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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Titerarische Rundschau

was man ihr und sie sich angetan hat, und sie wird noch um einen Grad
innerer Vorbereitung reicher in das neue Leben hitteinschreiten. Was in "Ursula"
besonders köstlich geworden ist, sind die Naturschilderungen. Schöner hat kaum
je ein deutscher Novellist den Wald geschildert, weil kaum einer ihn inniger in
sich aufgenommen hat. "Hier und da ragte aus dem in grünen Wellen auf¬
schwellende:! Meer des sanft rauschenden Waldes ein einzelner Baum hervor,
der dann in vollem Licht schimmerte, oder die Bäume standen verstreut über
eine Hochfläche hin und bauten mit ihren überhängenden Ästen Fenster und
Tore, hinter denen eine neue beglänzte Ferne aufging." Das ist eine von
vielen Stellen, eine jener Stellen zugleich, an denen ich im Gegensatz zu dem
oben Gesagten geneigt wäre, ein Mehr zu konstatieren gegenüber den "Zwei
Seelen". Die Natur spielte auch da mit, aber hier, in "Ursula" wird sie
geradezu zum mitatmenden Wesen. Alle Entscheidungen, jedes letzte Wort fallen
draußen unter Gottes Himmel, und ohne daß je eine Silbe zuviel gesagt würde,
erleben wir das Pochen und Wirken der Naturkräfte bis zur Erschütterung
innerlich mit. Speck gehört nicht zu den raschen Arbeitern, die jährlich ihr
Buch hinauswerfen. "Was wird, wird still" -- er weiß es am besten, und
wir, die wir dieser Weisheit Früchte dankbar genießen, warten nun mit Freuden
seinem nächsten Werk entgegen-

Zum Schluß muß ich noch einmal nach Schleswig-Holstein zurückwandern.
Zwei eben erst ihrer Kraft sich bewußt gewordne Talente, Dora und Claudine
Staack, treten, eingeführt von Timm Kröger, zum erstenmal vor das deutsche
Publikum, beide mit Prosaskizzen. Das Buch von Dora Staack heißt "Gewitter"
(Glückstadt, Max Hansen) und gibt eine Reihe von Katastrophen, bei denen
oft ein seelischer Umschwung oder Ausklang mit einer Erschütterung der Natur
parallel geht. Ohne Gewaltsamkeit, mit natürlicher Echtheit ist das fast überall
gelungen. Menschen sprechen immer wieder zu uns, wirkliche Menschen. Und
ganz dasselbe gilt von dem warmen und lebensvollen Ton, in dem Claudine
Staack ihre "Melodien der Liebe" (ebenda) klingen läßt. Vielleicht ist hier die
Sprache nicht überall gleichmäßig durchgearbeitet -- der Ausdruck der direkten
Rede wird Claudine Staack anscheinend schwerer als der Schwester. Sie geht
auch nicht so sehr aufs konkrete Erzählen aus, sondern möchte darüber hinaus
etwas Allgemeingiltiges sagen, das wenigstens angedeutet wird. Jedenfalls be¬
weisen beide, was freilich -- ich sagte es ja schon -- heute nicht mehr bewiesen
zu werden braucht, daß nämlich das Wort: IÄ8M nein <zautiwt> in hohem Alter
s Heinrich Spie ro anft entschlafen ist.




Titerarische Rundschau

was man ihr und sie sich angetan hat, und sie wird noch um einen Grad
innerer Vorbereitung reicher in das neue Leben hitteinschreiten. Was in „Ursula"
besonders köstlich geworden ist, sind die Naturschilderungen. Schöner hat kaum
je ein deutscher Novellist den Wald geschildert, weil kaum einer ihn inniger in
sich aufgenommen hat. „Hier und da ragte aus dem in grünen Wellen auf¬
schwellende:! Meer des sanft rauschenden Waldes ein einzelner Baum hervor,
der dann in vollem Licht schimmerte, oder die Bäume standen verstreut über
eine Hochfläche hin und bauten mit ihren überhängenden Ästen Fenster und
Tore, hinter denen eine neue beglänzte Ferne aufging." Das ist eine von
vielen Stellen, eine jener Stellen zugleich, an denen ich im Gegensatz zu dem
oben Gesagten geneigt wäre, ein Mehr zu konstatieren gegenüber den „Zwei
Seelen". Die Natur spielte auch da mit, aber hier, in „Ursula" wird sie
geradezu zum mitatmenden Wesen. Alle Entscheidungen, jedes letzte Wort fallen
draußen unter Gottes Himmel, und ohne daß je eine Silbe zuviel gesagt würde,
erleben wir das Pochen und Wirken der Naturkräfte bis zur Erschütterung
innerlich mit. Speck gehört nicht zu den raschen Arbeitern, die jährlich ihr
Buch hinauswerfen. „Was wird, wird still" — er weiß es am besten, und
wir, die wir dieser Weisheit Früchte dankbar genießen, warten nun mit Freuden
seinem nächsten Werk entgegen-

Zum Schluß muß ich noch einmal nach Schleswig-Holstein zurückwandern.
Zwei eben erst ihrer Kraft sich bewußt gewordne Talente, Dora und Claudine
Staack, treten, eingeführt von Timm Kröger, zum erstenmal vor das deutsche
Publikum, beide mit Prosaskizzen. Das Buch von Dora Staack heißt „Gewitter"
(Glückstadt, Max Hansen) und gibt eine Reihe von Katastrophen, bei denen
oft ein seelischer Umschwung oder Ausklang mit einer Erschütterung der Natur
parallel geht. Ohne Gewaltsamkeit, mit natürlicher Echtheit ist das fast überall
gelungen. Menschen sprechen immer wieder zu uns, wirkliche Menschen. Und
ganz dasselbe gilt von dem warmen und lebensvollen Ton, in dem Claudine
Staack ihre „Melodien der Liebe" (ebenda) klingen läßt. Vielleicht ist hier die
Sprache nicht überall gleichmäßig durchgearbeitet — der Ausdruck der direkten
Rede wird Claudine Staack anscheinend schwerer als der Schwester. Sie geht
auch nicht so sehr aufs konkrete Erzählen aus, sondern möchte darüber hinaus
etwas Allgemeingiltiges sagen, das wenigstens angedeutet wird. Jedenfalls be¬
weisen beide, was freilich — ich sagte es ja schon — heute nicht mehr bewiesen
zu werden braucht, daß nämlich das Wort: IÄ8M nein <zautiwt> in hohem Alter
s Heinrich Spie ro anft entschlafen ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/550>, abgerufen am 23.07.2024.