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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Wundes Geschichte der bildenden Künste

dieses so entstandne Gefühl legen wir in die wahrgenommne Tonfolge hinein,
fassen diese als Ausdruck des Gefühls eines andern auf, und erst solche Ein¬
fühlung macht den Begriff der Phantasie vollständig. Die Phantasietätigkeit
ist also "nichts, was zu den sonstigen Bewußtseinsvorgängen als ein spezifisches
Erscheinungsgebiet oder als die Äußerung eines besondern Vermögens hinzu¬
käme, sondern sie ist lediglich ein Ausdruck für die seelischen Vorgänge über¬
haupt, wenn diese unter dem Gesichtspunkte der Wechselwirkung äußerer Ein¬
drücke mit den Spuren früherer Erlebnisse und unter der besondern Bedingung
betrachtet werden, daß die aus dieser Wechselwirkung entspringenden Resultanten
Gefühle und Affekte erwecken, die das wahrnehmende Subjekt in die Objekte
projiziert, während es sie doch gleichzeitig als subjektive Erregungen empfindet.
Dieser Prozeß begleitet in einem gewissen Grade alle Inhalte des Bewußtseins,
da es keinen einzigen gibt, bei dem nicht in dieser Weise Wahrnehmung und
Reproduktion unter mehr oder minder starken Gefühlsreaktionen zusammen¬
wirkten." Das Einfühlen wird oft zum Anfühlen, zum Beispiel beim spielenden
Kinde. Dieses hält weder ein Holzstück für eine Puppe, noch die Puppe für
einen lebendigen Menschen. Es erleidet keine Selbsttäuschung. Sondern der
wirkliche Gegenstand, mit dem es spielt, der zwar dem vorgestellten nicht ähnlich
zu sein braucht, aber wenigstens durch irgend etwas daran erinnern muß (wie
durch die längliche Gestalt an den Menschen), wirkt nur als ein Reiz, der die¬
selben Gefühle mitteilt, die von dem vorgestellten Gegenstande ausströmen.
Wundt unterläßt es nicht, bei dieser Gelegenheit eine Wahrheit hervorzuheben,
die von Pädagogen seit fünfzig Jahren vergeblich gepredigt wird, daß unsre
heutigen kostbaren Spielzeuge, die Naturwahrheit anstreben -- gar keine Spiel¬
zeuge sind. "Die naturgetreue Nachbildung wird dem Kinde zu einem Gegen¬
stande der Verwunderung, wenn nicht der Furcht, und der künstliche Automat,
sei er nun eine springende Maus, ein fliegender Vogel oder ein zum wirklichen
Dampfbetrieb eingerichtetes Modell einer Eisenbahn, sie sind Objekte, mit denen
die Phantasie nichts anzufangen weiß, weil dieser alles das vorweggenommen
ist, was sie aus den Objekten machen sollte." Maschinenmodelle und Werk¬
zeuge für Knaben, die keine Kinder mehr sind, als Vorbereitung zum Studium
der Mechanik, gehören nicht mehr in den Bereich des Kinderspiels.

Vom Kinderspiel, zu dem ja auch das Gekritzel des zukünftigen Zeichners
und das Geschichtenersinnen gehört, führt die Entwicklung in unmerklichen Über¬
gängen in die Künste hinein, die das eigentliche Herrschaftsgebiet der Phantasie
ausmachen, und deren Entstehung unlöslich mit der Entstehung des Mythus
verflochten ist. Eine Durchmusterung der Phantasietütigkeit in den Künsten
ließ sich also nicht abweisen, und da ist es denn dem Verfasser seltsam ergangen.
Er hat in der Einleitung zum ganzen Werk über die Kunst die Ausschließung
aus der Völkerpsychologie verhängt, der vorliegende Band aber ist ihm der
Hauptsache nach zu einer höchst originellen Geschichte der bildenden und der
musischen Künste geworden. Von den 617 Seiten des Buches sind für den


