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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Landnot der Bauern nicht ausreichen würden, soll für Rechnung des Staates
solches Land von den Großgrundbesitzern angekauft werden, das diese freiwillig
zur Verfügung stellen. 2. Das für Rechnung des Staates angekaufte Land
soll den bedürftigen Bauern zu einem für sie erschwingbaren Preise derart zur
Verfügung gestellt werden, daß die etwa eintretende Differenz zwischen Ankaufs-
uud Verkaufspreis aus allgemeinen Staatsmitteln gedeckt wird. Ferner ver¬
spricht die Regierung, die Lage des bedürftigsten Teils der Bauern sofort durch
Einsetzung besondrer Kommissionen zu verbessern. Die Kommissionen sollen aus
der örtlichen Bevölkerung unter Hinzuziehung von gewählten Vertretern der
Vauerschaft gebildet werden. Dann geht die Negierung auf den Agrarreform-
entwnrf der Linken ein und erklärt der Bevölkerung, daß sich die Duma mit
diesem Entwurf auf falschem Wege befinde; denn von einer erzwungnen Ent¬
eignung des Gutslcmdcs zugunsten der Bauern könne nie und nimmer die
Rede sein.

Diese NegiernngserMrung wurde in mehreren hunderttausend Exemplaren
gedruckt und in die Provinz geschickt. Die Duma fühlte sich durch die in der
Erklärung enthaltne Kritik in' ihren Rechten verletzt, und die Linke fürchtete in
den Augen des Volks an Ansehen zu verlieren. Um dieses wiederherzustellen,
brachte Kusmin-Karawajew am 26. Juni im Verlauf einer Jnterpellatwns-
debatte den Antrag ein. die Duma solle sich ebenfalls mit einer Erklärung zur
Agrarfrage an das Volk wenden. Die Revolutionäre nahmen den Gedanken
mit Beifall auf und strebten danach, einen derart abgefaßten Aufruf zu fertigen,
der nach ihrer Berechnung einen Aufstand zur Folge haben mußte. Die Polen
und die Rechte erklärten sich überhaupt gegen einen Aufruf, und der ganze Vor¬
schlag wäre ins Wasser gefallen, wenn nicht die Kadetten in einer Fraktions¬
sitzung einen Ausweg gefunden hätten. Unter Hinweis auf die in Frankreich
angenommne Gepflogenheit, besonders wichtige Reden. Beschlüsse und Willens¬
äußerungen der Kammer im Lande durch Anschlag zu verbreiten, wurde zu¬
nächst in die Instruktion der Duma eine entsprechende Anmerkung eingefugt.
Ob die Duma zu einem solchen Schritt berechtigt war. ist eine offne Frage ge¬
geben, bis der Monarch ihr die Berechtigung abgesprochen hatte. Dennoch
muß zugegeben werden, daß im Gesetz ein Loch vorhanden war durch das ge¬
schickte Juristen wohl hindurchschlüpfen konnten. Nachdem sich dergestalt d e
Duma das Recht gegeben hatte, sich direkt und ohne Vermittlung der Exekutiv¬
gewalt an das Land zu wenden, votierte sie mit 124 gegen 53 Stimmen am
6- Juli nachstehenden Appell an das Volk:

, Am 20. Juni veröffentlichte das Ministerium eine Regierungsmitteilung, in
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Grenzboten IV 1906
Russische Briefe

Landnot der Bauern nicht ausreichen würden, soll für Rechnung des Staates
solches Land von den Großgrundbesitzern angekauft werden, das diese freiwillig
zur Verfügung stellen. 2. Das für Rechnung des Staates angekaufte Land
soll den bedürftigen Bauern zu einem für sie erschwingbaren Preise derart zur
Verfügung gestellt werden, daß die etwa eintretende Differenz zwischen Ankaufs-
uud Verkaufspreis aus allgemeinen Staatsmitteln gedeckt wird. Ferner ver¬
spricht die Regierung, die Lage des bedürftigsten Teils der Bauern sofort durch
Einsetzung besondrer Kommissionen zu verbessern. Die Kommissionen sollen aus
der örtlichen Bevölkerung unter Hinzuziehung von gewählten Vertretern der
Vauerschaft gebildet werden. Dann geht die Negierung auf den Agrarreform-
entwnrf der Linken ein und erklärt der Bevölkerung, daß sich die Duma mit
diesem Entwurf auf falschem Wege befinde; denn von einer erzwungnen Ent¬
eignung des Gutslcmdcs zugunsten der Bauern könne nie und nimmer die
Rede sein.

