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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

bleiben links von uns liegen. Jetzt aber, 45 Minuten nach der Abfahrt, nähern
wir uns Halle, darum heben wir uns auf 120 Meter. Der Nordost treibt uns
mit einer Geschwindigkeit von 36 Kilometern in der Stunde über die riesigen
Bahnhofsanlagen mit ihrem Gewirr von Schienen und Schuppen, ihren zahl¬
losen verschiedenfarbigen Lichtern, über den Bahnhof selbst hinweg. Überall
herrscht noch reges Leben, wir nehmen es mit Augen und Ohren deutlich wahr,
uns aber scheint niemand zu bemerken, unser Rufen wenigstens bleibt uner¬
widert, die Unruhe ist auch jetzt, in der zwölften Stunde, dort noch zu groß.
Die bei Tage so oft schon gemachte Beobachtung, daß wir beim Fluge über
ältere Städte die Geschichte ihrer Entwicklung gleichsam ablesen können, drängt
sich uns dank der reichlichen Straßenbeleuchtung auch hier mit überraschender
Deutlichkeit auf: vom unregelmäßigen Marktplatz ausgehend die krummen Straßen
der ursprünglichen Gründung bis zu den Promenaden, die an die Stelle der
frühern Befestigungen getreten sind, außerhalb davon die geradlinig durch-
schnittnen neuern Häuserviertel, aus denen die lange und sehr breite Wucher¬
straße scharf hervortritt, nicht weit davon der kreisrunde Kaiserplatz und die im
Halbkreis konzentrisch zu ihm verlaufende Kronprinzstraße. Dunkel unterbrechen
das Lichtmeer unter uns der Stadtgottesacker und die Gärten der Franckeschen
Stiftungen.

Wir folgen dem gewundnen Laufe der Saale mit ihrer Rabeninsel bis
zum Knie bei Beuchlitz und Holleben, ein breiter Lichtstreifen im Süden be¬
zeichnet die Lage von Merseburg. Hinweg über das Hügelland zwischen Saale
und Unstrut nahe an Lcmchstädt vorbei und unmittelbar über Schafstädt, es ist
eintönig, aber das schimmernde Mondlicht verklärt es. Die Unstrut selbst er¬
reichen wir bei dem ganz reizend liegenden Städtchen Nebra, Schloß und Schlo߬
ruine ragen schattenhaft darüber empor.

Weiter gehts über die forstengeschmückte Finne, deren zahlreiche, nach allen
Seiten abfließende Bäche sich doch sämtlich der Unstrut zuwenden. Nach zwei
Uhr taucht leuchtend im Südwesten die klassische Stätte des Gartenbaues, die
alte Handels- und Färberstadt Erfurt auf. Aber nicht bei ihr selbst, sondern
nördlich davon bei Gispersleben bewegen wir uns über die Fruchtlandschaft der
Gera, die von der eben überflognen Hochfläche vor rauheren Winden geschützt
ist- Zarte Nebelstreifen durchwogen sie in magischem Licht, Erlkönigs Töchter,
die wir bei ihrem nächtlichen Neigen von oben belauschen.

Jenseits steigt das Land wieder auf, höher als auf der östlichen Seite.
Nur ungern entschließen wir uns, einen halben Sack Ballast zu opfern, aber
wir berühren beinahe schon die Schornsteine von Aland, und an seinem Kirch¬
turm kommen wir knapp vorbei. Unser Aneroidbarometer spielt uns leider einen
garstigen Streich, es ist auf 740 Millimeter Luftdruck, also 250 Meter Höhe,
stehn geblieben und läßt sich durch kein Klopfen zu richtigem Anzeigen be¬
wegen. Auch der Barograph Streikt mit einemmale und will nicht mehr schreiben.
Aber hier schafft unser Fahrtgenosse Ingenieur und Fabrikbesitzer Cassirer aus


