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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Ivundts Geschichte der bildenden Uimste

ist -- über die ursprüngliche Entstehung der Kunstwerke und über manche
Stadien der spätern Entwicklung der Künste völlig befriedigenden Aufschluß zu
geben; das vermag nur, davon hat uns Wundt überzeugt, seine Völker¬
psychologie.

In den beschriebnen immanenten, psychologischen Prozeß greifen nun äußere
Umstände lenkend, fördernd, hemmend ein: die Bestimmung des Kunstwerks für
irgendeinen praktischen Gebrauch, der Wille des Bestellers, die Macht der Re¬
ligion, der Sitte, der Konvention. Von solchen äußern Einflüssen aber hängt
es nicht ab, ob ein Kunstwerk als Erzeugnis der Jdealkunst gewertet werden
soll oder nicht; das hängt eben ganz vom Ideengehalt oder von seinem Fehlen
ab. "Eine Vase kann sich zur Höhe der Jdealkunst erheben, wenn der bild¬
nerische Schmuck, den sie trägt, Ideen in ästhetisch ergreifender Form zum Aus¬
druck bringt. Der Umstand aber, ob die Vase zugleich zu irgendwelchen weitern
Zwecken dient, zum Beispiel als Opfergerät oder auch nur zur Ausschmückung
eines Wohnraums, hat mit dieser Frage an und für sich nichts zu tun. Wenige
Lehren sind darum unhistorischer und zugleich unpsychologischer als Kants be¬
rühmte Unterscheidung der reinen und der bloß anhängenden Schönheit. Danach
wird das ästhetische Objekt nicht nach dem, was es selbst ist, sondern nach seinem
sonstigen Zweck oder vielmehr nach seiner Zwecklosigkeit gewürdigt. Die nach
diesem Merkmal vvrgenommne Unterscheidung der hohem und der niedern Künste
fand bekanntlich deshalb die freudige Zustimmung unsrer klassischen Dichter,
weil diese dadurch die Selbständigkeit des Ästhetischen gesichert glaubten, während
die Philosophie der Aufklärung es bald mit dem sinnlich Angenehmen, bald
mit dem Nützlichen zusammengeworfen hatte. Wenn nun aber im Gegensatze
dazu Kant und die klassische Ästhetik behaupteten, die "reine Schönheit" bestehe
darin, daß sie mit keiner sonstigen Zweckbestimmung des Gegenstandes verbunden
sei, so verwechselten sie die Eigenart der ästhetischen Wirkung, die sie gegenüber
jenen Vermengungen mit Recht betonten, mit den Eigenschaften des ästhetisch
wirksamen Objekts. Die Forderung, daß dieses selbst keinen andern Zweck
haben solle, als ästhetisch zu wirken, würde, wenn sie erfüllbar wäre, das Ästhe¬
tische aus seinen wichtigsten und wirksamsten Stellungen verbannen. Vor allem
die bildende Kunst würde mit dem besten Teil ihrer Schöpfungen zur "an¬
hängenden Schönheit" verwiesen werden. Denn seinen Gedankeninhalt gewinnt
gerade das Werk der Jdealkunst erst dadurch, daß das ästhetische Objekt seine
Zweckbestimmung unmittelbar in der Verwirklichung eines bedeutsamen Lebens¬
inhalts zur Anschauung bringt. Selbst ein für sich betrachtet bedeutungsloses
Ornament erhält einen höhern ästhetischen Wert dadurch, daß es einem größern
zweckvollen Ganzen harmonisch sich einfügt, und die Architektur gehört darum
nicht weniger zur Jdealkunst, weil sie ganz und gar von den Zwecken getragen
wird, denen ihre Werke bestimmt sind. Auch wird die Stufe, die ein Werk der
Architektur einnimmt, nicht danach bemessen, daß sich jener Zweck ins Uner¬
kennbare verflüchtigt, sondern nach dem idealen Wert seines Zweckes und der


Ivundts Geschichte der bildenden Uimste

ist — über die ursprüngliche Entstehung der Kunstwerke und über manche
Stadien der spätern Entwicklung der Künste völlig befriedigenden Aufschluß zu
geben; das vermag nur, davon hat uns Wundt überzeugt, seine Völker¬
psychologie.

