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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Waldes Geschichte der bildenden Künste

Jdealkunst samt und sonders nicht bloß der Wirklichkeit an, sondern sie über¬
schreiten auch nie und nirgends die Schranken, die dem wirklichen, sinnlichen
Menschen in seinen Vorstellungen und Gefühlen gesetzt sind. Diese Kunst hat
jedoch ebensowenig die gemeine, mit allen wertlosen Nichtigkeiten des täglichen
Lebens belastete Wirklichkeit wie eine außerhalb dieser Wirklichkeit stehende über¬
sinnliche Welt zu ihrem Inhalt. Nicht das wirkliche Leben als solches stellt
sie dar, sondern die von Ideen erfüllten und darum allgemein wertvollen Lebens¬
inhalte. Mehl lieber: den geistigen Inhalt der Lebenserscheinungen und Lebens-
vorgänge?) Darüber, was wertvoll sei, entscheidet aber kein äußeres Wertmaß,
sondern nur der Wert der Ideen selbst, die das Kunstwerk verkörpert. Des¬
halb kann eine gemalte Haupt- und Staatsaktion trotz dem äußern Glänze, mit
dem sie ausgestattet ist, unter dem Nivean der Jdealkunst liegen; und ein be¬
scheidnes Genrebild kann ihr angehören, trotz der Ärmlichkeit der Szene, die es
darstellt. Nur das Ideenlose, nicht das Niedrige an sich ist als Kunstwerk
wertlos. Und wie die Gedankenleere nach unten, so begrenzt das Übersinnliche
nach oben die Sphäre der Kunst überhaupt. Soll das Übersinnliche in die
Vorstellungswelt des Menschen eingehn, so nimmt es sinnliche Form an. Das
ergibt sich nicht bloß aus der eignen sinnlichen Natur der Kunst, sondern auch
aus der Natur jener Ideen, die ursprünglich ihren Hauptinhalt gebildet haben
und die vor andern an ihrer Erhebung zur Jdealkunst beteiligt waren, der
religiösen. Denn diese bewegen sich zwar immer in der Richtung des Über¬
sinnlichen sans das Übersinnliches aber sie selbst sind und bleiben sinnliche Vor¬
stellungen."

Einer der Wege, die zur ästhetischen Auffassung und damit zur Jdealkunst
fuhren, ist die Vereinfachung. Diese "stellt sich von selbst ein: sie ist zunächst
eine Wirkung der Unsicherheit des Erinnerungsbildes und des Mangels an
technischer Übung. Je einfacher die nachzubildende Form ist, um so mehr nähert
sie sich dem geometrischen Schema. Erst von diesem Moment an greift dann
die willkürliche Variierung ein, indem sie da, wo das Bild dem Schema noch
nicht völlig entspricht, solche Unebenheiten ausgleicht. Damit wird dann zugleich
das ästhetische Wohlgefallen an der selbstgefertigten Zeichnung in doppelter Weise
befriedigt, erstens indem die einfache Form als solche gefallt, und zweitens indem
in ihr das natürliche Objekt erkennt wird, das es darstellen soll. So gilt schon
für diese allerersten Anfänge künstlerischer Entwicklung der Satz, daß nichts von
selbst geschieht,") oder, was in diesen, Falle auf dasselbe hinauskommt, das;
nichts aus irgendeiner unerklärlichen Inspiration heraus neu geschaffen wird.
Vielmehr setzt hier, wie auf allen andern Gebieten psychischen Lebens, jeder
Anfang irgendwelche auslösende Reize voraus, an die dann erst in der gesetz¬
mäßigen Folge psychischer Vorgänge die Prozesse sich anschließen, die eine neue



s^belwurde gesagt, die Vereinfachung stelle sich von selbst ein. Mit dem "von selbst"
ist an der ersten Stelle gemeint: vom Künstler unbeabsichtigt an der zweiten: ohne physiologische
°der psychologische Ursache.
Waldes Geschichte der bildenden Künste

