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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Wundes Geschichte der bildenden Uünste

Original oder nach einem vor Augen gestellten Modell zu arbeiten. Die Augen-
blickskunst ist nicht über die Zeichnung hinausgegangen; die Erinnerungskuust
schreitet zur Plastik fort. Als Material für Denkmäler dient zuerst der Stein,
der seiner Dauerhaftigkeit wegen gewählt wird, durch eine eingeritzte Zeichnung
Spätern ein denkwürdiges Ereignis zu künden. An weicheren Gestein versucht
sich der plastische Künstler in körperlichen Nachbildungen, geht sodann zum
Holz über, das leichter zu bearbeiten ist, an dem sich deswegen die Technik ver¬
vollkommnen kann, und nach erlangter Fertigkeit kehrt man zum Stein zurück.
Auf der Stufe der Augenblickskunst war vielleicht nur der Schaffende zugleich
der Genießende. Der Genuß bestand eben im Schaffen. Das Geschaffne
mußte erst vervollkommnet werden -- durch allmähliche Verühnlichung mit dem
dargestellten Gegenstande oder durch Stilisierung --, ehe es beim Beschauer
Wohlgefallen, das erste ästhetische Gefühl, erregen konnte. Von da ab wurde
das Kunstwerk Antrieb zu weiteren Schaffen. "So entsteht der früheste Schmuck
nicht sowohl weil der Mensch sich und seine Umgebung zu schmücken wünscht,
als vielmehr deshalb, weil die von ihm ohne solche Absicht geschaffnen Gebilde
seine Freude erregen." An der Zierkunst -- Verzierung des eignen Leibes,
der Gefäße, Geräte, Wohnstätten -- und ihrer Vervollkommnung macht der
Mensch diesen Fortschritt zum ästhetischen Empfinden, und dieses wird nun ver¬
stärkt durch die zunehmende Verühnlichung der Ziergebilde mit den dargestellten
Gegenständen. Von da ab, wo das bemerkt wird, arbeitet man nach Modellen;
die Erinnerungskunst erhebt sich zur Nachahmungskunst. Dabei aber bleibt
doch auch die Subjektivität des Künstlers immer noch wirksam. "Die Nach¬
ahmungskunst liefert keine bloße Verdoppelung und keine nur etwa durch die
Mängel der künstlerischen Reproduktion hinter der Wirklichkeit zurückbleibende
Wiedergabe. Deun selbst das eifrigste Streben, den Gegenstand getreu nach¬
zubilden, kann immer nur zu einer Reproduktion führen, die mit der Erinnerungs¬
kuust dies gemein hat, daß das aufgenommne Bild durch die sinnliche
Wahrnehmung, durch das auffassende Bewußtsein und schließlich durch die
Willenshandlung des nachschasfenden Künstlers hindurchgegangen sein muß."
Zuerst unbewußt, dann bewußt macht sich das Streben geltend, eigne Gedanken
in dem nach der Natur dargestellten Gegenstande zu verkörpern, und damit
ersteigt die Kunst wiederum eine höhere Stufe, sie wird Jdealkunst. Mit den
Ideen, die der Künstler auszudrücken strebt, meint Wunde uicht platonische oder
sonstige metaphysische Ideen, sondern der umgebenden Wirklichkeit entstammende
Gedanken. "Uuter Ideen verstehen wir hier ebensowenig transzendente Objekte
wie sinnliche Vorstellungen in der allgemeinen Bedeutung des Wortes, sondern
wir beziehen den Begriff auf solche Bewußtseinsinhalte, die einerseits als Er¬
zeugnisse der Phantasie eine gesteigerte Wirksamkeit der höhern seelischen Funk¬
tionen voraussetzen, und die anderseits in den Schöpfungen, die sie hervor¬
bringen, einen bleibenden, über die Sphäre des individuellen Bedürfnisses und
Interesses hinausreichenden Wert besitzen. Darum gehören die Erzeugnisse der


Wundes Geschichte der bildenden Uünste

Original oder nach einem vor Augen gestellten Modell zu arbeiten. Die Augen-
blickskunst ist nicht über die Zeichnung hinausgegangen; die Erinnerungskuust
schreitet zur Plastik fort. Als Material für Denkmäler dient zuerst der Stein,
der seiner Dauerhaftigkeit wegen gewählt wird, durch eine eingeritzte Zeichnung
Spätern ein denkwürdiges Ereignis zu künden. An weicheren Gestein versucht
sich der plastische Künstler in körperlichen Nachbildungen, geht sodann zum
Holz über, das leichter zu bearbeiten ist, an dem sich deswegen die Technik ver¬
vollkommnen kann, und nach erlangter Fertigkeit kehrt man zum Stein zurück.
