in aller Ruhe die Folgen,
die eine Annexion für die höhern Schulen haben könne. Ihr Verhältnis zu
einem Provinzialschulkollegium würde gebundner sein als das jetzige zum
sächsischen Kultusministerium, und die jungen sächsischen Gymnasiallehrer, zu
denen ich demnächst zu gehören hoffte, würden wohl nach den altpreußischen
Provinzen geschickt werden. Andrerseits sei wegen der damit verbundnen
Berechtigungen eine stärkere Frequenz der obern Klassen zu erwarten. Auch
im Schoße des Stadtrats war gelegentlich von diesen Möglichkeiten die Rede,
und dabei war die Äußerung gefallen, wenn etwa die preußische Regierung
der Stadt allein die Unterhaltung des Gymnasiums und der Realschule über¬
weise, dann werde die Stadt die Gehalte herabsetzen müssen. Den Befürchtungen,
die deshalb in seinem Kollegium auftauchten, trat mein Vater mit der Er¬
klärung entgegen, er werde sich gegen eine solche Absicht nicht nur energisch
wehren, sondern er meine auch, die preußische Regierung sei nicht derart, daß
sie einem Magistrat hierin ganz freie Hand lasse, sie pflege ihm vielmehr die
Höhe der Gehalte vorzuschreiben. Wenn man nun auch durchaus keine Annexion
wollte, so war doch der Umschwung der Stimmung zugunsten eines engern
Vundesverhältnisses mit Preußen unverkennbar. Freilich fehlte es nicht an


Grenzboten IV 1906 76
vor vierzig Jahren

Österreichern aus den Prager Lazaretten, die von ihren Bedeckungsmann¬
schaften. 80 Mann Gardelandwehr, stattlichen Leuten, mit großer Sorgfalt
behandelt und von uns verpflegt wurden, obwohl der kommandierende Leutnant
das anfangs nicht zugeben wollte. Die etwa ankommenden Sachsen wurden
gegen Handschlag in die Heimat oder in Privatpflege entlassen und von uns,
wenn nötig, mit Geld unterstützt. Auch eroberte Geschütze trafen noch ein.
am 16. Juli 15, darunter das einzige sächsische, das bei Königgrätz verloren
worden war, am 19. Juli 17, am 21. 13 mit einigen Pontons und einer Masse
von Gewehren usf.. sodaß wir im ganzen 154 Kanonen vorübergehn sahen,
und noch sollte eine Menge in Tnrnau stehn. Allmählich hörten jedoch die
großen Transporte auf, und vom 16. Juli ab wurde wieder wenigstens ein
regelmüßiger Zug zwischen Reichenberg. Löbau und Görlitz eingerichtet, der
auch „Zivilisten" beförderte; über acht Wochen lang war der gewöhnliche Ver¬
kehr völlig unterbrochen gewesen. Und wie sah es auf dem Bahnhofe aus,
über den vom 25. Juni bis zum 6. September im ganzen 52000 Achsen
zu je 40 Zentnern Belastung gegangen waren! Die Schienen waren so
zerfahren, daß lange Eisenspäne herabhingen, denn sie auszuwechseln war
keine Zeit.

Je augenscheinlicher nun der Krieg nicht nur entschieden war, sondern
auch zu Ende ging, desto drängender trat die Frage an uns heran: Was
wird ans Sachsen? So wenig man eine Annexion wünschte, die Möglichkeit
einer solchen mit ihren einschneidenden Konsequenzen nach der jahrelangen
feindseligen Spannung zwischen Sachsen und Preußen und der Rolle, die
Beust dabei gespielt hatte, lag doch vor. Mein Vater erörterte einmal und
mir, weil das für mich entscheidend werden konnte, in aller Ruhe die Folgen,
die eine Annexion für die höhern Schulen haben könne. Ihr Verhältnis zu
einem Provinzialschulkollegium würde gebundner sein als das jetzige zum
sächsischen Kultusministerium, und die jungen sächsischen Gymnasiallehrer, zu
denen ich demnächst zu gehören hoffte, würden wohl nach den altpreußischen
Provinzen geschickt werden. Andrerseits sei wegen der damit verbundnen
Berechtigungen eine stärkere Frequenz der obern Klassen zu erwarten. Auch
im Schoße des Stadtrats war gelegentlich von diesen Möglichkeiten die Rede,
und dabei war die Äußerung gefallen, wenn etwa die preußische Regierung
der Stadt allein die Unterhaltung des Gymnasiums und der Realschule über¬
weise, dann werde die Stadt die Gehalte herabsetzen müssen. Den Befürchtungen,
die deshalb in seinem Kollegium auftauchten, trat mein Vater mit der Er¬
klärung entgegen, er werde sich gegen eine solche Absicht nicht nur energisch
wehren, sondern er meine auch, die preußische Regierung sei nicht derart, daß
sie einem Magistrat hierin ganz freie Hand lasse, sie pflege ihm vielmehr die
Höhe der Gehalte vorzuschreiben. Wenn man nun auch durchaus keine Annexion
wollte, so war doch der Umschwung der Stimmung zugunsten eines engern
Vundesverhältnisses mit Preußen unverkennbar. Freilich fehlte es nicht an


