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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

wurden den Mannschaften hier und da Nachrichten von dem westlichen Kriegs¬
schauplatze vorgelesen. Sie erwarteten jenseits der Grenze sofort ans die
Österreicher zu stoßen, ja sie schienen sich auf einen Angriff auf Zitten gefaßt
zir machen; dann wäre das Terrain im Süden der Stadt, das sie besetzt
hatten, mit seinen Flußläufeu, Brücken, Dämmen, Hecken, Gärten und Höfen
für die Verteidigung überaus günstig gewesen. In der Tat wurde noch
gegen Mitternacht in den Häusern angesagt, man solle sich auf eine Alnrmierung
gefaßt macheu; in diesem Falle sei Licht an die Fenster zu stelle". Aber dabei
konnten uns auch die Granaten in die Dächer fahren. Und noch war mein
Vater nicht zurück; wer wußte, wie und wann er durch die vormarschierenden
Kolonnen kam!

So verging eine sorgenvolle Nacht. Und schon früh um vier Uhr wurden
wir durch deu schrillen Ton der Hausklingel geweckt und erschreckt; der Rat
requirierte Brot von den Hauswirtschaften, da seine eignen Vorräte er¬
schöpft waren. Bald darauf geriet alles in Bewegung. Die Bataillone und
Schwadronen formierten sich, die Batterien, die Proviant- und Munitions-
kolonnen machten sich zum Aufbruch fertig, endlose Züge von requirierten Ge¬
schirren kamen durch das Bmitzner Tor von Löbau herein, ebenso rückten die
Truppen ans den benachbarten Dörfern heran. Kurz nach sieben Uhr erschien
der Prinz Friedrich Karl, von Hirschfelde, seinein letzten Hauptquartier, her
kommend, in der Uniform seines roten Zietcnhnsarenregiments, zu Pferde,
"zugeben vou seinem Stäbe. Er ritt um die östliche Promenade, dann die
Böhmische Vorstadt und die Straße nach Grottau hinaus bis zu dem öster¬
reichischen Grenzzollhause. Hier stieg er ab, und dicht an der Straße stehend,
seinen Generalstabschef von Voigts-Nhetz neben sich, befahl er den Einmarsch,
nachdem der Vortrab schon eine halbe Stunde vorher die Grenze überschritten
hatte. Ju endloser Kolonne folgte um Bataillon auf Bataillon, Schwadron
auf Schwadron, Batterie auf Batterie, dazu lauge Wagcnznge aller Art.
Sobald die Truppen deu Prinzen erkannten und den schwarz-gelben Grenz-
schlagbanm erblickten, brachen sie in donnernde Hurrah ans, die sich rollend
fortpflanzte", stundenlang; erst nach zehn Uhr ritt der Prinz weiter über
Grottau nach dem malerischen, hochliegenden Schlosse seines ihm zunächst
stehenden Geguers, des Grafen Clam-Gallas, und nahm hier sein erstes
Hauptquartier auf österreichischem Boden; ein Teil seiner Truppen folgte ihm
ans derselben Straße, ein andrer schwenkte bei Grottau südwärts ab und ging
über den für Artillerie kaum passierbaren "Paß". Zugleich sah man vom
Grenzposten ans dunkle Kolonnen (die siebente Division von Görlitz her, deren
Hauptquartier in der vorhergehenden Nacht im gräflich Einsiedelschen Schlosse
von Reibersdorf gelegen hatte, hinter ihr die vierte, pommersche) ans Neben¬
straßen über Sommerau, Kohlige und Wetzwalde nordöstlich an Grottali
vorbei in der Richtung nach Kratzau (halbwegs zwischen Zitten und Reichen-
berg) ziehen. Inzwischen konnte man mich in Zitten den Vormarsch der hier


vor vierzig Jahren

wurden den Mannschaften hier und da Nachrichten von dem westlichen Kriegs¬
schauplatze vorgelesen. Sie erwarteten jenseits der Grenze sofort ans die
Österreicher zu stoßen, ja sie schienen sich auf einen Angriff auf Zitten gefaßt
zir machen; dann wäre das Terrain im Süden der Stadt, das sie besetzt
hatten, mit seinen Flußläufeu, Brücken, Dämmen, Hecken, Gärten und Höfen
für die Verteidigung überaus günstig gewesen. In der Tat wurde noch
gegen Mitternacht in den Häusern angesagt, man solle sich auf eine Alnrmierung
gefaßt macheu; in diesem Falle sei Licht an die Fenster zu stelle». Aber dabei
konnten uns auch die Granaten in die Dächer fahren. Und noch war mein
Vater nicht zurück; wer wußte, wie und wann er durch die vormarschierenden
Kolonnen kam!

So verging eine sorgenvolle Nacht. Und schon früh um vier Uhr wurden
wir durch deu schrillen Ton der Hausklingel geweckt und erschreckt; der Rat
requirierte Brot von den Hauswirtschaften, da seine eignen Vorräte er¬
schöpft waren. Bald darauf geriet alles in Bewegung. Die Bataillone und
Schwadronen formierten sich, die Batterien, die Proviant- und Munitions-
kolonnen machten sich zum Aufbruch fertig, endlose Züge von requirierten Ge¬
schirren kamen durch das Bmitzner Tor von Löbau herein, ebenso rückten die
Truppen ans den benachbarten Dörfern heran. Kurz nach sieben Uhr erschien
der Prinz Friedrich Karl, von Hirschfelde, seinein letzten Hauptquartier, her
kommend, in der Uniform seines roten Zietcnhnsarenregiments, zu Pferde,
»zugeben vou seinem Stäbe. Er ritt um die östliche Promenade, dann die
Böhmische Vorstadt und die Straße nach Grottau hinaus bis zu dem öster¬
reichischen Grenzzollhause. Hier stieg er ab, und dicht an der Straße stehend,
seinen Generalstabschef von Voigts-Nhetz neben sich, befahl er den Einmarsch,
nachdem der Vortrab schon eine halbe Stunde vorher die Grenze überschritten
hatte. Ju endloser Kolonne folgte um Bataillon auf Bataillon, Schwadron
auf Schwadron, Batterie auf Batterie, dazu lauge Wagcnznge aller Art.
Sobald die Truppen deu Prinzen erkannten und den schwarz-gelben Grenz-
schlagbanm erblickten, brachen sie in donnernde Hurrah ans, die sich rollend
fortpflanzte«, stundenlang; erst nach zehn Uhr ritt der Prinz weiter über
Grottau nach dem malerischen, hochliegenden Schlosse seines ihm zunächst
stehenden Geguers, des Grafen Clam-Gallas, und nahm hier sein erstes
Hauptquartier auf österreichischem Boden; ein Teil seiner Truppen folgte ihm
ans derselben Straße, ein andrer schwenkte bei Grottau südwärts ab und ging
über den für Artillerie kaum passierbaren „Paß". Zugleich sah man vom
Grenzposten ans dunkle Kolonnen (die siebente Division von Görlitz her, deren
Hauptquartier in der vorhergehenden Nacht im gräflich Einsiedelschen Schlosse
von Reibersdorf gelegen hatte, hinter ihr die vierte, pommersche) ans Neben¬
straßen über Sommerau, Kohlige und Wetzwalde nordöstlich an Grottali
vorbei in der Richtung nach Kratzau (halbwegs zwischen Zitten und Reichen-
berg) ziehen. Inzwischen konnte man mich in Zitten den Vormarsch der hier


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/476>, abgerufen am 23.07.2024.