Auf der Stufe der Augenblickskunst war vielleicht nur der Schaffende zugleich
der Genießende. Der Genuß bestand eben im Schaffen. Das Geschaffne
mußte erst vervollkommnet werden — durch allmähliche Verühnlichung mit dem
dargestellten Gegenstande oder durch Stilisierung —, ehe es beim Beschauer
Wohlgefallen, das erste ästhetische Gefühl, erregen konnte. Von da ab wurde
das Kunstwerk Antrieb zu weiteren Schaffen. „So entsteht der früheste Schmuck
nicht sowohl weil der Mensch sich und seine Umgebung zu schmücken wünscht,
als vielmehr deshalb, weil die von ihm ohne solche Absicht geschaffnen Gebilde
seine Freude erregen." An der Zierkunst — Verzierung des eignen Leibes,
der Gefäße, Geräte, Wohnstätten — und ihrer Vervollkommnung macht der
Mensch diesen Fortschritt zum ästhetischen Empfinden, und dieses wird nun ver¬
stärkt durch die zunehmende Verühnlichung der Ziergebilde mit den dargestellten
Gegenständen. Von da ab, wo das bemerkt wird, arbeitet man nach Modellen;
die Erinnerungskunst erhebt sich zur Nachahmungskunst. Dabei aber bleibt
doch auch die Subjektivität des Künstlers immer noch wirksam. „Die Nach¬
ahmungskunst liefert keine bloße Verdoppelung und keine nur etwa durch die
Mängel der künstlerischen Reproduktion hinter der Wirklichkeit zurückbleibende
Wiedergabe. Deun selbst das eifrigste Streben, den Gegenstand getreu nach¬
zubilden, kann immer nur zu einer Reproduktion führen, die mit der Erinnerungs¬
kuust dies gemein hat, daß das aufgenommne Bild durch die sinnliche
Wahrnehmung, durch das auffassende Bewußtsein und schließlich durch die
Willenshandlung des nachschasfenden Künstlers hindurchgegangen sein muß."
