Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vor vierzig Jahren

versammelten Truppen beobachten. Unermeßliche Trainzüge hielten die ganze
innere Stadt hindurch fast von einem Tor zum andern, auf dem Markte, um
die Joyanniskirche. in der Webergasse stand alles voll von requiriertem Fuhr¬
werk, und der Platz vor dem Böhmischen Tore wie die Straße nach der
Spittclbrücke starrte von Helmspitzen, Bajonetten und Lanzen.

Mitten in dieser flutenden Bewegung kehrte um acht Uhr zu unsrer
freudigen Überraschung mein Vater glücklich zurück. Die Deputation war
früh vier Uhr von Görlitz aufgebrochen und hatte bis Ostritz nur einzelne
Wagen und eine Herde von Schlachtochsen getroffen, dann aber einen unab¬
sehbaren Zug vou Wagen mit Vorräten aller Art passiert; endlich bei Hirsch-
felde hatte sie ein pommersches Infanterieregiment erreicht, weiterhin die
Wagen der Feldpost, des Fcldtelegraphen und des Hauptquartiers. "Es ist
wie prachtvolle Armee", sagte mein Vater nachdenklich. Nachher begleitete
ich ihn aufs Rathaus, wo er Bericht abstatten wollte, und ich mich zum
Dienst bei der Verpflegungsdepntation meldete, denn es war klar, daß die
gewaltigen Durchmärsche uoch mancherlei Requisitionen im einzelnen veran¬
lassen würden. Und nun begann um neun Uhr der Durchmarsch der dritten
Division Werber des zweiten (pommerschen) Armeekorps, ein unvergeßliches,
imposantes Bild in diesem charaktervoller Nahmen des schönen, saalartig ge¬
schlossenen Marktes zwischen dem palastähnlichen Rathause und den hohen,
stattlichen Däusern seiner Fronten, von denen das eine und andre noch in
reicheni Barock ans der alten Blütezeit der Stadt vor 1757 prangt. Drei
Stunden lang, bis gegen zwölf Uhr, zogen die Regimenter in breiter Front
trüber, die berittnen Offiziere ihren Abteilungen voraus, dahinter die Patronen-
Wagen, im strammen Gleichtritt unter dem Rasseln ihrer Trommeln und den
scharfen Tönen der Pickelflöte. Manches Bataillon kam singend heran, doch
was sie sangen war ernst, fast wehmütig; seltsam ergreifend klang der Kehr¬
reim des einen Liedes: "Leb wohl, auf Wiedersehn." Wie viele von deu
Tausenden kräftiger junger Männer, die da unter uns vorbeimarschierten,
haben ihre Heimat nicht wiedergesehen! Mitten dazwischen kam das prächtige
wie Zietenhusareuregimcnt mit Hellem Hufschlag vorüber (der größte Teil
der Kavallerie ging um die Promenade), dann folgten dnmpfrollend dre
Batterien der Division, endlich die Bagage. Ju kurzeu Zwischenrüumcn er¬
schienen Offiziere auf dem Rathause mit der oder jener kleine.: Forderung;
der eine verlangte ^nfbeschlag für zwei Pferde, ein andrer fünf fehlende Pfund
bei einer Brotliefernng. ein dritter erkundigte sich nach dem Schlachthofe. Es
war ein ewiges Kommen und Gehen, und den Herren vom Rate sah man
^e Abspannung dieser bewegten Tage und Nächte an. ^

Endlich war es vorläufig zu Ende, und wir gingen nach Hause, ^a
k"'"me kurz nach dem Mittagessen die Frau eines jüngern Kollegen ^neues
Baders in Heller Verzweiflung an- ihr Mann, der Gymnasiallehrer Dr. A TMas.
^ soeben vor dem Böhmischen Tore, während er sich als gewissenhafter


vor vierzig Jahren

versammelten Truppen beobachten. Unermeßliche Trainzüge hielten die ganze
innere Stadt hindurch fast von einem Tor zum andern, auf dem Markte, um
die Joyanniskirche. in der Webergasse stand alles voll von requiriertem Fuhr¬
werk, und der Platz vor dem Böhmischen Tore wie die Straße nach der
Spittclbrücke starrte von Helmspitzen, Bajonetten und Lanzen.

