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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

und die der leiblichen Krankheit entstammende geistige Verwirrung machten aus
der beabsichtigten Reform einen Unsinn, der ärger war als aller zu beseitigende
Unsinn. Mit dem alle Grenzen überfliegenden Individualismus verschmolz das,
was Seilliere Nassenimperialismus nennt, und was er in der Einleitung zu
seinem Gobineaubuche bekämpft hat. Er hat dort eine Reihe von Denkern
nachgewiesen, die in Frankreich seit dem sechzehnten Jahrhundert diesen Im¬
perialismus vertreten Hütten, während er von den Deutschen erst im neunzehnten
Jahrhundert angenommen worden sei, und zwar in der Fassung, die ihm einer¬
seits Gobineau, andrerseits einige Darwinianer gegeben haben. In seinem neuen
Buche zeigt Seillieres, daß auch einige der französischen Aphoristiker, die Nietzsche
liebte, dieser Richtung angehören, namentlich La Rochefoucauld. Die andern,
die diese Literatnrgattung gepflegt haben, besonders der heute erst bei uns viel
gepriesne Stendhal (Henri Beyle) haben mehr den andern Sproß des Nietzschischen
Imperialismus: den schrankenlosen Subjektivismus, die Souveränität des Indi¬
viduums gefördert, und man kann sich bei Seilliere aufs neue davon über¬
zeugen, wie wenig neu Nietzsches Gedanken sind, und daß die geistreiche Form
das einzige neue an ihnen ist. Besonders überrascht es, die Lehre vom Willen
zur Macht bei Helvetius und Nietzsches sozialen Aristokratismus bei Graner
de Cassagnac zu finden, der ihn 1839 zu dem Zweck gepredigt hat, das Prole¬
tariat mit seinem Schicksal zu versöhnen, indem er aus der Weltgeschichte be¬
wies, daß es immer Herren und Sklaven gegeben habe und immer diese beiden
Klassen geben müsse. Selbstverständlich wird nicht behauptet, daß Nietzsche alle
seine Vordenker gekannt und unmittelbar aus ihnen geschöpft habe, aber die
Übereinstimmung mit ihnen geht vielfach bis zum Gebrauch derselben Ausdrücke.
In manchen seiner Exzesse hat er Genossen. Extremer Egoist ist auch Stirner,
nur uicht, wie Nietzsche, ein Egoist mit "wunderbar empfindlicher moralischer
Epidermis". Den Preis des Verbrechers scheint Nietzsche nach Seilliere geradezu
Stendhal entlehnt zu haben. "Würde ziert das Verbrechen, denn der Ver¬
brecher braucht Mut. Die Größe seines Ziels erhebt ihn über die Verleumdung.
Nicht in den Reihen der Verbrecher findet man Schufte, sondern vielmehr unter
den Leuten, die nichts verbrechen, und ein ehrlicher Verbrecher verdient mehr
geehrt zu werden als ein Musterbürger, denn dieser ist immer mit abscheulicher
Heuchelei behaftet. Nietzsche bedauert, daß die Furcht vor den Strafen, die von
der Gesellschaft willkürlich und rechtswidrig verhängt werden, die tapfern Delin¬
quenten manchmal schwach macht, sodaß sie ihre ruhmvollen Handlungen ver¬
leugnen oder bereuen. Das Verbrechen ist nicht allein edel, es ist auch reizend,
unterhaltend, vertreibt die Langeweile. Das aufregende, gefährliche, wechselvolle,
bald düstere, bald sonnendurchglühte Verbrecherleben ist der Reiz aller Reize.
Aus Shakespeare spricht eine bewegte und starke, durch die Überfülle an Blut
und Energie halb berauschte Zeit. Die Sünde, heißt es spöttisch in der
"Morgenröte", sei die einzige Schöpfung des Menschen in einer Welt, die im
übrigen ganz das Werk Gottes sei. Sollte der Mensch, fügt unser Spaßvogel