Luftreisen

bleiben links von uns liegen. Jetzt aber, 45 Minuten nach der Abfahrt, nähern
wir uns Halle, darum heben wir uns auf 120 Meter. Der Nordost treibt uns
mit einer Geschwindigkeit von 36 Kilometern in der Stunde über die riesigen
Bahnhofsanlagen mit ihrem Gewirr von Schienen und Schuppen, ihren zahl¬
losen verschiedenfarbigen Lichtern, über den Bahnhof selbst hinweg. Überall
herrscht noch reges Leben, wir nehmen es mit Augen und Ohren deutlich wahr,
uns aber scheint niemand zu bemerken, unser Rufen wenigstens bleibt uner¬
widert, die Unruhe ist auch jetzt, in der zwölften Stunde, dort noch zu groß.
Die bei Tage so oft schon gemachte Beobachtung, daß wir beim Fluge über
ältere Städte die Geschichte ihrer Entwicklung gleichsam ablesen können, drängt
sich uns dank der reichlichen Straßenbeleuchtung auch hier mit überraschender
Deutlichkeit auf: vom unregelmäßigen Marktplatz ausgehend die krummen Straßen
der ursprünglichen Gründung bis zu den Promenaden, die an die Stelle der
frühern Befestigungen getreten sind, außerhalb davon die geradlinig durch-
schnittnen neuern Häuserviertel, aus denen die lange und sehr breite Wucher¬
straße scharf hervortritt, nicht weit davon der kreisrunde Kaiserplatz und die im
Halbkreis konzentrisch zu ihm verlaufende Kronprinzstraße. Dunkel unterbrechen
das Lichtmeer unter uns der Stadtgottesacker und die Gärten der Franckeschen
Stiftungen.

Wir folgen dem gewundnen Laufe der Saale mit ihrer Rabeninsel bis
zum Knie bei Beuchlitz und Holleben, ein breiter Lichtstreifen im Süden be¬
zeichnet die Lage von Merseburg. Hinweg über das Hügelland zwischen Saale
und Unstrut nahe an Lcmchstädt vorbei und unmittelbar über Schafstädt, es ist
eintönig, aber das schimmernde Mondlicht verklärt es. Die Unstrut selbst er¬
reichen wir bei dem ganz reizend liegenden Städtchen Nebra, Schloß und Schlo߬
ruine ragen schattenhaft darüber empor.

Weiter gehts über die forstengeschmückte Finne, deren zahlreiche, nach allen
Seiten abfließende Bäche sich doch sämtlich der Unstrut zuwenden. Nach zwei
Uhr taucht leuchtend im Südwesten die klassische Stätte des Gartenbaues, die
alte Handels- und Färberstadt Erfurt auf. Aber nicht bei ihr selbst, sondern
nördlich davon bei Gispersleben bewegen wir uns über die Fruchtlandschaft der
Gera, die von der eben überflognen Hochfläche vor rauheren Winden geschützt
ist- Zarte Nebelstreifen durchwogen sie in magischem Licht, Erlkönigs Töchter,
die wir bei ihrem nächtlichen Neigen von oben belauschen.

Jenseits steigt das Land wieder auf, höher als auf der östlichen Seite.
Nur ungern entschließen wir uns, einen halben Sack Ballast zu opfern, aber
wir berühren beinahe schon die Schornsteine von Aland, und an seinem Kirch¬
turm kommen wir knapp vorbei. Unser Aneroidbarometer spielt uns leider einen
garstigen Streich, es ist auf 740 Millimeter Luftdruck, also 250 Meter Höhe,
stehn geblieben und läßt sich durch kein Klopfen zu richtigem Anzeigen be¬
wegen. Auch der Barograph Streikt mit einemmale und will nicht mehr schreiben.
Aber hier schafft unser Fahrtgenosse Ingenieur und Fabrikbesitzer Cassirer aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/51>, abgerufen am 23.07.2024.