Mitten in dieser flutenden Bewegung kehrte um acht Uhr zu unsrer
freudigen Überraschung mein Vater glücklich zurück. Die Deputation war
früh vier Uhr von Görlitz aufgebrochen und hatte bis Ostritz nur einzelne
Wagen und eine Herde von Schlachtochsen getroffen, dann aber einen unab¬
sehbaren Zug vou Wagen mit Vorräten aller Art passiert; endlich bei Hirsch-
felde hatte sie ein pommersches Infanterieregiment erreicht, weiterhin die
Wagen der Feldpost, des Fcldtelegraphen und des Hauptquartiers. „Es ist
wie prachtvolle Armee", sagte mein Vater nachdenklich. Nachher begleitete
ich ihn aufs Rathaus, wo er Bericht abstatten wollte, und ich mich zum
Dienst bei der Verpflegungsdepntation meldete, denn es war klar, daß die
gewaltigen Durchmärsche uoch mancherlei Requisitionen im einzelnen veran¬
lassen würden. Und nun begann um neun Uhr der Durchmarsch der dritten
Division Werber des zweiten (pommerschen) Armeekorps, ein unvergeßliches,
imposantes Bild in diesem charaktervoller Nahmen des schönen, saalartig ge¬
schlossenen Marktes zwischen dem palastähnlichen Rathause und den hohen,
stattlichen Däusern seiner Fronten, von denen das eine und andre noch in
reicheni Barock ans der alten Blütezeit der Stadt vor 1757 prangt. Drei
Stunden lang, bis gegen zwölf Uhr, zogen die Regimenter in breiter Front
trüber, die berittnen Offiziere ihren Abteilungen voraus, dahinter die Patronen-
Wagen, im strammen Gleichtritt unter dem Rasseln ihrer Trommeln und den
scharfen Tönen der Pickelflöte. Manches Bataillon kam singend heran, doch
was sie sangen war ernst, fast wehmütig; seltsam ergreifend klang der Kehr¬
reim des einen Liedes: „Leb wohl, auf Wiedersehn." Wie viele von deu
Tausenden kräftiger junger Männer, die da unter uns vorbeimarschierten,
haben ihre Heimat nicht wiedergesehen! Mitten dazwischen kam das prächtige
wie Zietenhusareuregimcnt mit Hellem Hufschlag vorüber (der größte Teil
der Kavallerie ging um die Promenade), dann folgten dnmpfrollend dre
Batterien der Division, endlich die Bagage. Ju kurzeu Zwischenrüumcn er¬
schienen Offiziere auf dem Rathause mit der oder jener kleine.: Forderung;
der eine verlangte ^nfbeschlag für zwei Pferde, ein andrer fünf fehlende Pfund
bei einer Brotliefernng. ein dritter erkundigte sich nach dem Schlachthofe. Es
war ein ewiges Kommen und Gehen, und den Herren vom Rate sah man
^e Abspannung dieser bewegten Tage und Nächte an. ^