Zuerst unbewußt, dann bewußt macht sich das Streben geltend, eigne Gedanken
in dem nach der Natur dargestellten Gegenstande zu verkörpern, und damit
ersteigt die Kunst wiederum eine höhere Stufe, sie wird Jdealkunst. Mit den
Ideen, die der Künstler auszudrücken strebt, meint Wunde uicht platonische oder
sonstige metaphysische Ideen, sondern der umgebenden Wirklichkeit entstammende
Gedanken. „Uuter Ideen verstehen wir hier ebensowenig transzendente Objekte
wie sinnliche Vorstellungen in der allgemeinen Bedeutung des Wortes, sondern
wir beziehen den Begriff auf solche Bewußtseinsinhalte, die einerseits als Er¬
zeugnisse der Phantasie eine gesteigerte Wirksamkeit der höhern seelischen Funk¬
tionen voraussetzen, und die anderseits in den Schöpfungen, die sie hervor¬
bringen, einen bleibenden, über die Sphäre des individuellen Bedürfnisses und
Interesses hinausreichenden Wert besitzen. Darum gehören die Erzeugnisse der


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[0484] Wundes Geschichte der bildenden Uünste Original oder nach einem vor Augen gestellten Modell zu arbeiten. Die Augen- blickskunst ist nicht über die Zeichnung hinausgegangen; die Erinnerungskuust schreitet zur Plastik fort. Als Material für Denkmäler dient zuerst der Stein, der seiner Dauerhaftigkeit wegen gewählt wird, durch eine eingeritzte Zeichnung Spätern ein denkwürdiges Ereignis zu künden. An weicheren Gestein versucht sich der plastische Künstler in körperlichen Nachbildungen, geht sodann zum Holz über, das leichter zu bearbeiten ist, an dem sich deswegen die Technik ver¬ vollkommnen kann, und nach erlangter Fertigkeit kehrt man zum Stein zurück. Auf der Stufe der Augenblickskunst war vielleicht nur der Schaffende zugleich der Genießende. Der Genuß bestand eben im Schaffen. Das Geschaffne mußte erst vervollkommnet werden — durch allmähliche Verühnlichung mit dem dargestellten Gegenstande oder durch Stilisierung —, ehe es beim Beschauer Wohlgefallen, das erste ästhetische Gefühl, erregen konnte. Von da ab wurde das Kunstwerk Antrieb zu weiteren Schaffen. „So entsteht der früheste Schmuck nicht sowohl weil der Mensch sich und seine Umgebung zu schmücken wünscht, als vielmehr deshalb, weil die von ihm ohne solche Absicht geschaffnen Gebilde seine Freude erregen." An der Zierkunst — Verzierung des eignen Leibes, der Gefäße, Geräte, Wohnstätten — und ihrer Vervollkommnung macht der Mensch diesen Fortschritt zum ästhetischen Empfinden, und dieses wird nun ver¬ stärkt durch die zunehmende Verühnlichung der Ziergebilde mit den dargestellten Gegenständen. Von da ab, wo das bemerkt wird, arbeitet man nach Modellen; die Erinnerungskunst erhebt sich zur Nachahmungskunst. Dabei aber bleibt doch auch die Subjektivität des Künstlers immer noch wirksam. „Die Nach¬ ahmungskunst liefert keine bloße Verdoppelung und keine nur etwa durch die Mängel der künstlerischen Reproduktion hinter der Wirklichkeit zurückbleibende Wiedergabe. Deun selbst das eifrigste Streben, den Gegenstand getreu nach¬ zubilden, kann immer nur zu einer Reproduktion führen, die mit der Erinnerungs¬ kuust dies gemein hat, daß das aufgenommne Bild durch die sinnliche Wahrnehmung, durch das auffassende Bewußtsein und schließlich durch die Willenshandlung des nachschasfenden Künstlers hindurchgegangen sein muß." Zuerst unbewußt, dann bewußt macht sich das Streben geltend, eigne Gedanken in dem nach der Natur dargestellten Gegenstande zu verkörpern, und damit ersteigt die Kunst wiederum eine höhere Stufe, sie wird Jdealkunst. Mit den Ideen, die der Künstler auszudrücken strebt, meint Wunde uicht platonische oder sonstige metaphysische Ideen, sondern der umgebenden Wirklichkeit entstammende Gedanken. „Uuter Ideen verstehen wir hier ebensowenig transzendente Objekte wie sinnliche Vorstellungen in der allgemeinen Bedeutung des Wortes, sondern wir beziehen den Begriff auf solche Bewußtseinsinhalte, die einerseits als Er¬ zeugnisse der Phantasie eine gesteigerte Wirksamkeit der höhern seelischen Funk¬ tionen voraussetzen, und die anderseits in den Schöpfungen, die sie hervor¬ bringen, einen bleibenden, über die Sphäre des individuellen Bedürfnisses und Interesses hinausreichenden Wert besitzen. Darum gehören die Erzeugnisse der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/484>, abgerufen am 23.07.2024.