Diese NegiernngserMrung wurde in mehreren hunderttausend Exemplaren
gedruckt und in die Provinz geschickt. Die Duma fühlte sich durch die in der
Erklärung enthaltne Kritik in' ihren Rechten verletzt, und die Linke fürchtete in
den Augen des Volks an Ansehen zu verlieren. Um dieses wiederherzustellen,
brachte Kusmin-Karawajew am 26. Juni im Verlauf einer Jnterpellatwns-
debatte den Antrag ein. die Duma solle sich ebenfalls mit einer Erklärung zur
Agrarfrage an das Volk wenden. Die Revolutionäre nahmen den Gedanken
mit Beifall auf und strebten danach, einen derart abgefaßten Aufruf zu fertigen,
der nach ihrer Berechnung einen Aufstand zur Folge haben mußte. Die Polen
und die Rechte erklärten sich überhaupt gegen einen Aufruf, und der ganze Vor¬
schlag wäre ins Wasser gefallen, wenn nicht die Kadetten in einer Fraktions¬
sitzung einen Ausweg gefunden hätten. Unter Hinweis auf die in Frankreich
angenommne Gepflogenheit, besonders wichtige Reden. Beschlüsse und Willens¬
äußerungen der Kammer im Lande durch Anschlag zu verbreiten, wurde zu¬
nächst in die Instruktion der Duma eine entsprechende Anmerkung eingefugt.
Ob die Duma zu einem solchen Schritt berechtigt war. ist eine offne Frage ge¬
geben, bis der Monarch ihr die Berechtigung abgesprochen hatte. Dennoch
muß zugegeben werden, daß im Gesetz ein Loch vorhanden war durch das ge¬
schickte Juristen wohl hindurchschlüpfen konnten. Nachdem sich dergestalt d e
Duma das Recht gegeben hatte, sich direkt und ohne Vermittlung der Exekutiv¬
gewalt an das Land zu wenden, votierte sie mit 124 gegen 53 Stimmen am
6- Juli nachstehenden Appell an das Volk:

, Am 20. Juni veröffentlichte das Ministerium eine Regierungsmitteilung, in
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[0525] Russische Briefe Landnot der Bauern nicht ausreichen würden, soll für Rechnung des Staates solches Land von den Großgrundbesitzern angekauft werden, das diese freiwillig zur Verfügung stellen. 2. Das für Rechnung des Staates angekaufte Land soll den bedürftigen Bauern zu einem für sie erschwingbaren Preise derart zur Verfügung gestellt werden, daß die etwa eintretende Differenz zwischen Ankaufs- uud Verkaufspreis aus allgemeinen Staatsmitteln gedeckt wird. Ferner ver¬ spricht die Regierung, die Lage des bedürftigsten Teils der Bauern sofort durch Einsetzung besondrer Kommissionen zu verbessern. Die Kommissionen sollen aus der örtlichen Bevölkerung unter Hinzuziehung von gewählten Vertretern der Vauerschaft gebildet werden. Dann geht die Negierung auf den Agrarreform- entwnrf der Linken ein und erklärt der Bevölkerung, daß sich die Duma mit diesem Entwurf auf falschem Wege befinde; denn von einer erzwungnen Ent¬ eignung des Gutslcmdcs zugunsten der Bauern könne nie und nimmer die Rede sein. Diese NegiernngserMrung wurde in mehreren hunderttausend Exemplaren gedruckt und in die Provinz geschickt. Die Duma fühlte sich durch die in der Erklärung enthaltne Kritik in' ihren Rechten verletzt, und die Linke fürchtete in den Augen des Volks an Ansehen zu verlieren. Um dieses wiederherzustellen, brachte Kusmin-Karawajew am 26. Juni im Verlauf einer Jnterpellatwns- debatte den Antrag ein. die Duma solle sich ebenfalls mit einer Erklärung zur Agrarfrage an das Volk wenden. Die Revolutionäre nahmen den Gedanken mit Beifall auf und strebten danach, einen derart abgefaßten Aufruf zu fertigen, der nach ihrer Berechnung einen Aufstand zur Folge haben mußte. Die Polen und die Rechte erklärten sich überhaupt gegen einen Aufruf, und der ganze Vor¬ schlag wäre ins Wasser gefallen, wenn nicht die Kadetten in einer Fraktions¬ sitzung einen Ausweg gefunden hätten. Unter Hinweis auf die in Frankreich angenommne Gepflogenheit, besonders wichtige Reden. Beschlüsse und Willens¬ äußerungen der Kammer im Lande durch Anschlag zu verbreiten, wurde zu¬ nächst in die Instruktion der Duma eine entsprechende Anmerkung eingefugt. Ob die Duma zu einem solchen Schritt berechtigt war. ist eine offne Frage ge¬ geben, bis der Monarch ihr die Berechtigung abgesprochen hatte. Dennoch muß zugegeben werden, daß im Gesetz ein Loch vorhanden war durch das ge¬ schickte Juristen wohl hindurchschlüpfen konnten. Nachdem sich dergestalt d e Duma das Recht gegeben hatte, sich direkt und ohne Vermittlung der Exekutiv¬ gewalt an das Land zu wenden, votierte sie mit 124 gegen 53 Stimmen am 6- Juli nachstehenden Appell an das Volk: , Am 20. Juni veröffentlichte das Ministerium eine Regierungsmitteilung, in ' rbt«ruug an eine richtige Rnun Ass/morlNch ^"d^ ^« Grenzboten IV 1906

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/525>, abgerufen am 23.07.2024.