Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hartmann über das Leben

gleichzeitig oder zu verschiednen Zeiten vollzogen habe. Noch fraglicher wird
die Behauptung einstämmigen Ursprungs, wenn man loeiter auseinander
gegangne Typen miteinander vergleicht und zu tiefern Stufen des Tierreichs
hinabsteigt. Lange Zeit pflegte man alle Säugetiere als Zweige desselben
Stammes zu betrachten; aber selbst dies ist zweifelhaft geworden, seitdem man
erkannt hat, daß die Milchdrüsen, auf denen ihre systematische Verwandtschaft
beruhen sollte, bei den australischen Ursäugern (Schnabeltier und Ameisenigel)
einen ganz andern morphologischen Ursprung haben als bei den übrigen
Säugern.. .. Alle Stammbüume größerer Gruppen, die man bisher aufzustellen
versucht hat, sind wertvoll als Möglichkeiten und Vermutungen über etwaige
Zusammenhänge, können aber noch nicht einmal den Wahrscheinlichkeitsgrad
für sich in Anspruch nehmen, der für wissenschaftliche Hypothesen erforderlich
ist. . . . Tatsächlich wissen wir von dem Ursprung der Säugetiere ebensowenig
als von dem der Vögel. Wenn man früher die Vögel von dem fossilen
Archäopteryx ableitete, so bezweifelt man jetzt die genealogische Verwandtschaft
der Vögel mit den Flugechsen nicht minder wie etwa die mit den heutigen
Fledermäusen oder den fliegenden Insekten, sieht vielmehr diese vier Gruppen
von Flugtieren als Parallelerscheinungen auf verschiednen systematischen Stufen
an, als konvergente Anpassungen der Bewegungsorgane an die Bewegung
durch die Luft. Ob die Säugetiere zunächst von Reptilien oder mit Über¬
springung dieser Stufe unmittelbar von Amphibien abstammen, ist uoch heute
eine offne Frage und wird es vielleicht immer bleiben." Für Ellen Key
freilich ist es eine unzweifelhaft feststehende Tatsache, daß nur eine Flugechse
als unsre Ahnfrau zu verehren haben, und da alle Biologen -- außer Haeckel,
aber Hartmann eingeschlossen -- zusammengenommen nicht so viel Hunderte
von Lesern haben wie die gefeierte Schwedin Tausende, so wird wohl dieses
neue Dogma ein paar Menschenalter hindurch ebenso geglaubt werden wie das
Affendogma. Mag unsre Unwissenheit, heißt es weiter bei Hartmann, "noch
so unaufhellbar bleiben, so zweifelt doch kein Biologe mehr daran, daß die
Säugetiere durch eine lange stammesgeschichtliche Entwicklung entstanden sind,
deren Stufen mehr oder weniger Analogien mit uns bekannten noch lebenden
oder ausgestorbnen Typen zeigen mußten. Nur das kann niemand behaupten,
daß irgendeine dieser Ahnenstufen mit einem noch jetzt lebenden oder einem
uns bekannten paläozoischen Typus identisch gewesen sei. Die ganze direkte
Ahnenreihe kann spurlos verschwunden sein, ohne daß sich irgendwelche Neste
von ihr erhalten zu haben brauchen." Wie schon erwähnt worden ist, hat der
Eifer, mit dem eine Zeit lang systematische Verwandtschaften ans genealogische
zurückgeführt wurden, bedeutend nachgelassen, seitdem man erkannt hat, daß
solche Zurückführung noch keine mechanische Erklärung der Entstehung der
Arten ist, und daß alle die Probleme, die mit der Abstammungslehre gelöst
werden sollten, ungelöst fortbestehn. Dasselbe gilt von der Abstammung des
Menschen.: die Suche nach dem mi^ius link hat kaum noch ein Interesse,


Hartmann über das Leben

gleichzeitig oder zu verschiednen Zeiten vollzogen habe. Noch fraglicher wird