Apollo und Dionysos

und die der leiblichen Krankheit entstammende geistige Verwirrung machten aus
der beabsichtigten Reform einen Unsinn, der ärger war als aller zu beseitigende
Unsinn. Mit dem alle Grenzen überfliegenden Individualismus verschmolz das,
was Seilliere Nassenimperialismus nennt, und was er in der Einleitung zu
seinem Gobineaubuche bekämpft hat. Er hat dort eine Reihe von Denkern
nachgewiesen, die in Frankreich seit dem sechzehnten Jahrhundert diesen Im¬
perialismus vertreten Hütten, während er von den Deutschen erst im neunzehnten
Jahrhundert angenommen worden sei, und zwar in der Fassung, die ihm einer¬
seits Gobineau, andrerseits einige Darwinianer gegeben haben. In seinem neuen
Buche zeigt Seillieres, daß auch einige der französischen Aphoristiker, die Nietzsche
liebte, dieser Richtung angehören, namentlich La Rochefoucauld. Die andern,
die diese Literatnrgattung gepflegt haben, besonders der heute erst bei uns viel
gepriesne Stendhal (Henri Beyle) haben mehr den andern Sproß des Nietzschischen
Imperialismus: den schrankenlosen Subjektivismus, die Souveränität des Indi¬
viduums gefördert, und man kann sich bei Seilliere aufs neue davon über¬
zeugen, wie wenig neu Nietzsches Gedanken sind, und daß die geistreiche Form
das einzige neue an ihnen ist. Besonders überrascht es, die Lehre vom Willen
zur Macht bei Helvetius und Nietzsches sozialen Aristokratismus bei Graner
de Cassagnac zu finden, der ihn 1839 zu dem Zweck gepredigt hat, das Prole¬
tariat mit seinem Schicksal zu versöhnen, indem er aus der Weltgeschichte be¬
wies, daß es immer Herren und Sklaven gegeben habe und immer diese beiden
Klassen geben müsse. Selbstverständlich wird nicht behauptet, daß Nietzsche alle
seine Vordenker gekannt und unmittelbar aus ihnen geschöpft habe, aber die
Übereinstimmung mit ihnen geht vielfach bis zum Gebrauch derselben Ausdrücke.
In manchen seiner Exzesse hat er Genossen. Extremer Egoist ist auch Stirner,
nur uicht, wie Nietzsche, ein Egoist mit „wunderbar empfindlicher moralischer
Epidermis". Den Preis des Verbrechers scheint Nietzsche nach Seilliere geradezu
Stendhal entlehnt zu haben. „Würde ziert das Verbrechen, denn der Ver¬
brecher braucht Mut. Die Größe seines Ziels erhebt ihn über die Verleumdung.
Nicht in den Reihen der Verbrecher findet man Schufte, sondern vielmehr unter
den Leuten, die nichts verbrechen, und ein ehrlicher Verbrecher verdient mehr
geehrt zu werden als ein Musterbürger, denn dieser ist immer mit abscheulicher
Heuchelei behaftet. Nietzsche bedauert, daß die Furcht vor den Strafen, die von
der Gesellschaft willkürlich und rechtswidrig verhängt werden, die tapfern Delin¬
quenten manchmal schwach macht, sodaß sie ihre ruhmvollen Handlungen ver¬
leugnen oder bereuen. Das Verbrechen ist nicht allein edel, es ist auch reizend,
unterhaltend, vertreibt die Langeweile. Das aufregende, gefährliche, wechselvolle,
bald düstere, bald sonnendurchglühte Verbrecherleben ist der Reiz aller Reize.
Aus Shakespeare spricht eine bewegte und starke, durch die Überfülle an Blut
und Energie halb berauschte Zeit. Die Sünde, heißt es spöttisch in der
»Morgenröte«, sei die einzige Schöpfung des Menschen in einer Welt, die im
übrigen ganz das Werk Gottes sei. Sollte der Mensch, fügt unser Spaßvogel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/39>, abgerufen am 25.08.2024.