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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

Nach allen Nachrichten sind die Preußen sehr im Vorteil, und während die
Operationen derselben klaren Zusammenhang zeigen, sieht man auf der andern
Seite nichts von Plan und Sicherheit." Das liebe unverständige Publikum
freilich wollte in allen diesen Kämpfen nur "Vorpostengefechte" sehen, worunter
es offenbar "vorbereitende Kämpfe" verstand, die große Entscheidung stehe noch
aus. Daß es sich aber schon um sehr ernste und blutige Kämpfe handelte,
das wurde bald auch dem hartnäckigsten Verehrer Benedeks klar: die Periode
der großen Verwundeten- und Gefcmgnentransporte begann, und mitten hinein
schmetterte die Kunde von Königgrütz.

Es war eine ganz freiwillige Leistung, wenn die Verpflegungsdeputation
nunmehr ihr Hauptquartier auf dem Bahnhofe aufschlug und ihren Dienst so
ordnete, daß die Mitglieder von zwölf Uhr Mittags bis Mitternacht oder von
Mitternacht bis Mittag anwesend oder wenigstens verfügbar waren. Kam
freilich ein Zug etwa kurz vor Mitternacht an, dann verstand es sich von selbst,
daß auch die, deren Dienstzeit ablief, dablieben und mit arbeiteten, und die
meisten Züge kamen Nachmittags oder Nachts. Wie oft habe ich damals nach
einer zuweilen harten, durchwachten Nacht die Sonne aufgehn sehen! Frei¬
willig lieferte auch die Bürgerschaft, was zur Verpflegung von Hunderten und
Tausenden notwendig war: Brot, Fleisch, Wurst, Speck, Wein, Bier und
Schnaps. War ein Zug telegraphisch von Reichenberg her gemeldet, dann
machte sich alles an die vorbereitende Arbeit, schnitt Brot und belegte es mit
kaltem Fleisch oder Speck, füllte große Körbe oder übernahm den Ausschank
von Getränken. Zuweilen wurde auch in großen Kesseln Rindfleisch mit Neis
gekocht. Dazu wurden den Pflegern die einzelnen Teile des Zuges, so gut
es ging, zugewiesen; auch Damen beteiligten sich dann und wann. Oft ver¬
spätete sich freilich ein Zug, oder er brachte mehr Verwundete und Gefangne
als angemeldet waren, was ziemlich oft vorkam, dann geriet der schönste Ver-
teilnngsplcm in Unordnung, und es konnten nicht alle Insassen befriedigt
werden; zuweilen gingen auch die Vorräte aus. War der Zug eingefahren,
und stand er fest, oft von einem Ende des langen Bahnsteigs bis zum andern,
dann wurden die Wagen, meist Packwagen, zuweilen auch offne Loris, ge¬
öffnet, und wir gingen, zu zwei einen großen Wüschekorb schleppend oder eine
Flasche mit Gläsern tragend, an die Verteilung; die Hände griffen eifrig zu,
und wenn es nicht anders ging, wenn ein Wagen auf der Perronseite nicht
geöffnet werden konnte, so krochen wir nnter den Wagen durch nach der andern
Seite hinüber, und wenn etwa Verwundete nicht aussteigen konnten, so stiegen
wir auch in die Wagen hinein. Ein seltsamer Anblick! Bei schwachem Licht
einer Laterne saßen und lagen die Leute bunt durcheinander, aßen und tranken
und erzählten wohl auch von ihren Erlebnissen; andre waren ausgestiegen und
drängten sich auf dem halbdunkeln Bahnsteig; dazwischen erneuerten Ärzte, wo
es nötig war, die Verbände oder verfügten über die Schwerverwundeten, die
ausgeladen und auf Tragbahren in das große Lazarett verbracht wurden,


vor vierzig Jahren

Nach allen Nachrichten sind die Preußen sehr im Vorteil, und während die
Operationen derselben klaren Zusammenhang zeigen, sieht man auf der andern
Seite nichts von Plan und Sicherheit." Das liebe unverständige Publikum
freilich wollte in allen diesen Kämpfen nur „Vorpostengefechte" sehen, worunter
es offenbar „vorbereitende Kämpfe" verstand, die große Entscheidung stehe noch
aus. Daß es sich aber schon um sehr ernste und blutige Kämpfe handelte,
das wurde bald auch dem hartnäckigsten Verehrer Benedeks klar: die Periode
der großen Verwundeten- und Gefcmgnentransporte begann, und mitten hinein
schmetterte die Kunde von Königgrütz.

