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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

Charlottenburg sofort Abhilfe. Es ist kein Wunder, daß die Apparate, die fast bei
jeder Landung heftiger Erschütterung ausgesetzt sind, auch einmal versagen. Wir
haben uns jetzt etwa auf400 Meter gehoben. Das Thermometer gibt neun Grad
Celsius an.

Ein westlicher Zufluß der Gera, die Apfelstedt, bezeichnet fürs nächste im
wesentlichen unsre Fahrtrichtung. 3 Uhr 15 Minuten braust unter uns der
Schnellzug Frankfurt am Main-Berlin dahin, so können wir im Kursbuch fest¬
stellen, daß wir die Bahnlinie zwischen Seebergen und Wandersleben kreuzen.
Nordwestlich von uns zeigen sich, in der Morgendämmerung verschwimmend, die
Lichter von Gotha. Wenig Minuten später wird es ganz hell: vor uns noch
der glänzende volle Mond, hinter uns die aus dunkler Wolkenwand blutrot
durchbrechende Sonne, es ist ein einziger Anblick. Wir empfinden das Schauern
der Natur mit, das nach altgermanischer Vorstellung diese Augenblicke be¬
gleiten soll.

der Sterbliche freilich hört es nicht. Mit dieser Freude an dem Doppelglanz
der beiden Himmelslichter, wenn das eine sinkt und das andre auf der entgegen¬
gesetzten Seite aufsteigt, vergleicht der alte, aber ewig liebebedürftige Goethe
"die sehr angenehme Empfindung", wenn sich eine neue Leidenschaft zu regen
anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. In raschem Siegeslaufe zwingt
das Tagesgestirn die immer mehr verblassende Mondscheibe nieder. Um vier Uhr
ist der Kampf beendet. Es ist gerade die rechte Zeit dafür, denn wir nähern
uns den Reizen des Thüringer Waldes, zunächst einem reichgegliederten Hügel¬
lande. Noch sind die tiefer liegenden Teile durch dichte Nebel verhüllt, die von
oben wie blendend weiße Eismeere aussehen; bewaldete Halbinseln, die eine mit
eineni Aussichtsturin gekrönt, ragen wie vorgestreckte Finger in sie hinein, die
Drei Gleichen als Inseln aus ihnen heraus. Das Einmünden kleinerer Täter
in größere ruft vollends die Täuschung hervor, als wenn sich mehrere Gletscher¬
ströme zu weiten Eismassen, mit Neuschnee bedeckt, vereinigten. Wer in dieser
Frühe schon wach ist von den Menschen unter dem schwerlastenden Wolken¬
meere, der fürchtet wohl trübes, regnerisches Wetter für den anbrechenden Morgen.
Wir im strahlenden Sonnenschein unter klarblauem Himmel haben es leicht,
einen heitern Frühlingstag zu prophezeien.

Links von uns liegt das ansehnliche Städtchen Ohrdruf an der Zweigbahn
Gotha-Grüfenroda. Mitten aus dem Orte schlagen Flammen hoch empor,
schwarzer Qualm folgt ihnen, krachend stürzen Gebälk und Mauern ein, aber
schon zischen Wasserstrahlen, um den Brand zu löschen. Umgekehrt werden auch
wir von den durch den Feuerlärm aufgeschreckten Bewohnern bemerkt, wie wir
später im Ohrdrufer Kreisblatt, dem Thüringer Waldboden, lesen konnten.

Unser Flug führt direkt auf Tcunbach zu mit seinen vielverzweigten, am
Berge aufsteigenden Straßen und ringsverstreuten schmucken einzelnen Gebäuden-


Luftreisen

Charlottenburg sofort Abhilfe. Es ist kein Wunder, daß die Apparate, die fast bei
jeder Landung heftiger Erschütterung ausgesetzt sind, auch einmal versagen. Wir
haben uns jetzt etwa auf400 Meter gehoben. Das Thermometer gibt neun Grad
Celsius an.

Ein westlicher Zufluß der Gera, die Apfelstedt, bezeichnet fürs nächste im
wesentlichen unsre Fahrtrichtung. 3 Uhr 15 Minuten braust unter uns der
Schnellzug Frankfurt am Main-Berlin dahin, so können wir im Kursbuch fest¬
stellen, daß wir die Bahnlinie zwischen Seebergen und Wandersleben kreuzen.
Nordwestlich von uns zeigen sich, in der Morgendämmerung verschwimmend, die
Lichter von Gotha. Wenig Minuten später wird es ganz hell: vor uns noch
der glänzende volle Mond, hinter uns die aus dunkler Wolkenwand blutrot
durchbrechende Sonne, es ist ein einziger Anblick. Wir empfinden das Schauern
der Natur mit, das nach altgermanischer Vorstellung diese Augenblicke be¬
gleiten soll.

