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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Lin neuer Lrzähler

Arztes gesehen erscheint, leben und lieben, hassen und lachen als wirkliche
Menschen. Sie lachen nicht besonders gern, reizen uns aber gelegentlich mit
solcher Unwiderstehlichkeit dazu, daß man ordentlich ausatmet und sich erst er¬
holen muß. Aber wohlgemerkt: Karrillon ist viel zu sehr mit seinen Gestalten
verwachsen, daß er sich gewissermaßen hinter ihrem Rücken über sie lustig
machen könnte. Wir dürfen vielmehr ganz harmlos diesen Bauern wieder die
Hände schütteln, nachdem wir uns ausgelacht haben. Eine Perle in dieser
Art ist die erste Eisenbahnfahrt Michaels und einiger Dorfgenossen, etwas, wie
eine Neutersche Schnurre ins Süddeutsche übertragen. Bei einem andern würde
die Schilderung der von Michaels Vater im Delirium verübten Taten leichtlich
einen Stich ins Frivole bekommen -- bei Karrillon empfinden wir das Schalten
und Walten eines freien, aber guten Humors. Dieser Humor findet sich auch
von selbst zur uns umgebenden Natur und zieht sie ohne breite Milieu¬
schilderung in den Kreis des Erzählten hinein. Noch besser freilich weiß
Karrillon durch Hausrat und Herddämmerlicht zu charakterisieren als durch den
freien Himmel und das klare Tageslicht.

Mit voller Poetenkraft ist Michael Hely selbst gegeben, der gewissermaßen
mäandrisch in sich zurückläuft -- von der Einsamkeit der Kindheit in die
Einsamkeit des Alters; dazwischen liegt eine Strecke stillen Liebesglücks und
ein schwarzer Weg kameradschaftlicher Kriegsstrapazen. Der junge und der
alte Hely sind gleich fein gezeichnet. Da aber, wo Karrillon die Anschauung
fehlt, bei den Erinnerungen Helys an feine Zeit in der afrikanischen Fremden¬
legion, versagt die darstellerische Kraft. Die lange Erzählung von dem Ver¬
brechen des Zeltkameraden und seiner Sühne ist leblos und nicht echt heraus¬
gekommen. Und damit sind wir zu dem Maugel gelangt, der sich durch den
ganzen Roman zieht: Karrillon kann seine Menschen nicht sprechen lassen. Es
ist ihm nicht gegeben, sie in direkter Rede vorzuführen. Ihre Worte werden
dann tote Buchstaben, wunderliches Papierdeutsch, und alles blühende Leben
ist wie fortgeweht. Mancher könnte nun glauben, damit sei der Erzählung
Karrillons überhaupt das Urteil gesprochen, und dieser Fehler wiege alle Vor¬
züge auf. Aber dem ist keineswegs so. Denn Karrillon wirtschaftet sehr klug
mit seinen Mitteln. Seiner Grenzen sich bewußt, spart er an Rede von Mensch
zu Mensch, soviel er irgend kann, und verbirgt sehr geschickt, was seiner
Schöpfung Reiz und warmen Klang nehmen könnte.

So hoch "Michael Hely" über die Geltung eines bloßen Unterhaltungs¬
romans in den Bezirk selbstvollendeter Kunst aufragt -- vor allem durch die
Gestalt des Helden --, so tief sinkt Karrillons zuletzt, einige Jahre nach dem
"Hely", erschienener Roman "Die Mühle zu Husterloh" (Berlin, G. Grote)
auf das Niveau gewöhnlicher Unterhaltungslektüre hinab. Es ist nach jenem
Werk eine grausame Enttäuschung. Selten erkennt man an einzelnen Szenen
den Menschcndarsteller, immer wieder stört die künstliche Gruppierung, die
künstlich gebaute Rede und Gegenrede, das unwahrhaftige Selbstgespräch.


Lin neuer Lrzähler

Arztes gesehen erscheint, leben und lieben, hassen und lachen als wirkliche
Menschen. Sie lachen nicht besonders gern, reizen uns aber gelegentlich mit
solcher Unwiderstehlichkeit dazu, daß man ordentlich ausatmet und sich erst er¬
holen muß. Aber wohlgemerkt: Karrillon ist viel zu sehr mit seinen Gestalten
verwachsen, daß er sich gewissermaßen hinter ihrem Rücken über sie lustig
machen könnte. Wir dürfen vielmehr ganz harmlos diesen Bauern wieder die
Hände schütteln, nachdem wir uns ausgelacht haben. Eine Perle in dieser
Art ist die erste Eisenbahnfahrt Michaels und einiger Dorfgenossen, etwas, wie
eine Neutersche Schnurre ins Süddeutsche übertragen. Bei einem andern würde
die Schilderung der von Michaels Vater im Delirium verübten Taten leichtlich
einen Stich ins Frivole bekommen — bei Karrillon empfinden wir das Schalten
und Walten eines freien, aber guten Humors. Dieser Humor findet sich auch
von selbst zur uns umgebenden Natur und zieht sie ohne breite Milieu¬
schilderung in den Kreis des Erzählten hinein. Noch besser freilich weiß
Karrillon durch Hausrat und Herddämmerlicht zu charakterisieren als durch den
freien Himmel und das klare Tageslicht.