Grenzboten IV 1906 76
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[0599] vor vierzig Jahren Österreichern aus den Prager Lazaretten, die von ihren Bedeckungsmann¬ schaften. 80 Mann Gardelandwehr, stattlichen Leuten, mit großer Sorgfalt behandelt und von uns verpflegt wurden, obwohl der kommandierende Leutnant das anfangs nicht zugeben wollte. Die etwa ankommenden Sachsen wurden gegen Handschlag in die Heimat oder in Privatpflege entlassen und von uns, wenn nötig, mit Geld unterstützt. Auch eroberte Geschütze trafen noch ein. am 16. Juli 15, darunter das einzige sächsische, das bei Königgrätz verloren worden war, am 19. Juli 17, am 21. 13 mit einigen Pontons und einer Masse von Gewehren usf.. sodaß wir im ganzen 154 Kanonen vorübergehn sahen, und noch sollte eine Menge in Tnrnau stehn. Allmählich hörten jedoch die großen Transporte auf, und vom 16. Juli ab wurde wieder wenigstens ein regelmüßiger Zug zwischen Reichenberg. Löbau und Görlitz eingerichtet, der auch „Zivilisten" beförderte; über acht Wochen lang war der gewöhnliche Ver¬ kehr völlig unterbrochen gewesen. Und wie sah es auf dem Bahnhofe aus, über den vom 25. Juni bis zum 6. September im ganzen 52000 Achsen zu je 40 Zentnern Belastung gegangen waren! Die Schienen waren so zerfahren, daß lange Eisenspäne herabhingen, denn sie auszuwechseln war keine Zeit. Je augenscheinlicher nun der Krieg nicht nur entschieden war, sondern auch zu Ende ging, desto drängender trat die Frage an uns heran: Was wird ans Sachsen? So wenig man eine Annexion wünschte, die Möglichkeit einer solchen mit ihren einschneidenden Konsequenzen nach der jahrelangen feindseligen Spannung zwischen Sachsen und Preußen und der Rolle, die Beust dabei gespielt hatte, lag doch vor. Mein Vater erörterte einmal und mir, weil das für mich entscheidend werden konnte, in aller Ruhe die Folgen, die eine Annexion für die höhern Schulen haben könne. Ihr Verhältnis zu einem Provinzialschulkollegium würde gebundner sein als das jetzige zum sächsischen Kultusministerium, und die jungen sächsischen Gymnasiallehrer, zu denen ich demnächst zu gehören hoffte, würden wohl nach den altpreußischen Provinzen geschickt werden. Andrerseits sei wegen der damit verbundnen Berechtigungen eine stärkere Frequenz der obern Klassen zu erwarten. Auch im Schoße des Stadtrats war gelegentlich von diesen Möglichkeiten die Rede, und dabei war die Äußerung gefallen, wenn etwa die preußische Regierung der Stadt allein die Unterhaltung des Gymnasiums und der Realschule über¬ weise, dann werde die Stadt die Gehalte herabsetzen müssen. Den Befürchtungen, die deshalb in seinem Kollegium auftauchten, trat mein Vater mit der Er¬ klärung entgegen, er werde sich gegen eine solche Absicht nicht nur energisch wehren, sondern er meine auch, die preußische Regierung sei nicht derart, daß sie einem Magistrat hierin ganz freie Hand lasse, sie pflege ihm vielmehr die Höhe der Gehalte vorzuschreiben. Wenn man nun auch durchaus keine Annexion wollte, so war doch der Umschwung der Stimmung zugunsten eines engern Vundesverhältnisses mit Preußen unverkennbar. Freilich fehlte es nicht an Grenzboten IV 1906 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/599>, abgerufen am 23.07.2024.