der Sterbliche freilich hört es nicht. Mit dieser Freude an dem Doppelglanz
der beiden Himmelslichter, wenn das eine sinkt und das andre auf der entgegen¬
gesetzten Seite aufsteigt, vergleicht der alte, aber ewig liebebedürftige Goethe
„die sehr angenehme Empfindung", wenn sich eine neue Leidenschaft zu regen
anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. In raschem Siegeslaufe zwingt
das Tagesgestirn die immer mehr verblassende Mondscheibe nieder. Um vier Uhr
ist der Kampf beendet. Es ist gerade die rechte Zeit dafür, denn wir nähern
uns den Reizen des Thüringer Waldes, zunächst einem reichgegliederten Hügel¬
lande. Noch sind die tiefer liegenden Teile durch dichte Nebel verhüllt, die von
oben wie blendend weiße Eismeere aussehen; bewaldete Halbinseln, die eine mit
eineni Aussichtsturin gekrönt, ragen wie vorgestreckte Finger in sie hinein, die
Drei Gleichen als Inseln aus ihnen heraus. Das Einmünden kleinerer Täter
in größere ruft vollends die Täuschung hervor, als wenn sich mehrere Gletscher¬
ströme zu weiten Eismassen, mit Neuschnee bedeckt, vereinigten. Wer in dieser
Frühe schon wach ist von den Menschen unter dem schwerlastenden Wolken¬
meere, der fürchtet wohl trübes, regnerisches Wetter für den anbrechenden Morgen.
Wir im strahlenden Sonnenschein unter klarblauem Himmel haben es leicht,
einen heitern Frühlingstag zu prophezeien.

Links von uns liegt das ansehnliche Städtchen Ohrdruf an der Zweigbahn
Gotha-Grüfenroda. Mitten aus dem Orte schlagen Flammen hoch empor,
schwarzer Qualm folgt ihnen, krachend stürzen Gebälk und Mauern ein, aber
schon zischen Wasserstrahlen, um den Brand zu löschen. Umgekehrt werden auch
wir von den durch den Feuerlärm aufgeschreckten Bewohnern bemerkt, wie wir
später im Ohrdrufer Kreisblatt, dem Thüringer Waldboden, lesen konnten.

Unser Flug führt direkt auf Tcunbach zu mit seinen vielverzweigten, am
Berge aufsteigenden Straßen und ringsverstreuten schmucken einzelnen Gebäuden-


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[0052] Luftreisen Charlottenburg sofort Abhilfe. Es ist kein Wunder, daß die Apparate, die fast bei jeder Landung heftiger Erschütterung ausgesetzt sind, auch einmal versagen. Wir haben uns jetzt etwa auf400 Meter gehoben. Das Thermometer gibt neun Grad Celsius an. Ein westlicher Zufluß der Gera, die Apfelstedt, bezeichnet fürs nächste im wesentlichen unsre Fahrtrichtung. 3 Uhr 15 Minuten braust unter uns der Schnellzug Frankfurt am Main-Berlin dahin, so können wir im Kursbuch fest¬ stellen, daß wir die Bahnlinie zwischen Seebergen und Wandersleben kreuzen. Nordwestlich von uns zeigen sich, in der Morgendämmerung verschwimmend, die Lichter von Gotha. Wenig Minuten später wird es ganz hell: vor uns noch der glänzende volle Mond, hinter uns die aus dunkler Wolkenwand blutrot durchbrechende Sonne, es ist ein einziger Anblick. Wir empfinden das Schauern der Natur mit, das nach altgermanischer Vorstellung diese Augenblicke be¬ gleiten soll. der Sterbliche freilich hört es nicht. Mit dieser Freude an dem Doppelglanz der beiden Himmelslichter, wenn das eine sinkt und das andre auf der entgegen¬ gesetzten Seite aufsteigt, vergleicht der alte, aber ewig liebebedürftige Goethe „die sehr angenehme Empfindung", wenn sich eine neue Leidenschaft zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. In raschem Siegeslaufe zwingt das Tagesgestirn die immer mehr verblassende Mondscheibe nieder. Um vier Uhr ist der Kampf beendet. Es ist gerade die rechte Zeit dafür, denn wir nähern uns den Reizen des Thüringer Waldes, zunächst einem reichgegliederten Hügel¬ lande. Noch sind die tiefer liegenden Teile durch dichte Nebel verhüllt, die von oben wie blendend weiße Eismeere aussehen; bewaldete Halbinseln, die eine mit eineni Aussichtsturin gekrönt, ragen wie vorgestreckte Finger in sie hinein, die Drei Gleichen als Inseln aus ihnen heraus. Das Einmünden kleinerer Täter in größere ruft vollends die Täuschung hervor, als wenn sich mehrere Gletscher¬ ströme zu weiten Eismassen, mit Neuschnee bedeckt, vereinigten. Wer in dieser Frühe schon wach ist von den Menschen unter dem schwerlastenden Wolken¬ meere, der fürchtet wohl trübes, regnerisches Wetter für den anbrechenden Morgen. Wir im strahlenden Sonnenschein unter klarblauem Himmel haben es leicht, einen heitern Frühlingstag zu prophezeien. Links von uns liegt das ansehnliche Städtchen Ohrdruf an der Zweigbahn Gotha-Grüfenroda. Mitten aus dem Orte schlagen Flammen hoch empor, schwarzer Qualm folgt ihnen, krachend stürzen Gebälk und Mauern ein, aber schon zischen Wasserstrahlen, um den Brand zu löschen. Umgekehrt werden auch wir von den durch den Feuerlärm aufgeschreckten Bewohnern bemerkt, wie wir später im Ohrdrufer Kreisblatt, dem Thüringer Waldboden, lesen konnten. Unser Flug führt direkt auf Tcunbach zu mit seinen vielverzweigten, am Berge aufsteigenden Straßen und ringsverstreuten schmucken einzelnen Gebäuden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/52>, abgerufen am 23.07.2024.