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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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nehmen, wohin eine Parteitaktik führt, in der jeder Führer von morgen den
Führer von heute überbietet, nachdem der Führer von heute den Führer von
gestern durch Übergebot schon ruiniert hat."

Diese charakteristische Äußerung stieß auf lebhaften Widerspruch in den
liberalen Blättern, denn sie zerstörte eine mit bewußter Absicht geschaffne und
sorgsam gepflegte Illusion der öffentlichen Meinung. Bismarck mußte sich
sogar deswegen der Schädigung der deutschen Sache zeihen lassen, er, der für
die Wiederherstellung des deutschen Namens allein mehr getan hat als ganze
Generationen seiner Stammesgenossen. Weil aber die österreichische Ver¬
fassungspartei, von der Bismarck dabei sprach, eine deutsche und zugleich eine
liberale war, und weil der übliche Zeitungsleser in Deutschland sein Urteil
über das deutsch-österreichische Bündnis nur nach seinen Sympathien für die
Deutschösterreicher zu richten pflegt, so fand diese Beschuldigung Bismarcks
sogar in Deutschland in weiten Kreisen Zustimmung, die deutschösterreichischen
Blätter, die ja fast ausschließlich der Parole der Wiener deutschliberalen Presse
folgen, waren einstimmig in seiner Verurteilung. Und Bismarck hatte doch
nur die Wahrheit und nichts andres gesagt, als was man in Wien in den
eingeweihten und selbständig urteilenden Kreisen längst wußte, was sogar seit
Jahren das angesehenste Witzblatt, der Figaro, ausgesprochen hatte, der
immer die Verfassungspartei als "Verpassungspartei" bezeichnete. Das zu
verhüllen, den aus innern Gründen mit Notwendigkeit hervorgegangnen Zu¬
sammenbruch der Herrschaft der Verfassungspartei als einen politischen Zufall
hinzustellen, dem binnen kurzem die Wiederherstellung des deutschliberalen
Regimes folgen müsse, das war seit drei Jahren das unermüdliche Bestreben
der Wiener Presse gewesen, sie hatte in diesem Sinne die öffentliche Meinung
in Österreich bearbeitet und auch in Deutschland allgemein Glauben gefunden.
Für diese Mache war es eine bittere Enttäuschung, daß jetzt von einer Seite,
deren politische Autorität gar nicht anzuzweifeln war, die Aussichtslosigkeit
der Lage der deutschösterreichischen Liberalen und ihre wahre Ursache in kurzen
Worten aber mit überzeugender Klarheit hingestellt wurde. Es war freilich
kein Wunder, daß man von jener Seite diese Offenheit als Verrat an der
deutschen Sache ausgeben wollte. Fürst Bismarck hatte jedoch kein Interesse
daran, eine Täuschung bestehn zu lassen, die den Dcutschösterreichern nichts
helfen konnte, aber geeignet war, sogar in Deutschland Verwirrung anzurichten.

Die Geschichte der politischen Irrungen, durch die die "Herbstzeitlosen",
nachdem die deutschösterreichischen Liberalen doch schon zweimal das Staats-
ruder wieder hatten aus der Hand geben müssen, zum dritten und letzten male
die Gunst des Geschicks verscherzten, ist nie geschrieben worden, und im
einzelnen ist die Welt nicht klar darüber, warum Ende der siebziger Jahre
der Fortbestand der einzigen, unter den gegebnen Verhältnissen möglichen
deutschösterreichischen Parteiregierung moralisch unmöglich geworden war. Es
ist darum gut, daß wenigstens ein Zeugnis Bismarcks dafür vorliegt, daß die


nehmen, wohin eine Parteitaktik führt, in der jeder Führer von morgen den
Führer von heute überbietet, nachdem der Führer von heute den Führer von
gestern durch Übergebot schon ruiniert hat."

Diese charakteristische Äußerung stieß auf lebhaften Widerspruch in den
liberalen Blättern, denn sie zerstörte eine mit bewußter Absicht geschaffne und
sorgsam gepflegte Illusion der öffentlichen Meinung. Bismarck mußte sich
sogar deswegen der Schädigung der deutschen Sache zeihen lassen, er, der für
die Wiederherstellung des deutschen Namens allein mehr getan hat als ganze
Generationen seiner Stammesgenossen. Weil aber die österreichische Ver¬
fassungspartei, von der Bismarck dabei sprach, eine deutsche und zugleich eine
liberale war, und weil der übliche Zeitungsleser in Deutschland sein Urteil
über das deutsch-österreichische Bündnis nur nach seinen Sympathien für die
Deutschösterreicher zu richten pflegt, so fand diese Beschuldigung Bismarcks
sogar in Deutschland in weiten Kreisen Zustimmung, die deutschösterreichischen
Blätter, die ja fast ausschließlich der Parole der Wiener deutschliberalen Presse
folgen, waren einstimmig in seiner Verurteilung. Und Bismarck hatte doch
nur die Wahrheit und nichts andres gesagt, als was man in Wien in den
eingeweihten und selbständig urteilenden Kreisen längst wußte, was sogar seit
Jahren das angesehenste Witzblatt, der Figaro, ausgesprochen hatte, der
immer die Verfassungspartei als „Verpassungspartei" bezeichnete. Das zu
verhüllen, den aus innern Gründen mit Notwendigkeit hervorgegangnen Zu¬
sammenbruch der Herrschaft der Verfassungspartei als einen politischen Zufall
hinzustellen, dem binnen kurzem die Wiederherstellung des deutschliberalen
Regimes folgen müsse, das war seit drei Jahren das unermüdliche Bestreben
der Wiener Presse gewesen, sie hatte in diesem Sinne die öffentliche Meinung
in Österreich bearbeitet und auch in Deutschland allgemein Glauben gefunden.
Für diese Mache war es eine bittere Enttäuschung, daß jetzt von einer Seite,
deren politische Autorität gar nicht anzuzweifeln war, die Aussichtslosigkeit
der Lage der deutschösterreichischen Liberalen und ihre wahre Ursache in kurzen
Worten aber mit überzeugender Klarheit hingestellt wurde. Es war freilich
kein Wunder, daß man von jener Seite diese Offenheit als Verrat an der
deutschen Sache ausgeben wollte. Fürst Bismarck hatte jedoch kein Interesse
daran, eine Täuschung bestehn zu lassen, die den Dcutschösterreichern nichts
helfen konnte, aber geeignet war, sogar in Deutschland Verwirrung anzurichten.

Die Geschichte der politischen Irrungen, durch die die „Herbstzeitlosen",
nachdem die deutschösterreichischen Liberalen doch schon zweimal das Staats-
ruder wieder hatten aus der Hand geben müssen, zum dritten und letzten male
die Gunst des Geschicks verscherzten, ist nie geschrieben worden, und im
einzelnen ist die Welt nicht klar darüber, warum Ende der siebziger Jahre
der Fortbestand der einzigen, unter den gegebnen Verhältnissen möglichen
deutschösterreichischen Parteiregierung moralisch unmöglich geworden war. Es
ist darum gut, daß wenigstens ein Zeugnis Bismarcks dafür vorliegt, daß die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/574>, abgerufen am 25.08.2024.