Jdealkunst samt und sonders nicht bloß der Wirklichkeit an, sondern sie über¬
schreiten auch nie und nirgends die Schranken, die dem wirklichen, sinnlichen
Menschen in seinen Vorstellungen und Gefühlen gesetzt sind. Diese Kunst hat
jedoch ebensowenig die gemeine, mit allen wertlosen Nichtigkeiten des täglichen
Lebens belastete Wirklichkeit wie eine außerhalb dieser Wirklichkeit stehende über¬
sinnliche Welt zu ihrem Inhalt. Nicht das wirkliche Leben als solches stellt
sie dar, sondern die von Ideen erfüllten und darum allgemein wertvollen Lebens¬
inhalte. Mehl lieber: den geistigen Inhalt der Lebenserscheinungen und Lebens-
vorgänge?) Darüber, was wertvoll sei, entscheidet aber kein äußeres Wertmaß,
sondern nur der Wert der Ideen selbst, die das Kunstwerk verkörpert. Des¬
halb kann eine gemalte Haupt- und Staatsaktion trotz dem äußern Glänze, mit
dem sie ausgestattet ist, unter dem Nivean der Jdealkunst liegen; und ein be¬
scheidnes Genrebild kann ihr angehören, trotz der Ärmlichkeit der Szene, die es
darstellt. Nur das Ideenlose, nicht das Niedrige an sich ist als Kunstwerk
wertlos. Und wie die Gedankenleere nach unten, so begrenzt das Übersinnliche
nach oben die Sphäre der Kunst überhaupt. Soll das Übersinnliche in die
Vorstellungswelt des Menschen eingehn, so nimmt es sinnliche Form an. Das
ergibt sich nicht bloß aus der eignen sinnlichen Natur der Kunst, sondern auch
aus der Natur jener Ideen, die ursprünglich ihren Hauptinhalt gebildet haben
und die vor andern an ihrer Erhebung zur Jdealkunst beteiligt waren, der
religiösen. Denn diese bewegen sich zwar immer in der Richtung des Über¬
sinnlichen sans das Übersinnliches aber sie selbst sind und bleiben sinnliche Vor¬
stellungen."

Einer der Wege, die zur ästhetischen Auffassung und damit zur Jdealkunst
fuhren, ist die Vereinfachung. Diese „stellt sich von selbst ein: sie ist zunächst
eine Wirkung der Unsicherheit des Erinnerungsbildes und des Mangels an
technischer Übung. Je einfacher die nachzubildende Form ist, um so mehr nähert
sie sich dem geometrischen Schema. Erst von diesem Moment an greift dann
die willkürliche Variierung ein, indem sie da, wo das Bild dem Schema noch
nicht völlig entspricht, solche Unebenheiten ausgleicht. Damit wird dann zugleich
das ästhetische Wohlgefallen an der selbstgefertigten Zeichnung in doppelter Weise
befriedigt, erstens indem die einfache Form als solche gefallt, und zweitens indem
in ihr das natürliche Objekt erkennt wird, das es darstellen soll. So gilt schon
für diese allerersten Anfänge künstlerischer Entwicklung der Satz, daß nichts von
selbst geschieht,") oder, was in diesen, Falle auf dasselbe hinauskommt, das;
nichts aus irgendeiner unerklärlichen Inspiration heraus neu geschaffen wird.
Vielmehr setzt hier, wie auf allen andern Gebieten psychischen Lebens, jeder
Anfang irgendwelche auslösende Reize voraus, an die dann erst in der gesetz¬
mäßigen Folge psychischer Vorgänge die Prozesse sich anschließen, die eine neue



