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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Hartnlmui über das Leben

Hnrtmann bemerkt dazu: "Etwas Richtiges enthält ja jede der als unzulänglich
verurteilten Theorien. Der Orgnuismns ist eine Wärmekraftmaschine, aber er
ist mehr als das. Er gebraucht die Verbrennungswärme von Nahrungsmitteln
als Betriebsenergie des Lebens, aber er verbraucht auch Nahrungsmittel ohne
Verbreunungswert daneben. Osmose findet statt, aber die Organismen sind
keine bloßen Systeme von osmotischen Plasmaschichten und Händen, und der
Stoffaustansch und Säftestrom in ihnen steht noch unter ganz andern Gesetzen
als den osmotischen. Alle Formbildungsvorgänge sind mit chemischen Ver¬
änderungen verbunden, und diese werden durch Fermente bewirkt, aber j diese
Fermente sind selbst Produkte des Organismus, und es hängt nicht von ihnen
abj, daß sie da sind, an der rechten Stelle da sind, zur rechten Zeit aktiviert
und wieder desaktiviert werden. Die Ganglienzelle muß eine Quelle elektrischer
Spannungsdifferenzen und der Nerv eine Leitungsbahn sein, sonst könnten nicht
Batterien von Ganglienzellen elektrische Schläge erteilen, die an der Körper¬
oberfläche wirksam werden. Alle chemischen, elektrischen und sonstigen Vorgänge
weisen letzten Endes ans bestimmte Bewegungsformen der Moleküle und ihre
Übertragung zurück; aber das Leben besteht nicht in einer bestimmten Be¬
wegungsform, sondern darin, daß an jeder Stelle zu jeder Zeit von allen mög¬
lichen Bewegungsformen gerade die richtige, die dem Organismus dienliche, ein¬
tritt, und es gibt keine Bewegungsform, die das erklären könnte."

So ist also die biologische Wissenschaft endlich dort angelangt, wo Hartmann
vor achtunddreißig Jahren gestanden hat, denn schon in der Philosophie des
Unbewußten hat er den Darwinismus so beurteilt wie in dem 1873 und 1874
abgefaßten biologischen Werke. Das Fazit seiner Überschatt über die biologische
Literatur lautet: "Die Abstammungslehre ist gesichert, der Darwinismus ist ge¬
richtet." Ähnlich urteilt H. Driesch: "Für Einsichtige ist der Darwinismus
lange tot; was zuletzt noch für ihn vorgebracht ward, ist nicht viel mehr als
eine Leichenrede, ausgeführt nach dem Grundsatz as inortui" nil niÄ blüh und
mit dem innern Zugeständnis der Unzulänglichkeit des Verteidigten." Der
historische Teil von Hartmanns Werke schließt mit einer Untersuchung der Be¬
deutung der Ostwaldschen Energetik für die Biologie. Das wichtigste Ergebnis
dieser Untersuchung teilen wir an einer andern Stelle mit, wo es leichter ver¬
standen werden kann.




Hartnlmui über das Leben

Hnrtmann bemerkt dazu: „Etwas Richtiges enthält ja jede der als unzulänglich
verurteilten Theorien. Der Orgnuismns ist eine Wärmekraftmaschine, aber er
ist mehr als das. Er gebraucht die Verbrennungswärme von Nahrungsmitteln
als Betriebsenergie des Lebens, aber er verbraucht auch Nahrungsmittel ohne
Verbreunungswert daneben. Osmose findet statt, aber die Organismen sind
keine bloßen Systeme von osmotischen Plasmaschichten und Händen, und der
Stoffaustansch und Säftestrom in ihnen steht noch unter ganz andern Gesetzen
als den osmotischen. Alle Formbildungsvorgänge sind mit chemischen Ver¬
änderungen verbunden, und diese werden durch Fermente bewirkt, aber j diese
Fermente sind selbst Produkte des Organismus, und es hängt nicht von ihnen
abj, daß sie da sind, an der rechten Stelle da sind, zur rechten Zeit aktiviert
und wieder desaktiviert werden. Die Ganglienzelle muß eine Quelle elektrischer
Spannungsdifferenzen und der Nerv eine Leitungsbahn sein, sonst könnten nicht
Batterien von Ganglienzellen elektrische Schläge erteilen, die an der Körper¬
oberfläche wirksam werden. Alle chemischen, elektrischen und sonstigen Vorgänge
weisen letzten Endes ans bestimmte Bewegungsformen der Moleküle und ihre
Übertragung zurück; aber das Leben besteht nicht in einer bestimmten Be¬
wegungsform, sondern darin, daß an jeder Stelle zu jeder Zeit von allen mög¬
lichen Bewegungsformen gerade die richtige, die dem Organismus dienliche, ein¬
tritt, und es gibt keine Bewegungsform, die das erklären könnte."