Endlich war es vorläufig zu Ende, und wir gingen nach Hause, ^a
k»'"me kurz nach dem Mittagessen die Frau eines jüngern Kollegen ^neues
Baders in Heller Verzweiflung an- ihr Mann, der Gymnasiallehrer Dr. A TMas.
^ soeben vor dem Böhmischen Tore, während er sich als gewissenhafter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300976"/>
          <fw type="header" place="top"> vor vierzig Jahren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1955" prev="#ID_1954"> versammelten Truppen beobachten. Unermeßliche Trainzüge hielten die ganze<lb/>
innere Stadt hindurch fast von einem Tor zum andern, auf dem Markte, um<lb/>
die Joyanniskirche. in der Webergasse stand alles voll von requiriertem Fuhr¬<lb/>
werk, und der Platz vor dem Böhmischen Tore wie die Straße nach der<lb/>
Spittclbrücke starrte von Helmspitzen, Bajonetten und Lanzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1956"> Mitten in dieser flutenden Bewegung kehrte um acht Uhr zu unsrer<lb/>
freudigen Überraschung mein Vater glücklich zurück. Die Deputation war<lb/>
früh vier Uhr von Görlitz aufgebrochen und hatte bis Ostritz nur einzelne<lb/>
Wagen und eine Herde von Schlachtochsen getroffen, dann aber einen unab¬<lb/>
sehbaren Zug vou Wagen mit Vorräten aller Art passiert; endlich bei Hirsch-<lb/>
felde hatte sie ein pommersches Infanterieregiment erreicht, weiterhin die<lb/>
Wagen der Feldpost, des Fcldtelegraphen und des Hauptquartiers. &#x201E;Es ist<lb/>
wie prachtvolle Armee", sagte mein Vater nachdenklich. Nachher begleitete<lb/>
ich ihn aufs Rathaus, wo er Bericht abstatten wollte, und ich mich zum<lb/>
Dienst bei der Verpflegungsdepntation meldete, denn es war klar, daß die<lb/>
gewaltigen Durchmärsche uoch mancherlei Requisitionen im einzelnen veran¬<lb/>
lassen würden. Und nun begann um neun Uhr der Durchmarsch der dritten<lb/>
Division Werber des zweiten (pommerschen) Armeekorps, ein unvergeßliches,<lb/>
imposantes Bild in diesem charaktervoller Nahmen des schönen, saalartig ge¬<lb/>
schlossenen Marktes zwischen dem palastähnlichen Rathause und den hohen,<lb/>
stattlichen Däusern seiner Fronten, von denen das eine und andre noch in<lb/>
reicheni Barock ans der alten Blütezeit der Stadt vor 1757 prangt. Drei<lb/>
Stunden lang, bis gegen zwölf Uhr, zogen die Regimenter in breiter Front<lb/>
trüber, die berittnen Offiziere ihren Abteilungen voraus, dahinter die Patronen-<lb/>
Wagen, im strammen Gleichtritt unter dem Rasseln ihrer Trommeln und den<lb/>
scharfen Tönen der Pickelflöte. Manches Bataillon kam singend heran, doch<lb/>
was sie sangen war ernst, fast wehmütig; seltsam ergreifend klang der Kehr¬<lb/>
reim des einen Liedes: &#x201E;Leb wohl, auf Wiedersehn." Wie viele von deu<lb/>
Tausenden kräftiger junger Männer, die da unter uns vorbeimarschierten,<lb/>
haben ihre Heimat nicht wiedergesehen! Mitten dazwischen kam das prächtige<lb/>
wie Zietenhusareuregimcnt mit Hellem Hufschlag vorüber (der größte Teil<lb/>
der Kavallerie ging um die Promenade), dann folgten dnmpfrollend dre<lb/>
Batterien der Division, endlich die Bagage. Ju kurzeu Zwischenrüumcn er¬<lb/>
schienen Offiziere auf dem Rathause mit der oder jener kleine.: Forderung;<lb/>
der eine verlangte ^nfbeschlag für zwei Pferde, ein andrer fünf fehlende Pfund<lb/>
bei einer Brotliefernng. ein dritter erkundigte sich nach dem Schlachthofe. Es<lb/>
war ein ewiges Kommen und Gehen, und den Herren vom Rate sah man<lb/>