Es war eine ganz freiwillige Leistung, wenn die Verpflegungsdeputation
nunmehr ihr Hauptquartier auf dem Bahnhofe aufschlug und ihren Dienst so
ordnete, daß die Mitglieder von zwölf Uhr Mittags bis Mitternacht oder von
Mitternacht bis Mittag anwesend oder wenigstens verfügbar waren. Kam
freilich ein Zug etwa kurz vor Mitternacht an, dann verstand es sich von selbst,
daß auch die, deren Dienstzeit ablief, dablieben und mit arbeiteten, und die
meisten Züge kamen Nachmittags oder Nachts. Wie oft habe ich damals nach
einer zuweilen harten, durchwachten Nacht die Sonne aufgehn sehen! Frei¬
willig lieferte auch die Bürgerschaft, was zur Verpflegung von Hunderten und
Tausenden notwendig war: Brot, Fleisch, Wurst, Speck, Wein, Bier und
Schnaps. War ein Zug telegraphisch von Reichenberg her gemeldet, dann
machte sich alles an die vorbereitende Arbeit, schnitt Brot und belegte es mit
kaltem Fleisch oder Speck, füllte große Körbe oder übernahm den Ausschank
von Getränken. Zuweilen wurde auch in großen Kesseln Rindfleisch mit Neis
gekocht. Dazu wurden den Pflegern die einzelnen Teile des Zuges, so gut
es ging, zugewiesen; auch Damen beteiligten sich dann und wann. Oft ver¬
spätete sich freilich ein Zug, oder er brachte mehr Verwundete und Gefangne
als angemeldet waren, was ziemlich oft vorkam, dann geriet der schönste Ver-
teilnngsplcm in Unordnung, und es konnten nicht alle Insassen befriedigt
werden; zuweilen gingen auch die Vorräte aus. War der Zug eingefahren,
und stand er fest, oft von einem Ende des langen Bahnsteigs bis zum andern,
dann wurden die Wagen, meist Packwagen, zuweilen auch offne Loris, ge¬
öffnet, und wir gingen, zu zwei einen großen Wüschekorb schleppend oder eine
Flasche mit Gläsern tragend, an die Verteilung; die Hände griffen eifrig zu,
und wenn es nicht anders ging, wenn ein Wagen auf der Perronseite nicht
geöffnet werden konnte, so krochen wir nnter den Wagen durch nach der andern
Seite hinüber, und wenn etwa Verwundete nicht aussteigen konnten, so stiegen
wir auch in die Wagen hinein. Ein seltsamer Anblick! Bei schwachem Licht
einer Laterne saßen und lagen die Leute bunt durcheinander, aßen und tranken
und erzählten wohl auch von ihren Erlebnissen; andre waren ausgestiegen und
drängten sich auf dem halbdunkeln Bahnsteig; dazwischen erneuerten Ärzte, wo
es nötig war, die Verbände oder verfügten über die Schwerverwundeten, die
ausgeladen und auf Tragbahren in das große Lazarett verbracht wurden,


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[0592] vor vierzig Jahren Nach allen Nachrichten sind die Preußen sehr im Vorteil, und während die Operationen derselben klaren Zusammenhang zeigen, sieht man auf der andern Seite nichts von Plan und Sicherheit." Das liebe unverständige Publikum freilich wollte in allen diesen Kämpfen nur „Vorpostengefechte" sehen, worunter es offenbar „vorbereitende Kämpfe" verstand, die große Entscheidung stehe noch aus. Daß es sich aber schon um sehr ernste und blutige Kämpfe handelte, das wurde bald auch dem hartnäckigsten Verehrer Benedeks klar: die Periode der großen Verwundeten- und Gefcmgnentransporte begann, und mitten hinein schmetterte die Kunde von Königgrütz. Es war eine ganz freiwillige Leistung, wenn die Verpflegungsdeputation nunmehr ihr Hauptquartier auf dem Bahnhofe aufschlug und ihren Dienst so ordnete, daß die Mitglieder von zwölf Uhr Mittags bis Mitternacht oder von Mitternacht bis Mittag anwesend oder wenigstens verfügbar waren. Kam freilich ein Zug etwa kurz vor Mitternacht an, dann verstand es sich von selbst, daß auch die, deren Dienstzeit ablief, dablieben und mit arbeiteten, und die meisten Züge kamen Nachmittags oder Nachts. Wie oft habe ich damals nach einer zuweilen harten, durchwachten Nacht die Sonne aufgehn sehen! Frei¬ willig lieferte auch die Bürgerschaft, was zur Verpflegung von Hunderten und Tausenden notwendig war: Brot, Fleisch, Wurst, Speck, Wein, Bier und Schnaps. War ein Zug telegraphisch von Reichenberg her gemeldet, dann machte sich alles an die vorbereitende Arbeit, schnitt Brot und belegte es mit kaltem Fleisch oder Speck, füllte große Körbe oder übernahm den Ausschank von Getränken. Zuweilen wurde auch in großen Kesseln Rindfleisch mit Neis gekocht. Dazu wurden den Pflegern die einzelnen Teile des Zuges, so gut es ging, zugewiesen; auch Damen beteiligten sich dann und wann. Oft ver¬ spätete sich freilich ein Zug, oder er brachte mehr Verwundete und Gefangne als angemeldet waren, was ziemlich oft vorkam, dann geriet der schönste Ver- teilnngsplcm in Unordnung, und es konnten nicht alle Insassen befriedigt werden; zuweilen gingen auch die Vorräte aus. War der Zug eingefahren, und stand er fest, oft von einem Ende des langen Bahnsteigs bis zum andern, dann wurden die Wagen, meist Packwagen, zuweilen auch offne Loris, ge¬ öffnet, und wir gingen, zu zwei einen großen Wüschekorb schleppend oder eine Flasche mit Gläsern tragend, an die Verteilung; die Hände griffen eifrig zu, und wenn es nicht anders ging, wenn ein Wagen auf der Perronseite nicht geöffnet werden konnte, so krochen wir nnter den Wagen durch nach der andern Seite hinüber, und wenn etwa Verwundete nicht aussteigen konnten, so stiegen wir auch in die Wagen hinein. Ein seltsamer Anblick! Bei schwachem Licht einer Laterne saßen und lagen die Leute bunt durcheinander, aßen und tranken und erzählten wohl auch von ihren Erlebnissen; andre waren ausgestiegen und drängten sich auf dem halbdunkeln Bahnsteig; dazwischen erneuerten Ärzte, wo es nötig war, die Verbände oder verfügten über die Schwerverwundeten, die ausgeladen und auf Tragbahren in das große Lazarett verbracht wurden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/592>, abgerufen am 23.07.2024.