Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.Wundes Geschichte der bildenden Künste Mythus bloß 91 übrig geblieben; 440 werden den Künsten gewidmet. Das Wundes Geschichte der bildenden Künste Mythus bloß 91 übrig geblieben; 440 werden den Künsten gewidmet. Das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0483" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300982"/> <fw type="header" place="top"> Wundes Geschichte der bildenden Künste</fw><lb/> <p xml:id="ID_1967" prev="#ID_1966" next="#ID_1968"> Mythus bloß 91 übrig geblieben; 440 werden den Künsten gewidmet. Das<lb/> hat sich natürlich erst bei der Ausarbeitung ergeben. Hätte es Wundt voraus¬<lb/> gesehen, so würde er wohl die Kunst nicht ausgeschlossen, sondern sie von vorn¬<lb/> herein in den Plan des Werkes aufgenommen und dieses in vier Teile ge¬<lb/> gliedert haben: Sprache; Kunst; Mythus und Religion; Sitte. Die 91 Seiten<lb/> über den Mythus, die doch wohl nur. aus dem Umfange des Sprachwerks und<lb/> der Kunstepisode zu schließen, die Bedeutung einer Einleitung haben, würden<lb/> dann wahrscheinlich nicht diesem sondern dem folgenden Bande angefügt worden<lb/> sein. Wir wollen deswegen mit dem Bericht darüber warten, bis der Band<lb/> erschienen sein wird, der dem durch den Titel des gegenwärtigen verheißenen<lb/> Gegenstande gewidmet ist, und uns auf die Kunstgeschichte beschränken, zunächst<lb/> aus der Geschichte der bildenden Künste einiges mitteilen. Die „psychologische<lb/> Entwicklungsgeschichte der bildenden Kunst" hat im Unterschiede von der ge¬<lb/> wöhnlichen Kunstgeschichte die psychologischen Motive nachzuweisen, die ur¬<lb/> sprünglich zum künstlerischen Schaffen getrieben und dann die Kunsttätigkeit<lb/> vielfach umgestaltet haben. Während die eigentliche Kunstgeschichte ihr Haupt¬<lb/> augenmerk den Erzeugnissen „der Kunst zuwendet, hinter denen für sie die see¬<lb/> lischen Kräfte zurücktreten, aus denen in Wechselwirkung mit der umgebenden<lb/> Welt diese Objekte hervorgegangen sind, kommt es der Völkerpsychologie auf<lb/> diese Kräfte selbst an, und sie benützt daher umgekehrt die Knnstobjekte nur als<lb/> die äußern Merkmale, in denen sich das innere Leben der Phantasie nach außen<lb/> kundgibt". Die bildende Kunst ist anfangs Augenblickskunst. „Das Kunst¬<lb/> gebilde, etwa eine flüchtig in den Sand gezeichnete oder in Baumrinde geritzte<lb/> oder auch durch zusammengelegte Steine, Baumzweige und ähnliches hergestellte<lb/> Figur, ist eine vergängliche und höchstens für eine ganz kurze Dauer bestimmte<lb/> Schöpfung, die der Wind verweht oder der nächste vorübergehende Mensch zer¬<lb/> stört, wenn er das Material zu andern Zwecken gebrauchen kann. Solche<lb/> Augenblickswerke können entweder als Merkzeichen dienen, die, weil sie nur<lb/> kurze Zeit vorhalten sollen, aus mehr oder minder rasch vergänglichen zufällig<lb/> vorgefundnem Material hergestellt sind; oder sie können Äußerungen eines Spicl-<lb/> tnebs sein, der außer der Lust, die eine solche einen Gegenstand irgendwie an¬<lb/> deutende Tätigkeit bereitet, überhaupt keinen Zweck hat." Wahrscheinlich ist das<lb/> Augenblicksbild als Merkzeichen der zwecklosen Zeichnung vorausgegangen. Um<lb/> Nachbildung, gar um treue Nachbildung ist es dem Künstler nicht zu tun; er<lb/> will bloß andern etwas mitteilen oder seine eigne Vorstellung durch ein an den<lb/> Gegenstand erinnerndes Zeichen befestigen. Nur um diesen Zweck sicherer zu<lb/> ^reichen, gibt er dem Zeichen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gegenstande.<lb/> Erweitert sich der Gesichtskreis des Menschen, dann stellt sich das Bedürfnis<lb/> ein, Merkzeichen für eine entferntere Zukunft zu schaffen. So gestaltet der<lb/> Mensch Idole, Siegeszeichen, Ahnenbilder. Diese Erinnerungskunst ist das. was<lb/> ihr Name besagt, noch in einem zweiten Sinne. Der Künstler bildet die Ge¬<lb/> stalten aus der Erinnerung; er denkt auch jetzt noch nicht daran, nach dem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0483]