die Behauptung einstämmigen Ursprungs, wenn man loeiter auseinander
gegangne Typen miteinander vergleicht und zu tiefern Stufen des Tierreichs
hinabsteigt. Lange Zeit pflegte man alle Säugetiere als Zweige desselben
Stammes zu betrachten; aber selbst dies ist zweifelhaft geworden, seitdem man
erkannt hat, daß die Milchdrüsen, auf denen ihre systematische Verwandtschaft
beruhen sollte, bei den australischen Ursäugern (Schnabeltier und Ameisenigel)
einen ganz andern morphologischen Ursprung haben als bei den übrigen
Säugern.. .. Alle Stammbüume größerer Gruppen, die man bisher aufzustellen
versucht hat, sind wertvoll als Möglichkeiten und Vermutungen über etwaige
Zusammenhänge, können aber noch nicht einmal den Wahrscheinlichkeitsgrad
für sich in Anspruch nehmen, der für wissenschaftliche Hypothesen erforderlich
ist. . . . Tatsächlich wissen wir von dem Ursprung der Säugetiere ebensowenig
als von dem der Vögel. Wenn man früher die Vögel von dem fossilen
Archäopteryx ableitete, so bezweifelt man jetzt die genealogische Verwandtschaft
der Vögel mit den Flugechsen nicht minder wie etwa die mit den heutigen
Fledermäusen oder den fliegenden Insekten, sieht vielmehr diese vier Gruppen
von Flugtieren als Parallelerscheinungen auf verschiednen systematischen Stufen
an, als konvergente Anpassungen der Bewegungsorgane an die Bewegung
durch die Luft. Ob die Säugetiere zunächst von Reptilien oder mit Über¬
springung dieser Stufe unmittelbar von Amphibien abstammen, ist uoch heute
eine offne Frage und wird es vielleicht immer bleiben." Für Ellen Key
freilich ist es eine unzweifelhaft feststehende Tatsache, daß nur eine Flugechse
als unsre Ahnfrau zu verehren haben, und da alle Biologen — außer Haeckel,
aber Hartmann eingeschlossen — zusammengenommen nicht so viel Hunderte
von Lesern haben wie die gefeierte Schwedin Tausende, so wird wohl dieses
neue Dogma ein paar Menschenalter hindurch ebenso geglaubt werden wie das
Affendogma. Mag unsre Unwissenheit, heißt es weiter bei Hartmann, „noch
so unaufhellbar bleiben, so zweifelt doch kein Biologe mehr daran, daß die
Säugetiere durch eine lange stammesgeschichtliche Entwicklung entstanden sind,
deren Stufen mehr oder weniger Analogien mit uns bekannten noch lebenden
oder ausgestorbnen Typen zeigen mußten. Nur das kann niemand behaupten,
daß irgendeine dieser Ahnenstufen mit einem noch jetzt lebenden oder einem
uns bekannten paläozoischen Typus identisch gewesen sei. Die ganze direkte
Ahnenreihe kann spurlos verschwunden sein, ohne daß sich irgendwelche Neste
von ihr erhalten zu haben brauchen." Wie schon erwähnt worden ist, hat der
Eifer, mit dem eine Zeit lang systematische Verwandtschaften ans genealogische
zurückgeführt wurden, bedeutend nachgelassen, seitdem man erkannt hat, daß
solche Zurückführung noch keine mechanische Erklärung der Entstehung der
Arten ist, und daß alle die Probleme, die mit der Abstammungslehre gelöst
werden sollten, ungelöst fortbestehn. Dasselbe gilt von der Abstammung des
Menschen.: die Suche nach dem mi^ius link hat kaum noch ein Interesse,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300913"/>
          <fw type="header" place="top"> Hartmann über das Leben</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1706" prev="#ID_1705" next="#ID_1707"> gleichzeitig oder zu verschiednen Zeiten vollzogen habe. Noch fraglicher wird<lb/>
