Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hartwann über das Ledeii

sondern ein Produkt aus dem Zusammenwirken dieser mit den unbekannten
Kräften, die den Stoffwechsel leiten. Der Kristall verhalt sich völlig passiv
beim Wachsen, der Organismus dagegen ist aktiv, wenn seine Aktivität auch
nur in Reaktionen auf äußere Einwirkungen besteht. Beim Kristall erstarrt
jede Form, sobald sie fertig gebildet ist, beim Organismus bleibt sie im Fluß
des Werdens und der Veränderung. Wenn der Kristall in seinem Wachstum
lebte, so lebte er nur dem Tode, dem alsbaldigen Sterben ohne Nachkommen;
der Organismus aber lebt wirklich, denn er lebt nicht dem Tode, sondern dem
Leben, der Erhaltung des Lebens durch die Mauserung und die Fortpflanzung.
Der Kristall läßt die Bedingungen, unter denen er wächst, unverändert; der
Organismus bestrebt sich, die Bedingungen, unter denen er wächst, beständig
zu seinen Gunsten zu verändern; er sucht sich der Umgebung anzupassen und
die Umgebung seinen Zwecken dienstbar zu machen. In diesem mehr oder minder
erfolgreichen Streben nach Veränderung der vorgefunduen Bedingungen liegt
seine Aktivität, die man mit Recht bloß einen andern Ausdruck für sein Leben
genannt hat. Diese Aktivität ist darauf gerichtet, die je nach den Umständen
wechselnden Mittel für die Erhaltung des Lebens zu beschaffen; in diesem Sinn
ist sie Anpassung und Zwecktätigkeit. Als die allem Leben gemeinsame zweck¬
tätige Anpassung aber ist der Stoffwechsel zu bezeichnen, der allein es ermöglicht,
der Erstarrungstendenz der Schäume und Gallerten zum Trotz immer für
flüssige Schäume und Gallerten als unentbehrliche Grundlage des Lebens vor-
zusorgen." Schaum ist nämlich die Form des Unorganischen, in der dieses vom
Organismus angeeignet wird, und zugleich das Vorbild des organischen Zell¬
gewebes. Er entsteht, wenn sich zwei Flüssigkeiten von verschiednen Dichtigkeits¬
oder Zähigkeitsgradc mischen. Jede von ihnen bildet Bläschen, die sich durch
Häutchen gegeneinander abschließen. Sind diese Bläschen und Hündchen
mikroskopisch klein, so heißt der Schaum eine Gallert. "Wir kennen auch in
der unorganischen Natur Gebilde, deren Form sich trotz dem Wechsel des sie
bildenden Stoffes und gerade durch diesen Wechsel dauernd erhält, z. B. den
Wasserfall, den Springbrunnen, die Flamme. Im natürlichen Wasserfall sind
die Maschinenbcdingungen (das wasserführende Flußbett, die Felswand) konstant,
soweit sie uicht vom Wasserfall selbst allmählich zerstört werden; beim Spring¬
brunnen und bei einer Flamme von sich selbst gleichbleibender Form und ört¬
licher Stellung sind sie mit bewußter Absicht künstlich herbeigeführt worden
und werden so (durch Docht, Brenner, Speisung) unterhalten. In keinem dieser
Beispiele trägt das durch den Stoffwechsel unterhaltene Formgebilde etwas
dazu bei, die Gleichmäßigkeit der Beschickung mit neuem Stoff, die Abfuhr
des verbrauchten und die Maschinenbedingungen eines die Form erhaltenden
Stoffumsatzes und Energieumsatzes zu regeln. Diesen Gebilden fehlt jede
Aktivität und Selbstregulierung, wie sie die Organismen haben, die dadurch
sich selbst und ihre Art erhalten und fortentwickeln. Die menschliche Intelligenz
kann maschinelle Selbstregulationen künstlicher Art anbringen, wodurch die


Hartwann über das Ledeii

sondern ein Produkt aus dem Zusammenwirken dieser mit den unbekannten
Kräften, die den Stoffwechsel leiten. Der Kristall verhalt sich völlig passiv
beim Wachsen, der Organismus dagegen ist aktiv, wenn seine Aktivität auch
nur in Reaktionen auf äußere Einwirkungen besteht. Beim Kristall erstarrt
jede Form, sobald sie fertig gebildet ist, beim Organismus bleibt sie im Fluß
des Werdens und der Veränderung. Wenn der Kristall in seinem Wachstum
lebte, so lebte er nur dem Tode, dem alsbaldigen Sterben ohne Nachkommen;
der Organismus aber lebt wirklich, denn er lebt nicht dem Tode, sondern dem
Leben, der Erhaltung des Lebens durch die Mauserung und die Fortpflanzung.