Wundes Geschichte der bildenden Künste

dieses so entstandne Gefühl legen wir in die wahrgenommne Tonfolge hinein,
fassen diese als Ausdruck des Gefühls eines andern auf, und erst solche Ein¬
fühlung macht den Begriff der Phantasie vollständig. Die Phantasietätigkeit
ist also „nichts, was zu den sonstigen Bewußtseinsvorgängen als ein spezifisches
Erscheinungsgebiet oder als die Äußerung eines besondern Vermögens hinzu¬
käme, sondern sie ist lediglich ein Ausdruck für die seelischen Vorgänge über¬
haupt, wenn diese unter dem Gesichtspunkte der Wechselwirkung äußerer Ein¬
drücke mit den Spuren früherer Erlebnisse und unter der besondern Bedingung
betrachtet werden, daß die aus dieser Wechselwirkung entspringenden Resultanten
Gefühle und Affekte erwecken, die das wahrnehmende Subjekt in die Objekte
projiziert, während es sie doch gleichzeitig als subjektive Erregungen empfindet.
Dieser Prozeß begleitet in einem gewissen Grade alle Inhalte des Bewußtseins,
da es keinen einzigen gibt, bei dem nicht in dieser Weise Wahrnehmung und
Reproduktion unter mehr oder minder starken Gefühlsreaktionen zusammen¬
wirkten." Das Einfühlen wird oft zum Anfühlen, zum Beispiel beim spielenden
Kinde. Dieses hält weder ein Holzstück für eine Puppe, noch die Puppe für
einen lebendigen Menschen. Es erleidet keine Selbsttäuschung. Sondern der
wirkliche Gegenstand, mit dem es spielt, der zwar dem vorgestellten nicht ähnlich
zu sein braucht, aber wenigstens durch irgend etwas daran erinnern muß (wie
durch die längliche Gestalt an den Menschen), wirkt nur als ein Reiz, der die¬
selben Gefühle mitteilt, die von dem vorgestellten Gegenstande ausströmen.
Wundt unterläßt es nicht, bei dieser Gelegenheit eine Wahrheit hervorzuheben,
die von Pädagogen seit fünfzig Jahren vergeblich gepredigt wird, daß unsre
heutigen kostbaren Spielzeuge, die Naturwahrheit anstreben — gar keine Spiel¬
zeuge sind. „Die naturgetreue Nachbildung wird dem Kinde zu einem Gegen¬
stande der Verwunderung, wenn nicht der Furcht, und der künstliche Automat,
sei er nun eine springende Maus, ein fliegender Vogel oder ein zum wirklichen
Dampfbetrieb eingerichtetes Modell einer Eisenbahn, sie sind Objekte, mit denen
die Phantasie nichts anzufangen weiß, weil dieser alles das vorweggenommen
ist, was sie aus den Objekten machen sollte." Maschinenmodelle und Werk¬
zeuge für Knaben, die keine Kinder mehr sind, als Vorbereitung zum Studium
der Mechanik, gehören nicht mehr in den Bereich des Kinderspiels.

Vom Kinderspiel, zu dem ja auch das Gekritzel des zukünftigen Zeichners
und das Geschichtenersinnen gehört, führt die Entwicklung in unmerklichen Über¬
gängen in die Künste hinein, die das eigentliche Herrschaftsgebiet der Phantasie
ausmachen, und deren Entstehung unlöslich mit der Entstehung des Mythus
verflochten ist. Eine Durchmusterung der Phantasietütigkeit in den Künsten
ließ sich also nicht abweisen, und da ist es denn dem Verfasser seltsam ergangen.
Er hat in der Einleitung zum ganzen Werk über die Kunst die Ausschließung
aus der Völkerpsychologie verhängt, der vorliegende Band aber ist ihm der
Hauptsache nach zu einer höchst originellen Geschichte der bildenden und der
musischen Künste geworden. Von den 617 Seiten des Buches sind für den