die Behauptung einstämmigen Ursprungs, wenn man loeiter auseinander<lb/>
gegangne Typen miteinander vergleicht und zu tiefern Stufen des Tierreichs<lb/>
hinabsteigt. Lange Zeit pflegte man alle Säugetiere als Zweige desselben<lb/>
Stammes zu betrachten; aber selbst dies ist zweifelhaft geworden, seitdem man<lb/>
erkannt hat, daß die Milchdrüsen, auf denen ihre systematische Verwandtschaft<lb/>
beruhen sollte, bei den australischen Ursäugern (Schnabeltier und Ameisenigel)<lb/>
einen ganz andern morphologischen Ursprung haben als bei den übrigen<lb/>
Säugern.. .. Alle Stammbüume größerer Gruppen, die man bisher aufzustellen<lb/>
versucht hat, sind wertvoll als Möglichkeiten und Vermutungen über etwaige<lb/>
Zusammenhänge, können aber noch nicht einmal den Wahrscheinlichkeitsgrad<lb/>
für sich in Anspruch nehmen, der für wissenschaftliche Hypothesen erforderlich<lb/>
ist. . . . Tatsächlich wissen wir von dem Ursprung der Säugetiere ebensowenig<lb/>
als von dem der Vögel. Wenn man früher die Vögel von dem fossilen<lb/>
Archäopteryx ableitete, so bezweifelt man jetzt die genealogische Verwandtschaft<lb/>
der Vögel mit den Flugechsen nicht minder wie etwa die mit den heutigen<lb/>
Fledermäusen oder den fliegenden Insekten, sieht vielmehr diese vier Gruppen<lb/>
von Flugtieren als Parallelerscheinungen auf verschiednen systematischen Stufen<lb/>
an, als konvergente Anpassungen der Bewegungsorgane an die Bewegung<lb/>
durch die Luft. Ob die Säugetiere zunächst von Reptilien oder mit Über¬<lb/>
springung dieser Stufe unmittelbar von Amphibien abstammen, ist uoch heute<lb/>
eine offne Frage und wird es vielleicht immer bleiben." Für Ellen Key<lb/>
freilich ist es eine unzweifelhaft feststehende Tatsache, daß nur eine Flugechse<lb/>
als unsre Ahnfrau zu verehren haben, und da alle Biologen &#x2014; außer Haeckel,<lb/>
aber Hartmann eingeschlossen &#x2014; zusammengenommen nicht so viel Hunderte<lb/>
von Lesern haben wie die gefeierte Schwedin Tausende, so wird wohl dieses<lb/>
neue Dogma ein paar Menschenalter hindurch ebenso geglaubt werden wie das<lb/>
Affendogma. Mag unsre Unwissenheit, heißt es weiter bei Hartmann, &#x201E;noch<lb/>
so unaufhellbar bleiben, so zweifelt doch kein Biologe mehr daran, daß die<lb/>
Säugetiere durch eine lange stammesgeschichtliche Entwicklung entstanden sind,<lb/>
deren Stufen mehr oder weniger Analogien mit uns bekannten noch lebenden<lb/>
oder ausgestorbnen Typen zeigen mußten. Nur das kann niemand behaupten,<lb/>
daß irgendeine dieser Ahnenstufen mit einem noch jetzt lebenden oder einem<lb/>
uns bekannten paläozoischen Typus identisch gewesen sei. Die ganze direkte<lb/>
Ahnenreihe kann spurlos verschwunden sein, ohne daß sich irgendwelche Neste<lb/>
von ihr erhalten zu haben brauchen." Wie schon erwähnt worden ist, hat der<lb/>
Eifer, mit dem eine Zeit lang systematische Verwandtschaften ans genealogische<lb/>
zurückgeführt wurden, bedeutend nachgelassen, seitdem man erkannt hat, daß<lb/>
solche Zurückführung noch keine mechanische Erklärung der Entstehung der<lb/>
Arten ist, und daß alle die Probleme, die mit der Abstammungslehre gelöst<lb/>
werden sollten, ungelöst fortbestehn. Dasselbe gilt von der Abstammung des<lb/>