Mit voller Poetenkraft ist Michael Hely selbst gegeben, der gewissermaßen
mäandrisch in sich zurückläuft — von der Einsamkeit der Kindheit in die
Einsamkeit des Alters; dazwischen liegt eine Strecke stillen Liebesglücks und
ein schwarzer Weg kameradschaftlicher Kriegsstrapazen. Der junge und der
alte Hely sind gleich fein gezeichnet. Da aber, wo Karrillon die Anschauung
fehlt, bei den Erinnerungen Helys an feine Zeit in der afrikanischen Fremden¬
legion, versagt die darstellerische Kraft. Die lange Erzählung von dem Ver¬
brechen des Zeltkameraden und seiner Sühne ist leblos und nicht echt heraus¬
gekommen. Und damit sind wir zu dem Maugel gelangt, der sich durch den
ganzen Roman zieht: Karrillon kann seine Menschen nicht sprechen lassen. Es
ist ihm nicht gegeben, sie in direkter Rede vorzuführen. Ihre Worte werden
dann tote Buchstaben, wunderliches Papierdeutsch, und alles blühende Leben
ist wie fortgeweht. Mancher könnte nun glauben, damit sei der Erzählung
Karrillons überhaupt das Urteil gesprochen, und dieser Fehler wiege alle Vor¬
züge auf. Aber dem ist keineswegs so. Denn Karrillon wirtschaftet sehr klug
mit seinen Mitteln. Seiner Grenzen sich bewußt, spart er an Rede von Mensch
zu Mensch, soviel er irgend kann, und verbirgt sehr geschickt, was seiner
Schöpfung Reiz und warmen Klang nehmen könnte.

So hoch „Michael Hely" über die Geltung eines bloßen Unterhaltungs¬
romans in den Bezirk selbstvollendeter Kunst aufragt — vor allem durch die
Gestalt des Helden —, so tief sinkt Karrillons zuletzt, einige Jahre nach dem
„Hely", erschienener Roman „Die Mühle zu Husterloh" (Berlin, G. Grote)
auf das Niveau gewöhnlicher Unterhaltungslektüre hinab. Es ist nach jenem
Werk eine grausame Enttäuschung. Selten erkennt man an einzelnen Szenen
den Menschcndarsteller, immer wieder stört die künstliche Gruppierung, die
künstlich gebaute Rede und Gegenrede, das unwahrhaftige Selbstgespräch.


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[0048] Lin neuer Lrzähler Arztes gesehen erscheint, leben und lieben, hassen und lachen als wirkliche Menschen. Sie lachen nicht besonders gern, reizen uns aber gelegentlich mit solcher Unwiderstehlichkeit dazu, daß man ordentlich ausatmet und sich erst er¬ holen muß. Aber wohlgemerkt: Karrillon ist viel zu sehr mit seinen Gestalten verwachsen, daß er sich gewissermaßen hinter ihrem Rücken über sie lustig machen könnte. Wir dürfen vielmehr ganz harmlos diesen Bauern wieder die Hände schütteln, nachdem wir uns ausgelacht haben. Eine Perle in dieser Art ist die erste Eisenbahnfahrt Michaels und einiger Dorfgenossen, etwas, wie eine Neutersche Schnurre ins Süddeutsche übertragen. Bei einem andern würde die Schilderung der von Michaels Vater im Delirium verübten Taten leichtlich einen Stich ins Frivole bekommen — bei Karrillon empfinden wir das Schalten und Walten eines freien, aber guten Humors. Dieser Humor findet sich auch von selbst zur uns umgebenden Natur und zieht sie ohne breite Milieu¬ schilderung in den Kreis des Erzählten hinein. Noch besser freilich weiß Karrillon durch Hausrat und Herddämmerlicht zu charakterisieren als durch den freien Himmel und das klare Tageslicht. Mit voller Poetenkraft ist Michael Hely selbst gegeben, der gewissermaßen mäandrisch in sich zurückläuft — von der Einsamkeit der Kindheit in die Einsamkeit des Alters; dazwischen liegt eine Strecke stillen Liebesglücks und ein schwarzer Weg kameradschaftlicher Kriegsstrapazen. Der junge und der alte Hely sind gleich fein gezeichnet. Da aber, wo Karrillon die Anschauung fehlt, bei den Erinnerungen Helys an feine Zeit in der afrikanischen Fremden¬ legion, versagt die darstellerische Kraft. Die lange Erzählung von dem Ver¬ brechen des Zeltkameraden und seiner Sühne ist leblos und nicht echt heraus¬ gekommen. Und damit sind wir zu dem Maugel gelangt, der sich durch den ganzen Roman zieht: Karrillon kann seine Menschen nicht sprechen lassen. Es ist ihm nicht gegeben, sie in direkter Rede vorzuführen. Ihre Worte werden dann tote Buchstaben, wunderliches Papierdeutsch, und alles blühende Leben ist wie fortgeweht. Mancher könnte nun glauben, damit sei der Erzählung Karrillons überhaupt das Urteil gesprochen, und dieser Fehler wiege alle Vor¬ züge auf. Aber dem ist keineswegs so. Denn Karrillon wirtschaftet sehr klug mit seinen Mitteln. Seiner Grenzen sich bewußt, spart er an Rede von Mensch zu Mensch, soviel er irgend kann, und verbirgt sehr geschickt, was seiner Schöpfung Reiz und warmen Klang nehmen könnte. So hoch „Michael Hely" über die Geltung eines bloßen Unterhaltungs¬ romans in den Bezirk selbstvollendeter Kunst aufragt — vor allem durch die Gestalt des Helden —, so tief sinkt Karrillons zuletzt, einige Jahre nach dem „Hely", erschienener Roman „Die Mühle zu Husterloh" (Berlin, G. Grote) auf das Niveau gewöhnlicher Unterhaltungslektüre hinab. Es ist nach jenem Werk eine grausame Enttäuschung. Selten erkennt man an einzelnen Szenen den Menschcndarsteller, immer wieder stört die künstliche Gruppierung, die künstlich gebaute Rede und Gegenrede, das unwahrhaftige Selbstgespräch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/48>, abgerufen am 23.07.2024.