So ist also die biologische Wissenschaft endlich dort angelangt, wo Hartmann
vor achtunddreißig Jahren gestanden hat, denn schon in der Philosophie des
Unbewußten hat er den Darwinismus so beurteilt wie in dem 1873 und 1874
abgefaßten biologischen Werke. Das Fazit seiner Überschatt über die biologische
Literatur lautet: „Die Abstammungslehre ist gesichert, der Darwinismus ist ge¬
richtet." Ähnlich urteilt H. Driesch: „Für Einsichtige ist der Darwinismus
lange tot; was zuletzt noch für ihn vorgebracht ward, ist nicht viel mehr als
eine Leichenrede, ausgeführt nach dem Grundsatz as inortui« nil niÄ blüh und
mit dem innern Zugeständnis der Unzulänglichkeit des Verteidigten." Der
historische Teil von Hartmanns Werke schließt mit einer Untersuchung der Be¬
deutung der Ostwaldschen Energetik für die Biologie. Das wichtigste Ergebnis
dieser Untersuchung teilen wir an einer andern Stelle mit, wo es leichter ver¬
standen werden kann.




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[0380] Hartnlmui über das Leben Hnrtmann bemerkt dazu: „Etwas Richtiges enthält ja jede der als unzulänglich verurteilten Theorien. Der Orgnuismns ist eine Wärmekraftmaschine, aber er ist mehr als das. Er gebraucht die Verbrennungswärme von Nahrungsmitteln als Betriebsenergie des Lebens, aber er verbraucht auch Nahrungsmittel ohne Verbreunungswert daneben. Osmose findet statt, aber die Organismen sind keine bloßen Systeme von osmotischen Plasmaschichten und Händen, und der Stoffaustansch und Säftestrom in ihnen steht noch unter ganz andern Gesetzen als den osmotischen. Alle Formbildungsvorgänge sind mit chemischen Ver¬ änderungen verbunden, und diese werden durch Fermente bewirkt, aber j diese Fermente sind selbst Produkte des Organismus, und es hängt nicht von ihnen abj, daß sie da sind, an der rechten Stelle da sind, zur rechten Zeit aktiviert und wieder desaktiviert werden. Die Ganglienzelle muß eine Quelle elektrischer Spannungsdifferenzen und der Nerv eine Leitungsbahn sein, sonst könnten nicht Batterien von Ganglienzellen elektrische Schläge erteilen, die an der Körper¬ oberfläche wirksam werden. Alle chemischen, elektrischen und sonstigen Vorgänge weisen letzten Endes ans bestimmte Bewegungsformen der Moleküle und ihre Übertragung zurück; aber das Leben besteht nicht in einer bestimmten Be¬ wegungsform, sondern darin, daß an jeder Stelle zu jeder Zeit von allen mög¬ lichen Bewegungsformen gerade die richtige, die dem Organismus dienliche, ein¬ tritt, und es gibt keine Bewegungsform, die das erklären könnte." So ist also die biologische Wissenschaft endlich dort angelangt, wo Hartmann vor achtunddreißig Jahren gestanden hat, denn schon in der Philosophie des Unbewußten hat er den Darwinismus so beurteilt wie in dem 1873 und 1874 abgefaßten biologischen Werke. Das Fazit seiner Überschatt über die biologische Literatur lautet: „Die Abstammungslehre ist gesichert, der Darwinismus ist ge¬ richtet." Ähnlich urteilt H. Driesch: „Für Einsichtige ist der Darwinismus lange tot; was zuletzt noch für ihn vorgebracht ward, ist nicht viel mehr als eine Leichenrede, ausgeführt nach dem Grundsatz as inortui« nil niÄ blüh und mit dem innern Zugeständnis der Unzulänglichkeit des Verteidigten." Der historische Teil von Hartmanns Werke schließt mit einer Untersuchung der Be¬ deutung der Ostwaldschen Energetik für die Biologie. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung teilen wir an einer andern Stelle mit, wo es leichter ver¬ standen werden kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/380>, abgerufen am 23.07.2024.