Menschen.: die Suche nach dem mi^ius link hat kaum noch ein Interesse,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0414] Hartmann über das Leben gleichzeitig oder zu verschiednen Zeiten vollzogen habe. Noch fraglicher wird die Behauptung einstämmigen Ursprungs, wenn man loeiter auseinander gegangne Typen miteinander vergleicht und zu tiefern Stufen des Tierreichs hinabsteigt. Lange Zeit pflegte man alle Säugetiere als Zweige desselben Stammes zu betrachten; aber selbst dies ist zweifelhaft geworden, seitdem man erkannt hat, daß die Milchdrüsen, auf denen ihre systematische Verwandtschaft beruhen sollte, bei den australischen Ursäugern (Schnabeltier und Ameisenigel) einen ganz andern morphologischen Ursprung haben als bei den übrigen Säugern.. .. Alle Stammbüume größerer Gruppen, die man bisher aufzustellen versucht hat, sind wertvoll als Möglichkeiten und Vermutungen über etwaige Zusammenhänge, können aber noch nicht einmal den Wahrscheinlichkeitsgrad für sich in Anspruch nehmen, der für wissenschaftliche Hypothesen erforderlich ist. . . . Tatsächlich wissen wir von dem Ursprung der Säugetiere ebensowenig als von dem der Vögel. Wenn man früher die Vögel von dem fossilen Archäopteryx ableitete, so bezweifelt man jetzt die genealogische Verwandtschaft der Vögel mit den Flugechsen nicht minder wie etwa die mit den heutigen Fledermäusen oder den fliegenden Insekten, sieht vielmehr diese vier Gruppen von Flugtieren als Parallelerscheinungen auf verschiednen systematischen Stufen an, als konvergente Anpassungen der Bewegungsorgane an die Bewegung durch die Luft. Ob die Säugetiere zunächst von Reptilien oder mit Über¬ springung dieser Stufe unmittelbar von Amphibien abstammen, ist uoch heute eine offne Frage und wird es vielleicht immer bleiben." Für Ellen Key freilich ist es eine unzweifelhaft feststehende Tatsache, daß nur eine Flugechse als unsre Ahnfrau zu verehren haben, und da alle Biologen — außer Haeckel, aber Hartmann eingeschlossen — zusammengenommen nicht so viel Hunderte von Lesern haben wie die gefeierte Schwedin Tausende, so wird wohl dieses neue Dogma ein paar Menschenalter hindurch ebenso geglaubt werden wie das Affendogma. Mag unsre Unwissenheit, heißt es weiter bei Hartmann, „noch so unaufhellbar bleiben, so zweifelt doch kein Biologe mehr daran, daß die Säugetiere durch eine lange stammesgeschichtliche Entwicklung entstanden sind, deren Stufen mehr oder weniger Analogien mit uns bekannten noch lebenden oder ausgestorbnen Typen zeigen mußten. Nur das kann niemand behaupten, daß irgendeine dieser Ahnenstufen mit einem noch jetzt lebenden oder einem uns bekannten paläozoischen Typus identisch gewesen sei. Die ganze direkte Ahnenreihe kann spurlos verschwunden sein, ohne daß sich irgendwelche Neste von ihr erhalten zu haben brauchen." Wie schon erwähnt worden ist, hat der Eifer, mit dem eine Zeit lang systematische Verwandtschaften ans genealogische zurückgeführt wurden, bedeutend nachgelassen, seitdem man erkannt hat, daß solche Zurückführung noch keine mechanische Erklärung der Entstehung der Arten ist, und daß alle die Probleme, die mit der Abstammungslehre gelöst werden sollten, ungelöst fortbestehn. Dasselbe gilt von der Abstammung des Menschen.: die Suche nach dem mi^ius link hat kaum noch ein Interesse,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/414
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/414>, abgerufen am 23.07.2024.