Der Kristall läßt die Bedingungen, unter denen er wächst, unverändert; der
Organismus bestrebt sich, die Bedingungen, unter denen er wächst, beständig
zu seinen Gunsten zu verändern; er sucht sich der Umgebung anzupassen und
die Umgebung seinen Zwecken dienstbar zu machen. In diesem mehr oder minder
erfolgreichen Streben nach Veränderung der vorgefunduen Bedingungen liegt
seine Aktivität, die man mit Recht bloß einen andern Ausdruck für sein Leben
genannt hat. Diese Aktivität ist darauf gerichtet, die je nach den Umständen
wechselnden Mittel für die Erhaltung des Lebens zu beschaffen; in diesem Sinn
ist sie Anpassung und Zwecktätigkeit. Als die allem Leben gemeinsame zweck¬
tätige Anpassung aber ist der Stoffwechsel zu bezeichnen, der allein es ermöglicht,
der Erstarrungstendenz der Schäume und Gallerten zum Trotz immer für
flüssige Schäume und Gallerten als unentbehrliche Grundlage des Lebens vor-
zusorgen." Schaum ist nämlich die Form des Unorganischen, in der dieses vom
Organismus angeeignet wird, und zugleich das Vorbild des organischen Zell¬
gewebes. Er entsteht, wenn sich zwei Flüssigkeiten von verschiednen Dichtigkeits¬
oder Zähigkeitsgradc mischen. Jede von ihnen bildet Bläschen, die sich durch
Häutchen gegeneinander abschließen. Sind diese Bläschen und Hündchen
mikroskopisch klein, so heißt der Schaum eine Gallert. „Wir kennen auch in
der unorganischen Natur Gebilde, deren Form sich trotz dem Wechsel des sie
bildenden Stoffes und gerade durch diesen Wechsel dauernd erhält, z. B. den
Wasserfall, den Springbrunnen, die Flamme. Im natürlichen Wasserfall sind
die Maschinenbcdingungen (das wasserführende Flußbett, die Felswand) konstant,
soweit sie uicht vom Wasserfall selbst allmählich zerstört werden; beim Spring¬
brunnen und bei einer Flamme von sich selbst gleichbleibender Form und ört¬
licher Stellung sind sie mit bewußter Absicht künstlich herbeigeführt worden
und werden so (durch Docht, Brenner, Speisung) unterhalten. In keinem dieser
Beispiele trägt das durch den Stoffwechsel unterhaltene Formgebilde etwas
dazu bei, die Gleichmäßigkeit der Beschickung mit neuem Stoff, die Abfuhr
des verbrauchten und die Maschinenbedingungen eines die Form erhaltenden
Stoffumsatzes und Energieumsatzes zu regeln. Diesen Gebilden fehlt jede
Aktivität und Selbstregulierung, wie sie die Organismen haben, die dadurch
sich selbst und ihre Art erhalten und fortentwickeln. Die menschliche Intelligenz
kann maschinelle Selbstregulationen künstlicher Art anbringen, wodurch die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0408" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300907"/>
          <fw type="header" place="top"> Hartwann über das Ledeii</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1697" prev="#ID_1696" next="#ID_1698"> sondern ein Produkt aus dem Zusammenwirken dieser mit den unbekannten<lb/>
Kräften, die den Stoffwechsel leiten. Der Kristall verhalt sich völlig passiv<lb/>
beim Wachsen, der Organismus dagegen ist aktiv, wenn seine Aktivität auch<lb/>
nur in Reaktionen auf äußere Einwirkungen besteht. Beim Kristall erstarrt<lb/>
jede Form, sobald sie fertig gebildet ist, beim Organismus bleibt sie im Fluß<lb/>