In den beschriebnen immanenten, psychologischen Prozeß greifen nun äußere
Umstände lenkend, fördernd, hemmend ein: die Bestimmung des Kunstwerks für
irgendeinen praktischen Gebrauch, der Wille des Bestellers, die Macht der Re¬
ligion, der Sitte, der Konvention. Von solchen äußern Einflüssen aber hängt
es nicht ab, ob ein Kunstwerk als Erzeugnis der Jdealkunst gewertet werden
soll oder nicht; das hängt eben ganz vom Ideengehalt oder von seinem Fehlen
ab. „Eine Vase kann sich zur Höhe der Jdealkunst erheben, wenn der bild¬
nerische Schmuck, den sie trägt, Ideen in ästhetisch ergreifender Form zum Aus¬
druck bringt. Der Umstand aber, ob die Vase zugleich zu irgendwelchen weitern
Zwecken dient, zum Beispiel als Opfergerät oder auch nur zur Ausschmückung
eines Wohnraums, hat mit dieser Frage an und für sich nichts zu tun. Wenige
Lehren sind darum unhistorischer und zugleich unpsychologischer als Kants be¬
rühmte Unterscheidung der reinen und der bloß anhängenden Schönheit. Danach
wird das ästhetische Objekt nicht nach dem, was es selbst ist, sondern nach seinem
sonstigen Zweck oder vielmehr nach seiner Zwecklosigkeit gewürdigt. Die nach
diesem Merkmal vvrgenommne Unterscheidung der hohem und der niedern Künste
fand bekanntlich deshalb die freudige Zustimmung unsrer klassischen Dichter,
weil diese dadurch die Selbständigkeit des Ästhetischen gesichert glaubten, während
die Philosophie der Aufklärung es bald mit dem sinnlich Angenehmen, bald
mit dem Nützlichen zusammengeworfen hatte. Wenn nun aber im Gegensatze
dazu Kant und die klassische Ästhetik behaupteten, die »reine Schönheit« bestehe
darin, daß sie mit keiner sonstigen Zweckbestimmung des Gegenstandes verbunden
sei, so verwechselten sie die Eigenart der ästhetischen Wirkung, die sie gegenüber
jenen Vermengungen mit Recht betonten, mit den Eigenschaften des ästhetisch
wirksamen Objekts. Die Forderung, daß dieses selbst keinen andern Zweck
haben solle, als ästhetisch zu wirken, würde, wenn sie erfüllbar wäre, das Ästhe¬
tische aus seinen wichtigsten und wirksamsten Stellungen verbannen. Vor allem
die bildende Kunst würde mit dem besten Teil ihrer Schöpfungen zur »an¬
hängenden Schönheit« verwiesen werden. Denn seinen Gedankeninhalt gewinnt
gerade das Werk der Jdealkunst erst dadurch, daß das ästhetische Objekt seine
Zweckbestimmung unmittelbar in der Verwirklichung eines bedeutsamen Lebens¬
inhalts zur Anschauung bringt. Selbst ein für sich betrachtet bedeutungsloses
Ornament erhält einen höhern ästhetischen Wert dadurch, daß es einem größern
zweckvollen Ganzen harmonisch sich einfügt, und die Architektur gehört darum
nicht weniger zur Jdealkunst, weil sie ganz und gar von den Zwecken getragen
wird, denen ihre Werke bestimmt sind. Auch wird die Stufe, die ein Werk der
Architektur einnimmt, nicht danach bemessen, daß sich jener Zweck ins Uner¬
kennbare verflüchtigt, sondern nach dem idealen Wert seines Zweckes und der


