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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

verbannt hat, "diese schönen heidnischen Genüsse, diese Loslassung der mensch¬
lichen Bestie, worin sich Verachtung alles Ernstes, ein göttliches Jasagen zu
sich aus animalischer Fülle und Vollkommenheit verriet". Ist das Leben ein
Tanz, so sind die Zehen die wichtigsten Sinnesorgane. Nietzsche "besitzt ein
so zartes Gefühl in diesen Zehen, daß man es für ein zweites Gesicht, das
einzige, das dem dionysischen Menschen die echte Wirklichkeit offenbart, halten
möchte". Alle apollinischen Bestimmtheiten und Unterscheidungen verschwinden;
es gibt kein Oben und Unten mehr, statt der Menschenstimme ertönt der Dudel¬
sack, Gestammel ersetzt die geordnete Rede. Dann plötzlich nimmt der bacchantisch
rasende wieder die Gestalt des leidenden Gottes an; Dionysos wird ein Pseudo-
christus, Nietzsche nennt sich den Gekreuzigten, und zuletzt bekennt er in einem
halblichten Augenblick, daß das alles nur eine unfreiwillige Parodie der ernsten
Wirklichkeit und insbesondre des Christentums sei.

Nicht um den unglücklichen Dichterphilvsophen zu verhöhnen, geben wir
Proben von der Art, wie ihn der Franzose behandelt, sondern um das Törichte
und Verwerfliche einer Literatur kräftig hervorzuheben, die immer noch einer
unreifen Jugend die Einfülle eines kranken Gehirns als Offenbarungen tiefster
Weisheit anpreist. Inhaltlich können diese vorgeblichen Offenbarungen bei Ver¬
nünftigen wirklich keine andre Reaktion als Heiterkeit hervorrufen, wenn auch
natürlich der Gedanke an den Kranken, dem sie entstammen, mit schmerzlicher
Teilnahme erfüllt. Übrigens liegt dem Franzosen noch aus einem besondern
Grunde das Lachen näher als uns. Er nennt die Pessimismusseuche, mit der
Schopenhauer die Deutschen angesteckt hat, eine mystische und "uns lateinischen
Geistern schwer verständliche Erscheinung". Der leichtblütige und oberflächliche
Romane empfindet die Tragik des Lebens nicht. Deshalb hat die klassische
Literatur der Italiener bloß Komödien, ist das Tragische der französischen
Tragödien bloß pomphafte Rhetorik, und stellen auch die ernstern Spanier die
Konflikte wie ihre Lösungen rein äußerlich dar; ihre einzige echte Tragödie, der
Ritter von der traurigen Gestalt, ist eine Tragikomödie. Der Germane empfindet
die Leiden des Daseins und die Gewissenskonflikte so tief und lebhaft, daß sie
ihm das Herz zerreißen und den Sinn verwirren, wenn er sich nicht beizeiten
entweder eine Hornhaut oder einen tröstlichen Glauben angeschafft hat. Die
tragische Stimmung und das Suchen nach einer Lösung der Welträtsel gehören
also zur Natur des Germanen; ins Krankhafte gehen sie über, wenn einerseits
das Weltelend übertrieben und jeder kleine Schmerz, jede Verletzung der eignen
Eitelkeit z.B., zu einem ungeheuern Unglück aufgebauscht wird, andrerseits die
Lösungsversuche einen abenteuerlichen Charakter annehmen und offenbar einander
widersprechende in einem Atem vorgebracht werden. In beiden Arten krank¬
hafter Verirrung und Überspannung hat Nietzsche den Rekord erreicht und be¬
weist dadurch, nebenbei bemerkt, seine echt germanische Abstammung. Das
Polenblut ist dem romanischen verwandt, leichtflüssig; sollte wirklich, wie er
sich einbildete und wünschte, ein polnischer Graf sein Ahne gewesen sein, so


Apollo und Dionysos

verbannt hat, „diese schönen heidnischen Genüsse, diese Loslassung der mensch¬
lichen Bestie, worin sich Verachtung alles Ernstes, ein göttliches Jasagen zu
sich aus animalischer Fülle und Vollkommenheit verriet". Ist das Leben ein
Tanz, so sind die Zehen die wichtigsten Sinnesorgane. Nietzsche „besitzt ein
so zartes Gefühl in diesen Zehen, daß man es für ein zweites Gesicht, das
einzige, das dem dionysischen Menschen die echte Wirklichkeit offenbart, halten
möchte". Alle apollinischen Bestimmtheiten und Unterscheidungen verschwinden;
es gibt kein Oben und Unten mehr, statt der Menschenstimme ertönt der Dudel¬
sack, Gestammel ersetzt die geordnete Rede. Dann plötzlich nimmt der bacchantisch
rasende wieder die Gestalt des leidenden Gottes an; Dionysos wird ein Pseudo-
christus, Nietzsche nennt sich den Gekreuzigten, und zuletzt bekennt er in einem
halblichten Augenblick, daß das alles nur eine unfreiwillige Parodie der ernsten
Wirklichkeit und insbesondre des Christentums sei.

