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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Zeit der "Herbstzeitlosen"

nicht einmal die einfache Mehrheit im Abgeordnetenhause hatten. Die Folgen
dieses in doppelter Richtung gänzlich verfehlten Vorgehens traten erst nach
der Okkupation von Bosnien mit der Wirkung einer politischen Katastrophe
zutage, aber Anzeichen einer Krise waren schon seit Jahren zu bemerken ge¬
wesen, von den doktrinären Führern aber nicht als Schwäche der Stellung
der Dentschlibcralen, sondern als Schwäche des Ministeriums gedeutet worden,
das man nach französischem Muster anfeindete, um es zu stürzen. Es bestand
ja nicht gerade aus besondern politischen Kapazitäten, aber seine Mitglieder
gehörten doch der deutschen Verfassungspartei an; Fürst Adolf Auersperg, an
sich durchaus kein Staatsmann, war ein überzeugter Anhänger des zen-
tralistischen Programms der Deutschliberalen und vor allem ein führendes
Mitglied des höchsten österreichischen Adels, ohne dessen Unterstützung noch
heute kein österreichisches Ministerium Dauer verspricht. Die eigentliche
Führung im Kabinett hatte der Minister des Innern, Freiherr von Lasser,
einer der tüchtigsten Männer aller Zeiten aus der höhern österreichischen
Veamtenhierarchic, aber gerade darum den waschecht doktrinär gefärbten Liberalen
verdächtig. Die übrigen Minister waren allerdings so, daß sich viele in der
Verfassungspartei berufen fühlen durften, die frei werdenden Portefeuilles
übernehmen zu können. Der zersetzende Ton der maßgebenden hauptstädtischen
Presse und das Beispiel des anerkannten Führers der Partei, Herbst, der
seinen Ruhm freilich nur in einer rein kritischen und negativen Tätigkeit suchte,
waren leider nicht geeignet, den Ton der Mäßigung in der Partei zu fördern.
Aus allem ergab sich, daß man fast in jeder einzelnen Frage einen gereizten
Kampf mit dem eignen Ministerium führte und es vor aller Welt herabzu¬
setzen suchte, sodaß auf jedem Blatte der Geschichte dieses letzten deutschöster¬
reichischen Ministeriums, wenn sie je geschrieben würde, zu lesen sein müßte,
daß die "Herbstzeitlosen nie etwas zur rechten Zeit getan", und daß es tat¬
sächlich die Folgen des sich gegenseitig Übcrbictcnwollens gewesen sind, die
die Deutschliberalen samt dem von ihnen unmöglich gemachten deutschliberalen
Ministerium um die leitende Stellung in Österreich gebracht haben.

Die Partei hat jahrzehntelang sorgfältig darüber gewacht, daß über die
damaligen Fehler, Manieren und Terrorisierungskunststücke der Führer nichts
verlaute. Darum ist den Deutschösterreichcrn ihre innere Geschichte seit 1859
gänzlich unbekannt geblieben, und deshalb fehlt ihnen die klare Kritik der
Gegenwart und die Befähigung zum eignen Urteil. Die deutschliberale Partei
hatte allerdings kein Interesse daran, dem Volke eine genaue Kenntnis über
die Zeit, wo sie selbst Geschichte gemacht hatte, zu vermitteln, und es war
ihr darum in hohem Maße unangenehm, daß Fürst Bismarck mit einem kurzen
energischen Griff den Schleier ein wenig hob. Seit der Zeit ist von andrer
Seite wenig geschehen, über jene dunkeln Kapitel der parlamentarischen Ge¬
schichte Licht zu verbreiten. Auch hier soll nicht der Versuch gemacht werden,
in ausführlicherer Darstellung der Taten und Unterlassungen des deutsch-


Aus der Zeit der „Herbstzeitlosen"

nicht einmal die einfache Mehrheit im Abgeordnetenhause hatten. Die Folgen
dieses in doppelter Richtung gänzlich verfehlten Vorgehens traten erst nach
der Okkupation von Bosnien mit der Wirkung einer politischen Katastrophe
zutage, aber Anzeichen einer Krise waren schon seit Jahren zu bemerken ge¬
wesen, von den doktrinären Führern aber nicht als Schwäche der Stellung
der Dentschlibcralen, sondern als Schwäche des Ministeriums gedeutet worden,
das man nach französischem Muster anfeindete, um es zu stürzen. Es bestand
ja nicht gerade aus besondern politischen Kapazitäten, aber seine Mitglieder
gehörten doch der deutschen Verfassungspartei an; Fürst Adolf Auersperg, an
sich durchaus kein Staatsmann, war ein überzeugter Anhänger des zen-
tralistischen Programms der Deutschliberalen und vor allem ein führendes
Mitglied des höchsten österreichischen Adels, ohne dessen Unterstützung noch
heute kein österreichisches Ministerium Dauer verspricht. Die eigentliche
Führung im Kabinett hatte der Minister des Innern, Freiherr von Lasser,
einer der tüchtigsten Männer aller Zeiten aus der höhern österreichischen
Veamtenhierarchic, aber gerade darum den waschecht doktrinär gefärbten Liberalen
verdächtig. Die übrigen Minister waren allerdings so, daß sich viele in der
Verfassungspartei berufen fühlen durften, die frei werdenden Portefeuilles
übernehmen zu können. Der zersetzende Ton der maßgebenden hauptstädtischen
Presse und das Beispiel des anerkannten Führers der Partei, Herbst, der
seinen Ruhm freilich nur in einer rein kritischen und negativen Tätigkeit suchte,
waren leider nicht geeignet, den Ton der Mäßigung in der Partei zu fördern.
Aus allem ergab sich, daß man fast in jeder einzelnen Frage einen gereizten
Kampf mit dem eignen Ministerium führte und es vor aller Welt herabzu¬
setzen suchte, sodaß auf jedem Blatte der Geschichte dieses letzten deutschöster¬
reichischen Ministeriums, wenn sie je geschrieben würde, zu lesen sein müßte,
daß die „Herbstzeitlosen nie etwas zur rechten Zeit getan", und daß es tat¬
sächlich die Folgen des sich gegenseitig Übcrbictcnwollens gewesen sind, die
die Deutschliberalen samt dem von ihnen unmöglich gemachten deutschliberalen
Ministerium um die leitende Stellung in Österreich gebracht haben.

Die Partei hat jahrzehntelang sorgfältig darüber gewacht, daß über die
damaligen Fehler, Manieren und Terrorisierungskunststücke der Führer nichts
verlaute. Darum ist den Deutschösterreichcrn ihre innere Geschichte seit 1859
gänzlich unbekannt geblieben, und deshalb fehlt ihnen die klare Kritik der
Gegenwart und die Befähigung zum eignen Urteil. Die deutschliberale Partei
hatte allerdings kein Interesse daran, dem Volke eine genaue Kenntnis über
die Zeit, wo sie selbst Geschichte gemacht hatte, zu vermitteln, und es war
ihr darum in hohem Maße unangenehm, daß Fürst Bismarck mit einem kurzen
energischen Griff den Schleier ein wenig hob. Seit der Zeit ist von andrer
Seite wenig geschehen, über jene dunkeln Kapitel der parlamentarischen Ge¬
schichte Licht zu verbreiten. Auch hier soll nicht der Versuch gemacht werden,
in ausführlicherer Darstellung der Taten und Unterlassungen des deutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/577>, abgerufen am 23.07.2024.