s^belwurde gesagt, die Vereinfachung stelle sich von selbst ein. Mit dem „von selbst"
ist an der ersten Stelle gemeint: vom Künstler unbeabsichtigt an der zweiten: ohne physiologische
°der psychologische Ursache.
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[0485] Waldes Geschichte der bildenden Künste Jdealkunst samt und sonders nicht bloß der Wirklichkeit an, sondern sie über¬ schreiten auch nie und nirgends die Schranken, die dem wirklichen, sinnlichen Menschen in seinen Vorstellungen und Gefühlen gesetzt sind. Diese Kunst hat jedoch ebensowenig die gemeine, mit allen wertlosen Nichtigkeiten des täglichen Lebens belastete Wirklichkeit wie eine außerhalb dieser Wirklichkeit stehende über¬ sinnliche Welt zu ihrem Inhalt. Nicht das wirkliche Leben als solches stellt sie dar, sondern die von Ideen erfüllten und darum allgemein wertvollen Lebens¬ inhalte. Mehl lieber: den geistigen Inhalt der Lebenserscheinungen und Lebens- vorgänge?) Darüber, was wertvoll sei, entscheidet aber kein äußeres Wertmaß, sondern nur der Wert der Ideen selbst, die das Kunstwerk verkörpert. Des¬ halb kann eine gemalte Haupt- und Staatsaktion trotz dem äußern Glänze, mit dem sie ausgestattet ist, unter dem Nivean der Jdealkunst liegen; und ein be¬ scheidnes Genrebild kann ihr angehören, trotz der Ärmlichkeit der Szene, die es darstellt. Nur das Ideenlose, nicht das Niedrige an sich ist als Kunstwerk wertlos. Und wie die Gedankenleere nach unten, so begrenzt das Übersinnliche nach oben die Sphäre der Kunst überhaupt. Soll das Übersinnliche in die Vorstellungswelt des Menschen eingehn, so nimmt es sinnliche Form an. Das ergibt sich nicht bloß aus der eignen sinnlichen Natur der Kunst, sondern auch aus der Natur jener Ideen, die ursprünglich ihren Hauptinhalt gebildet haben und die vor andern an ihrer Erhebung zur Jdealkunst beteiligt waren, der religiösen. Denn diese bewegen sich zwar immer in der Richtung des Über¬ sinnlichen sans das Übersinnliches aber sie selbst sind und bleiben sinnliche Vor¬ stellungen." Einer der Wege, die zur ästhetischen Auffassung und damit zur Jdealkunst fuhren, ist die Vereinfachung. Diese „stellt sich von selbst ein: sie ist zunächst eine Wirkung der Unsicherheit des Erinnerungsbildes und des Mangels an technischer Übung. Je einfacher die nachzubildende Form ist, um so mehr nähert sie sich dem geometrischen Schema. Erst von diesem Moment an greift dann die willkürliche Variierung ein, indem sie da, wo das Bild dem Schema noch nicht völlig entspricht, solche Unebenheiten ausgleicht. Damit wird dann zugleich das ästhetische Wohlgefallen an der selbstgefertigten Zeichnung in doppelter Weise befriedigt, erstens indem die einfache Form als solche gefallt, und zweitens indem in ihr das natürliche Objekt erkennt wird, das es darstellen soll. So gilt schon für diese allerersten Anfänge künstlerischer Entwicklung der Satz, daß nichts von selbst geschieht,") oder, was in diesen, Falle auf dasselbe hinauskommt, das; nichts aus irgendeiner unerklärlichen Inspiration heraus neu geschaffen wird. Vielmehr setzt hier, wie auf allen andern Gebieten psychischen Lebens, jeder Anfang irgendwelche auslösende Reize voraus, an die dann erst in der gesetz¬ mäßigen Folge psychischer Vorgänge die Prozesse sich anschließen, die eine neue s^belwurde gesagt, die Vereinfachung stelle sich von selbst ein. Mit dem „von selbst" ist an der ersten Stelle gemeint: vom Künstler unbeabsichtigt an der zweiten: ohne physiologische °der psychologische Ursache.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/485>, abgerufen am 23.07.2024.