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[0482] Wundes Geschichte der bildenden Künste dieses so entstandne Gefühl legen wir in die wahrgenommne Tonfolge hinein, fassen diese als Ausdruck des Gefühls eines andern auf, und erst solche Ein¬ fühlung macht den Begriff der Phantasie vollständig. Die Phantasietätigkeit ist also „nichts, was zu den sonstigen Bewußtseinsvorgängen als ein spezifisches Erscheinungsgebiet oder als die Äußerung eines besondern Vermögens hinzu¬ käme, sondern sie ist lediglich ein Ausdruck für die seelischen Vorgänge über¬ haupt, wenn diese unter dem Gesichtspunkte der Wechselwirkung äußerer Ein¬ drücke mit den Spuren früherer Erlebnisse und unter der besondern Bedingung betrachtet werden, daß die aus dieser Wechselwirkung entspringenden Resultanten Gefühle und Affekte erwecken, die das wahrnehmende Subjekt in die Objekte projiziert, während es sie doch gleichzeitig als subjektive Erregungen empfindet. Dieser Prozeß begleitet in einem gewissen Grade alle Inhalte des Bewußtseins, da es keinen einzigen gibt, bei dem nicht in dieser Weise Wahrnehmung und Reproduktion unter mehr oder minder starken Gefühlsreaktionen zusammen¬ wirkten." Das Einfühlen wird oft zum Anfühlen, zum Beispiel beim spielenden Kinde. Dieses hält weder ein Holzstück für eine Puppe, noch die Puppe für einen lebendigen Menschen. Es erleidet keine Selbsttäuschung. Sondern der wirkliche Gegenstand, mit dem es spielt, der zwar dem vorgestellten nicht ähnlich zu sein braucht, aber wenigstens durch irgend etwas daran erinnern muß (wie durch die längliche Gestalt an den Menschen), wirkt nur als ein Reiz, der die¬ selben Gefühle mitteilt, die von dem vorgestellten Gegenstande ausströmen. Wundt unterläßt es nicht, bei dieser Gelegenheit eine Wahrheit hervorzuheben, die von Pädagogen seit fünfzig Jahren vergeblich gepredigt wird, daß unsre heutigen kostbaren Spielzeuge, die Naturwahrheit anstreben — gar keine Spiel¬ zeuge sind. „Die naturgetreue Nachbildung wird dem Kinde zu einem Gegen¬ stande der Verwunderung, wenn nicht der Furcht, und der künstliche Automat, sei er nun eine springende Maus, ein fliegender Vogel oder ein zum wirklichen Dampfbetrieb eingerichtetes Modell einer Eisenbahn, sie sind Objekte, mit denen die Phantasie nichts anzufangen weiß, weil dieser alles das vorweggenommen ist, was sie aus den Objekten machen sollte." Maschinenmodelle und Werk¬ zeuge für Knaben, die keine Kinder mehr sind, als Vorbereitung zum Studium der Mechanik, gehören nicht mehr in den Bereich des Kinderspiels. Vom Kinderspiel, zu dem ja auch das Gekritzel des zukünftigen Zeichners und das Geschichtenersinnen gehört, führt die Entwicklung in unmerklichen Über¬ gängen in die Künste hinein, die das eigentliche Herrschaftsgebiet der Phantasie ausmachen, und deren Entstehung unlöslich mit der Entstehung des Mythus verflochten ist. Eine Durchmusterung der Phantasietütigkeit in den Künsten ließ sich also nicht abweisen, und da ist es denn dem Verfasser seltsam ergangen. Er hat in der Einleitung zum ganzen Werk über die Kunst die Ausschließung aus der Völkerpsychologie verhängt, der vorliegende Band aber ist ihm der Hauptsache nach zu einer höchst originellen Geschichte der bildenden und der musischen Künste geworden. Von den 617 Seiten des Buches sind für den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/482>, abgerufen am 23.07.2024.