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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

meist in den ersten Morgenstunden, wenn die Straßen noch menschenleer waren,
denn die tiefblassen oder gelben, abgemagerten, verbundnen, zuweilen auch
verstümmelten Leute waren kein Anblick für weiche Gemüter; die Leicht¬
verwundeten gingen weiter, meist bis Dresden, wo das alte noch jetzt stehende
Kadettenhaus in der Neustadt zum Lazarett eingerichtet worden war. Verhältnis¬
mäßig selten waren Hieb- und Stichwunden, dafür heilt ein Bajonettstich etwa
ins Gesicht sehr langsam und schwer; weit überwogen die Schußwuuden, oft nur
Fleischwunden, zuweilen ohne den Knochen zu beschädigen, und wenn sie von
den Zündnadelkugeln herrührten, so war nicht selten das Fleisch glatt durch¬
schlagen. Einem Österreicher war z. B. ein solches Geschoß durch den rechten
Vorderarm, den Oberarm und die Seite gegangen, ohne eine andre Spur
zurückzulassen als sechs gerodete kleine Risse; der Mann hatte lang hingestreckt
im Anschlag gelegen. Einem andern freilich saß die Kugel noch im Knie, als er
ankam; er konnte nur mit Mühe und unterstützt die wenigen Schritte bis zur
Verbaudstation humpeln, wo Strohlager und Matratzen bereit gemacht waren.
Meist recht schlimm waren die von Granatsplittern verursachten schweren Wunden.
Ein Preuße kam mit hochgeschwollner Backe an und behauptete, es sitze da
ein Granatsplitter, was kaum glaublich schien, denn der hätte doch den Kopf
oder mindestens die Kinnlade zerschmettert. Aber es kam wirklich ein finger¬
langes, gekrümmtes Eisenstück heraus, das ihm nnr ein paar Zähne eingeschlagen,
sonst aber keinen Schaden angerichtet hatte. Einem armen Teufel von Öster-
reicher dagegen hatte ein Granatsplitter die halbe Wade weggerissen, sodaß
der Knochen bloßlag; die Wuudrüuder waren schon brandig, und der Mann
hatte den Kinnbackenkrampf, als er herausgehoben wurde, kaum daß er die
Zahne etwas auseinanderbringen konnte. Auch schou amputierte Verwundete
waren darunter; man brachte sie möglichst rasch ans dem Wagen und ins Lazarett.
Die meisten trugen ihr Geschick still und ohne Klage; sie rauchten meist und
unterhielten sich mit den Umstehenden.

Die großen Transporte begannen am 3. Juli. Deshalb erhielt auch der
Bahnhof ein Wachkommando von Landwehrlcuten und einen Kommandanten,
denn nach beiden Richtungen hin war der militärische Verkehr äußerst rege,
der gewöhnliche Verkehr war dagegen immer noch eingestellt. Namentlich
kleinere Abteilungen Verwundeter oder einzelne kamen mit jedem möglichen
Zuge an und waren dann sehr mitteilsam. Ein Schwabe vom 40. (Hohcn-
zollernschen) Füsilierregiment erzählte, sie wären fast eine Woche lang in
kein vernünftiges Quartier gekommen, hätten im Regen biwakiert und wären
nicht trocken geworden. Fleisch hätten sie genug bekommen, aber sehr wenig
Brot. Die Brunnen habe das böhmische Landvolk größtenteils verdorben, nur
Bach- und Pfützenwasser Hütten sie zum Trinken gehabt; um so willkommner
wären ihnen die reichen Biervorräte der Brauereien von Münchengrätz ge¬
wesen. Die Dörfer hätten sie meist verlassen vorgefunden, erst jetzt kämen die
i" törichter Angst geflüchteten Bewohner zurück, und alle Straßen stünden voll


vor vierzig Jahren

meist in den ersten Morgenstunden, wenn die Straßen noch menschenleer waren,
denn die tiefblassen oder gelben, abgemagerten, verbundnen, zuweilen auch
verstümmelten Leute waren kein Anblick für weiche Gemüter; die Leicht¬
verwundeten gingen weiter, meist bis Dresden, wo das alte noch jetzt stehende
Kadettenhaus in der Neustadt zum Lazarett eingerichtet worden war. Verhältnis¬
mäßig selten waren Hieb- und Stichwunden, dafür heilt ein Bajonettstich etwa
ins Gesicht sehr langsam und schwer; weit überwogen die Schußwuuden, oft nur
Fleischwunden, zuweilen ohne den Knochen zu beschädigen, und wenn sie von
den Zündnadelkugeln herrührten, so war nicht selten das Fleisch glatt durch¬
schlagen. Einem Österreicher war z. B. ein solches Geschoß durch den rechten
Vorderarm, den Oberarm und die Seite gegangen, ohne eine andre Spur
zurückzulassen als sechs gerodete kleine Risse; der Mann hatte lang hingestreckt
im Anschlag gelegen. Einem andern freilich saß die Kugel noch im Knie, als er
ankam; er konnte nur mit Mühe und unterstützt die wenigen Schritte bis zur
Verbaudstation humpeln, wo Strohlager und Matratzen bereit gemacht waren.
Meist recht schlimm waren die von Granatsplittern verursachten schweren Wunden.
Ein Preuße kam mit hochgeschwollner Backe an und behauptete, es sitze da
ein Granatsplitter, was kaum glaublich schien, denn der hätte doch den Kopf
oder mindestens die Kinnlade zerschmettert. Aber es kam wirklich ein finger¬
langes, gekrümmtes Eisenstück heraus, das ihm nnr ein paar Zähne eingeschlagen,
sonst aber keinen Schaden angerichtet hatte. Einem armen Teufel von Öster-
reicher dagegen hatte ein Granatsplitter die halbe Wade weggerissen, sodaß
der Knochen bloßlag; die Wuudrüuder waren schon brandig, und der Mann
hatte den Kinnbackenkrampf, als er herausgehoben wurde, kaum daß er die
Zahne etwas auseinanderbringen konnte. Auch schou amputierte Verwundete
waren darunter; man brachte sie möglichst rasch ans dem Wagen und ins Lazarett.
Die meisten trugen ihr Geschick still und ohne Klage; sie rauchten meist und
unterhielten sich mit den Umstehenden.

Die großen Transporte begannen am 3. Juli. Deshalb erhielt auch der
Bahnhof ein Wachkommando von Landwehrlcuten und einen Kommandanten,
denn nach beiden Richtungen hin war der militärische Verkehr äußerst rege,
der gewöhnliche Verkehr war dagegen immer noch eingestellt. Namentlich
kleinere Abteilungen Verwundeter oder einzelne kamen mit jedem möglichen
Zuge an und waren dann sehr mitteilsam. Ein Schwabe vom 40. (Hohcn-
zollernschen) Füsilierregiment erzählte, sie wären fast eine Woche lang in
kein vernünftiges Quartier gekommen, hätten im Regen biwakiert und wären
nicht trocken geworden. Fleisch hätten sie genug bekommen, aber sehr wenig
Brot. Die Brunnen habe das böhmische Landvolk größtenteils verdorben, nur
Bach- und Pfützenwasser Hütten sie zum Trinken gehabt; um so willkommner
wären ihnen die reichen Biervorräte der Brauereien von Münchengrätz ge¬
wesen. Die Dörfer hätten sie meist verlassen vorgefunden, erst jetzt kämen die
i" törichter Angst geflüchteten Bewohner zurück, und alle Straßen stünden voll


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/593>, abgerufen am 23.07.2024.