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[0488] Ivundts Geschichte der bildenden Uimste ist — über die ursprüngliche Entstehung der Kunstwerke und über manche Stadien der spätern Entwicklung der Künste völlig befriedigenden Aufschluß zu geben; das vermag nur, davon hat uns Wundt überzeugt, seine Völker¬ psychologie. In den beschriebnen immanenten, psychologischen Prozeß greifen nun äußere Umstände lenkend, fördernd, hemmend ein: die Bestimmung des Kunstwerks für irgendeinen praktischen Gebrauch, der Wille des Bestellers, die Macht der Re¬ ligion, der Sitte, der Konvention. Von solchen äußern Einflüssen aber hängt es nicht ab, ob ein Kunstwerk als Erzeugnis der Jdealkunst gewertet werden soll oder nicht; das hängt eben ganz vom Ideengehalt oder von seinem Fehlen ab. „Eine Vase kann sich zur Höhe der Jdealkunst erheben, wenn der bild¬ nerische Schmuck, den sie trägt, Ideen in ästhetisch ergreifender Form zum Aus¬ druck bringt. Der Umstand aber, ob die Vase zugleich zu irgendwelchen weitern Zwecken dient, zum Beispiel als Opfergerät oder auch nur zur Ausschmückung eines Wohnraums, hat mit dieser Frage an und für sich nichts zu tun. Wenige Lehren sind darum unhistorischer und zugleich unpsychologischer als Kants be¬ rühmte Unterscheidung der reinen und der bloß anhängenden Schönheit. Danach wird das ästhetische Objekt nicht nach dem, was es selbst ist, sondern nach seinem sonstigen Zweck oder vielmehr nach seiner Zwecklosigkeit gewürdigt. Die nach diesem Merkmal vvrgenommne Unterscheidung der hohem und der niedern Künste fand bekanntlich deshalb die freudige Zustimmung unsrer klassischen Dichter, weil diese dadurch die Selbständigkeit des Ästhetischen gesichert glaubten, während die Philosophie der Aufklärung es bald mit dem sinnlich Angenehmen, bald mit dem Nützlichen zusammengeworfen hatte. Wenn nun aber im Gegensatze dazu Kant und die klassische Ästhetik behaupteten, die »reine Schönheit« bestehe darin, daß sie mit keiner sonstigen Zweckbestimmung des Gegenstandes verbunden sei, so verwechselten sie die Eigenart der ästhetischen Wirkung, die sie gegenüber jenen Vermengungen mit Recht betonten, mit den Eigenschaften des ästhetisch wirksamen Objekts. Die Forderung, daß dieses selbst keinen andern Zweck haben solle, als ästhetisch zu wirken, würde, wenn sie erfüllbar wäre, das Ästhe¬ tische aus seinen wichtigsten und wirksamsten Stellungen verbannen. Vor allem die bildende Kunst würde mit dem besten Teil ihrer Schöpfungen zur »an¬ hängenden Schönheit« verwiesen werden. Denn seinen Gedankeninhalt gewinnt gerade das Werk der Jdealkunst erst dadurch, daß das ästhetische Objekt seine Zweckbestimmung unmittelbar in der Verwirklichung eines bedeutsamen Lebens¬ inhalts zur Anschauung bringt. Selbst ein für sich betrachtet bedeutungsloses Ornament erhält einen höhern ästhetischen Wert dadurch, daß es einem größern zweckvollen Ganzen harmonisch sich einfügt, und die Architektur gehört darum nicht weniger zur Jdealkunst, weil sie ganz und gar von den Zwecken getragen wird, denen ihre Werke bestimmt sind. Auch wird die Stufe, die ein Werk der Architektur einnimmt, nicht danach bemessen, daß sich jener Zweck ins Uner¬ kennbare verflüchtigt, sondern nach dem idealen Wert seines Zweckes und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/488>, abgerufen am 25.08.2024.