Wundes Geschichte der bildenden Künste
Mythus bloß 91 übrig geblieben; 440 werden den Künsten gewidmet. Das
hat sich natürlich erst bei der Ausarbeitung ergeben. Hätte es Wundt voraus¬
gesehen, so würde er wohl die Kunst nicht ausgeschlossen, sondern sie von vorn¬
herein in den Plan des Werkes aufgenommen und dieses in vier Teile ge¬
gliedert haben: Sprache; Kunst; Mythus und Religion; Sitte. Die 91 Seiten
über den Mythus, die doch wohl nur. aus dem Umfange des Sprachwerks und
der Kunstepisode zu schließen, die Bedeutung einer Einleitung haben, würden
dann wahrscheinlich nicht diesem sondern dem folgenden Bande angefügt worden
sein. Wir wollen deswegen mit dem Bericht darüber warten, bis der Band
erschienen sein wird, der dem durch den Titel des gegenwärtigen verheißenen
Gegenstande gewidmet ist, und uns auf die Kunstgeschichte beschränken, zunächst
aus der Geschichte der bildenden Künste einiges mitteilen. Die „psychologische
Entwicklungsgeschichte der bildenden Kunst" hat im Unterschiede von der ge¬
wöhnlichen Kunstgeschichte die psychologischen Motive nachzuweisen, die ur¬
sprünglich zum künstlerischen Schaffen getrieben und dann die Kunsttätigkeit
vielfach umgestaltet haben. Während die eigentliche Kunstgeschichte ihr Haupt¬
augenmerk den Erzeugnissen „der Kunst zuwendet, hinter denen für sie die see¬
lischen Kräfte zurücktreten, aus denen in Wechselwirkung mit der umgebenden
Welt diese Objekte hervorgegangen sind, kommt es der Völkerpsychologie auf
diese Kräfte selbst an, und sie benützt daher umgekehrt die Knnstobjekte nur als
die äußern Merkmale, in denen sich das innere Leben der Phantasie nach außen
kundgibt". Die bildende Kunst ist anfangs Augenblickskunst. „Das Kunst¬
gebilde, etwa eine flüchtig in den Sand gezeichnete oder in Baumrinde geritzte
oder auch durch zusammengelegte Steine, Baumzweige und ähnliches hergestellte
Figur, ist eine vergängliche und höchstens für eine ganz kurze Dauer bestimmte
Schöpfung, die der Wind verweht oder der nächste vorübergehende Mensch zer¬
stört, wenn er das Material zu andern Zwecken gebrauchen kann. Solche
Augenblickswerke können entweder als Merkzeichen dienen, die, weil sie nur
kurze Zeit vorhalten sollen, aus mehr oder minder rasch vergänglichen zufällig
vorgefundnem Material hergestellt sind; oder sie können Äußerungen eines Spicl-
tnebs sein, der außer der Lust, die eine solche einen Gegenstand irgendwie an¬
deutende Tätigkeit bereitet, überhaupt keinen Zweck hat." Wahrscheinlich ist das
Augenblicksbild als Merkzeichen der zwecklosen Zeichnung vorausgegangen. Um
Nachbildung, gar um treue Nachbildung ist es dem Künstler nicht zu tun; er
will bloß andern etwas mitteilen oder seine eigne Vorstellung durch ein an den
Gegenstand erinnerndes Zeichen befestigen. Nur um diesen Zweck sicherer zu
^reichen, gibt er dem Zeichen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gegenstande.
Erweitert sich der Gesichtskreis des Menschen, dann stellt sich das Bedürfnis
ein, Merkzeichen für eine entferntere Zukunft zu schaffen. So gestaltet der
Mensch Idole, Siegeszeichen, Ahnenbilder. Diese Erinnerungskunst ist das. was
ihr Name besagt, noch in einem zweiten Sinne. Der Künstler bildet die Ge¬
stalten aus der Erinnerung; er denkt auch jetzt noch nicht daran, nach dem
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