des Werdens und der Veränderung. Wenn der Kristall in seinem Wachstum<lb/>
lebte, so lebte er nur dem Tode, dem alsbaldigen Sterben ohne Nachkommen;<lb/>
der Organismus aber lebt wirklich, denn er lebt nicht dem Tode, sondern dem<lb/>
Leben, der Erhaltung des Lebens durch die Mauserung und die Fortpflanzung.<lb/>
Der Kristall läßt die Bedingungen, unter denen er wächst, unverändert; der<lb/>
Organismus bestrebt sich, die Bedingungen, unter denen er wächst, beständig<lb/>
zu seinen Gunsten zu verändern; er sucht sich der Umgebung anzupassen und<lb/>
die Umgebung seinen Zwecken dienstbar zu machen. In diesem mehr oder minder<lb/>
erfolgreichen Streben nach Veränderung der vorgefunduen Bedingungen liegt<lb/>
seine Aktivität, die man mit Recht bloß einen andern Ausdruck für sein Leben<lb/>
genannt hat. Diese Aktivität ist darauf gerichtet, die je nach den Umständen<lb/>
wechselnden Mittel für die Erhaltung des Lebens zu beschaffen; in diesem Sinn<lb/>
ist sie Anpassung und Zwecktätigkeit. Als die allem Leben gemeinsame zweck¬<lb/>
tätige Anpassung aber ist der Stoffwechsel zu bezeichnen, der allein es ermöglicht,<lb/>
der Erstarrungstendenz der Schäume und Gallerten zum Trotz immer für<lb/>
flüssige Schäume und Gallerten als unentbehrliche Grundlage des Lebens vor-<lb/>
zusorgen." Schaum ist nämlich die Form des Unorganischen, in der dieses vom<lb/>
Organismus angeeignet wird, und zugleich das Vorbild des organischen Zell¬<lb/>
gewebes. Er entsteht, wenn sich zwei Flüssigkeiten von verschiednen Dichtigkeits¬<lb/>
oder Zähigkeitsgradc mischen. Jede von ihnen bildet Bläschen, die sich durch<lb/>
Häutchen gegeneinander abschließen. Sind diese Bläschen und Hündchen<lb/>
mikroskopisch klein, so heißt der Schaum eine Gallert. &#x201E;Wir kennen auch in<lb/>
der unorganischen Natur Gebilde, deren Form sich trotz dem Wechsel des sie<lb/>
bildenden Stoffes und gerade durch diesen Wechsel dauernd erhält, z. B. den<lb/>
Wasserfall, den Springbrunnen, die Flamme. Im natürlichen Wasserfall sind<lb/>
die Maschinenbcdingungen (das wasserführende Flußbett, die Felswand) konstant,<lb/>
soweit sie uicht vom Wasserfall selbst allmählich zerstört werden; beim Spring¬<lb/>
brunnen und bei einer Flamme von sich selbst gleichbleibender Form und ört¬<lb/>
licher Stellung sind sie mit bewußter Absicht künstlich herbeigeführt worden<lb/>
und werden so (durch Docht, Brenner, Speisung) unterhalten. In keinem dieser<lb/>
Beispiele trägt das durch den Stoffwechsel unterhaltene Formgebilde etwas<lb/>
dazu bei, die Gleichmäßigkeit der Beschickung mit neuem Stoff, die Abfuhr<lb/>
des verbrauchten und die Maschinenbedingungen eines die Form erhaltenden<lb/>
Stoffumsatzes und Energieumsatzes zu regeln. Diesen Gebilden fehlt jede<lb/>
Aktivität und Selbstregulierung, wie sie die Organismen haben, die dadurch<lb/>
sich selbst und ihre Art erhalten und fortentwickeln. Die menschliche Intelligenz<lb/>