^e Abspannung dieser bewegten Tage und Nächte an. ^</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1957" next="#ID_1958"> Endlich war es vorläufig zu Ende, und wir gingen nach Hause, ^a<lb/>
k»'"me kurz nach dem Mittagessen die Frau eines jüngern Kollegen ^neues<lb/>
Baders in Heller Verzweiflung an- ihr Mann, der Gymnasiallehrer Dr. A TMas.<lb/>
^ soeben vor dem Böhmischen Tore, während er sich als gewissenhafter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] vor vierzig Jahren versammelten Truppen beobachten. Unermeßliche Trainzüge hielten die ganze innere Stadt hindurch fast von einem Tor zum andern, auf dem Markte, um die Joyanniskirche. in der Webergasse stand alles voll von requiriertem Fuhr¬ werk, und der Platz vor dem Böhmischen Tore wie die Straße nach der Spittclbrücke starrte von Helmspitzen, Bajonetten und Lanzen. Mitten in dieser flutenden Bewegung kehrte um acht Uhr zu unsrer freudigen Überraschung mein Vater glücklich zurück. Die Deputation war früh vier Uhr von Görlitz aufgebrochen und hatte bis Ostritz nur einzelne Wagen und eine Herde von Schlachtochsen getroffen, dann aber einen unab¬ sehbaren Zug vou Wagen mit Vorräten aller Art passiert; endlich bei Hirsch- felde hatte sie ein pommersches Infanterieregiment erreicht, weiterhin die Wagen der Feldpost, des Fcldtelegraphen und des Hauptquartiers. „Es ist wie prachtvolle Armee", sagte mein Vater nachdenklich. Nachher begleitete ich ihn aufs Rathaus, wo er Bericht abstatten wollte, und ich mich zum Dienst bei der Verpflegungsdepntation meldete, denn es war klar, daß die gewaltigen Durchmärsche uoch mancherlei Requisitionen im einzelnen veran¬ lassen würden. Und nun begann um neun Uhr der Durchmarsch der dritten Division Werber des zweiten (pommerschen) Armeekorps, ein unvergeßliches, imposantes Bild in diesem charaktervoller Nahmen des schönen, saalartig ge¬ schlossenen Marktes zwischen dem palastähnlichen Rathause und den hohen, stattlichen Däusern seiner Fronten, von denen das eine und andre noch in reicheni Barock ans der alten Blütezeit der Stadt vor 1757 prangt. Drei Stunden lang, bis gegen zwölf Uhr, zogen die Regimenter in breiter Front trüber, die berittnen Offiziere ihren Abteilungen voraus, dahinter die Patronen- Wagen, im strammen Gleichtritt unter dem Rasseln ihrer Trommeln und den scharfen Tönen der Pickelflöte. Manches Bataillon kam singend heran, doch was sie sangen war ernst, fast wehmütig; seltsam ergreifend klang der Kehr¬ reim des einen Liedes: „Leb wohl, auf Wiedersehn." Wie viele von deu Tausenden kräftiger junger Männer, die da unter uns vorbeimarschierten, haben ihre Heimat nicht wiedergesehen! Mitten dazwischen kam das prächtige wie Zietenhusareuregimcnt mit Hellem Hufschlag vorüber (der größte Teil der Kavallerie ging um die Promenade), dann folgten dnmpfrollend dre Batterien der Division, endlich die Bagage. Ju kurzeu Zwischenrüumcn er¬ schienen Offiziere auf dem Rathause mit der oder jener kleine.: Forderung; der eine verlangte ^nfbeschlag für zwei Pferde, ein andrer fünf fehlende Pfund bei einer Brotliefernng. ein dritter erkundigte sich nach dem Schlachthofe. Es war ein ewiges Kommen und Gehen, und den Herren vom Rate sah man ^e Abspannung dieser bewegten Tage und Nächte an. ^ Endlich war es vorläufig zu Ende, und wir gingen nach Hause, ^a k»'"me kurz nach dem Mittagessen die Frau eines jüngern Kollegen ^neues Baders in Heller Verzweiflung an- ihr Mann, der Gymnasiallehrer Dr. A TMas. ^ soeben vor dem Böhmischen Tore, während er sich als gewissenhafter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/477>, abgerufen am 23.07.2024.