Nicht um den unglücklichen Dichterphilvsophen zu verhöhnen, geben wir
Proben von der Art, wie ihn der Franzose behandelt, sondern um das Törichte
und Verwerfliche einer Literatur kräftig hervorzuheben, die immer noch einer
unreifen Jugend die Einfülle eines kranken Gehirns als Offenbarungen tiefster
Weisheit anpreist. Inhaltlich können diese vorgeblichen Offenbarungen bei Ver¬
nünftigen wirklich keine andre Reaktion als Heiterkeit hervorrufen, wenn auch
natürlich der Gedanke an den Kranken, dem sie entstammen, mit schmerzlicher
Teilnahme erfüllt. Übrigens liegt dem Franzosen noch aus einem besondern
Grunde das Lachen näher als uns. Er nennt die Pessimismusseuche, mit der
Schopenhauer die Deutschen angesteckt hat, eine mystische und „uns lateinischen
Geistern schwer verständliche Erscheinung". Der leichtblütige und oberflächliche
Romane empfindet die Tragik des Lebens nicht. Deshalb hat die klassische
Literatur der Italiener bloß Komödien, ist das Tragische der französischen
Tragödien bloß pomphafte Rhetorik, und stellen auch die ernstern Spanier die
Konflikte wie ihre Lösungen rein äußerlich dar; ihre einzige echte Tragödie, der
Ritter von der traurigen Gestalt, ist eine Tragikomödie. Der Germane empfindet
die Leiden des Daseins und die Gewissenskonflikte so tief und lebhaft, daß sie
ihm das Herz zerreißen und den Sinn verwirren, wenn er sich nicht beizeiten
entweder eine Hornhaut oder einen tröstlichen Glauben angeschafft hat. Die
tragische Stimmung und das Suchen nach einer Lösung der Welträtsel gehören
also zur Natur des Germanen; ins Krankhafte gehen sie über, wenn einerseits
das Weltelend übertrieben und jeder kleine Schmerz, jede Verletzung der eignen
Eitelkeit z.B., zu einem ungeheuern Unglück aufgebauscht wird, andrerseits die
Lösungsversuche einen abenteuerlichen Charakter annehmen und offenbar einander
widersprechende in einem Atem vorgebracht werden. In beiden Arten krank¬
hafter Verirrung und Überspannung hat Nietzsche den Rekord erreicht und be¬
weist dadurch, nebenbei bemerkt, seine echt germanische Abstammung. Das
Polenblut ist dem romanischen verwandt, leichtflüssig; sollte wirklich, wie er
sich einbildete und wünschte, ein polnischer Graf sein Ahne gewesen sein, so


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[0042] Apollo und Dionysos verbannt hat, „diese schönen heidnischen Genüsse, diese Loslassung der mensch¬ lichen Bestie, worin sich Verachtung alles Ernstes, ein göttliches Jasagen zu sich aus animalischer Fülle und Vollkommenheit verriet". Ist das Leben ein Tanz, so sind die Zehen die wichtigsten Sinnesorgane. Nietzsche „besitzt ein so zartes Gefühl in diesen Zehen, daß man es für ein zweites Gesicht, das einzige, das dem dionysischen Menschen die echte Wirklichkeit offenbart, halten möchte". Alle apollinischen Bestimmtheiten und Unterscheidungen verschwinden; es gibt kein Oben und Unten mehr, statt der Menschenstimme ertönt der Dudel¬ sack, Gestammel ersetzt die geordnete Rede. Dann plötzlich nimmt der bacchantisch rasende wieder die Gestalt des leidenden Gottes an; Dionysos wird ein Pseudo- christus, Nietzsche nennt sich den Gekreuzigten, und zuletzt bekennt er in einem halblichten Augenblick, daß das alles nur eine unfreiwillige Parodie der ernsten Wirklichkeit und insbesondre des Christentums sei. Nicht um den unglücklichen Dichterphilvsophen zu verhöhnen, geben wir Proben von der Art, wie ihn der Franzose behandelt, sondern um das Törichte und Verwerfliche einer Literatur kräftig hervorzuheben, die immer noch einer unreifen Jugend die Einfülle eines kranken Gehirns als Offenbarungen tiefster Weisheit anpreist. Inhaltlich können diese vorgeblichen Offenbarungen bei Ver¬ nünftigen wirklich keine andre Reaktion als Heiterkeit hervorrufen, wenn auch natürlich der Gedanke an den Kranken, dem sie entstammen, mit schmerzlicher Teilnahme erfüllt. Übrigens liegt dem Franzosen noch aus einem besondern Grunde das Lachen näher als uns. Er nennt die Pessimismusseuche, mit der Schopenhauer die Deutschen angesteckt hat, eine mystische und „uns lateinischen Geistern schwer verständliche Erscheinung". Der leichtblütige und oberflächliche Romane empfindet die Tragik des Lebens nicht. Deshalb hat die klassische Literatur der Italiener bloß Komödien, ist das Tragische der französischen Tragödien bloß pomphafte Rhetorik, und stellen auch die ernstern Spanier die Konflikte wie ihre Lösungen rein äußerlich dar; ihre einzige echte Tragödie, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist eine Tragikomödie. Der Germane empfindet die Leiden des Daseins und die Gewissenskonflikte so tief und lebhaft, daß sie ihm das Herz zerreißen und den Sinn verwirren, wenn er sich nicht beizeiten entweder eine Hornhaut oder einen tröstlichen Glauben angeschafft hat. Die tragische Stimmung und das Suchen nach einer Lösung der Welträtsel gehören also zur Natur des Germanen; ins Krankhafte gehen sie über, wenn einerseits das Weltelend übertrieben und jeder kleine Schmerz, jede Verletzung der eignen Eitelkeit z.B., zu einem ungeheuern Unglück aufgebauscht wird, andrerseits die Lösungsversuche einen abenteuerlichen Charakter annehmen und offenbar einander widersprechende in einem Atem vorgebracht werden. In beiden Arten krank¬ hafter Verirrung und Überspannung hat Nietzsche den Rekord erreicht und be¬ weist dadurch, nebenbei bemerkt, seine echt germanische Abstammung. Das Polenblut ist dem romanischen verwandt, leichtflüssig; sollte wirklich, wie er sich einbildete und wünschte, ein polnischer Graf sein Ahne gewesen sein, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/42>, abgerufen am 23.07.2024.