kann maschinelle Selbstregulationen künstlicher Art anbringen, wodurch die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0408] Hartwann über das Ledeii sondern ein Produkt aus dem Zusammenwirken dieser mit den unbekannten Kräften, die den Stoffwechsel leiten. Der Kristall verhalt sich völlig passiv beim Wachsen, der Organismus dagegen ist aktiv, wenn seine Aktivität auch nur in Reaktionen auf äußere Einwirkungen besteht. Beim Kristall erstarrt jede Form, sobald sie fertig gebildet ist, beim Organismus bleibt sie im Fluß des Werdens und der Veränderung. Wenn der Kristall in seinem Wachstum lebte, so lebte er nur dem Tode, dem alsbaldigen Sterben ohne Nachkommen; der Organismus aber lebt wirklich, denn er lebt nicht dem Tode, sondern dem Leben, der Erhaltung des Lebens durch die Mauserung und die Fortpflanzung. Der Kristall läßt die Bedingungen, unter denen er wächst, unverändert; der Organismus bestrebt sich, die Bedingungen, unter denen er wächst, beständig zu seinen Gunsten zu verändern; er sucht sich der Umgebung anzupassen und die Umgebung seinen Zwecken dienstbar zu machen. In diesem mehr oder minder erfolgreichen Streben nach Veränderung der vorgefunduen Bedingungen liegt seine Aktivität, die man mit Recht bloß einen andern Ausdruck für sein Leben genannt hat. Diese Aktivität ist darauf gerichtet, die je nach den Umständen wechselnden Mittel für die Erhaltung des Lebens zu beschaffen; in diesem Sinn ist sie Anpassung und Zwecktätigkeit. Als die allem Leben gemeinsame zweck¬ tätige Anpassung aber ist der Stoffwechsel zu bezeichnen, der allein es ermöglicht, der Erstarrungstendenz der Schäume und Gallerten zum Trotz immer für flüssige Schäume und Gallerten als unentbehrliche Grundlage des Lebens vor- zusorgen." Schaum ist nämlich die Form des Unorganischen, in der dieses vom Organismus angeeignet wird, und zugleich das Vorbild des organischen Zell¬ gewebes. Er entsteht, wenn sich zwei Flüssigkeiten von verschiednen Dichtigkeits¬ oder Zähigkeitsgradc mischen. Jede von ihnen bildet Bläschen, die sich durch Häutchen gegeneinander abschließen. Sind diese Bläschen und Hündchen mikroskopisch klein, so heißt der Schaum eine Gallert. „Wir kennen auch in der unorganischen Natur Gebilde, deren Form sich trotz dem Wechsel des sie bildenden Stoffes und gerade durch diesen Wechsel dauernd erhält, z. B. den Wasserfall, den Springbrunnen, die Flamme. Im natürlichen Wasserfall sind die Maschinenbcdingungen (das wasserführende Flußbett, die Felswand) konstant, soweit sie uicht vom Wasserfall selbst allmählich zerstört werden; beim Spring¬ brunnen und bei einer Flamme von sich selbst gleichbleibender Form und ört¬ licher Stellung sind sie mit bewußter Absicht künstlich herbeigeführt worden und werden so (durch Docht, Brenner, Speisung) unterhalten. In keinem dieser Beispiele trägt das durch den Stoffwechsel unterhaltene Formgebilde etwas dazu bei, die Gleichmäßigkeit der Beschickung mit neuem Stoff, die Abfuhr des verbrauchten und die Maschinenbedingungen eines die Form erhaltenden Stoffumsatzes und Energieumsatzes zu regeln. Diesen Gebilden fehlt jede Aktivität und Selbstregulierung, wie sie die Organismen haben, die dadurch sich selbst und ihre Art erhalten und fortentwickeln. Die menschliche Intelligenz kann maschinelle Selbstregulationen künstlicher Art anbringen, wodurch die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/408
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/408>, abgerufen am 23.07.2024.