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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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muß man annehmen, wenn man nicht dem Wunderglauben verfallen will; aber
ob um vielstämmige oder einstämmige Herkunft größerer oder kleinerer oder
aller Orgauismengruppen anzunehmen ist, darüber läßt sich heute noch gar nichts
sagen. Wir wisse" z. B. nichts über die Abstammung der Stachelhäuter, Krebse.
Insekten, Mollusken, Ringelwürmer, Wirbeltiere, nichts über einen etwaigen
Zusammenhang der Wirbelticrklassen in einer gemeinsamen Wurzel. Wohl aber
wissen wir, daß aus einem ausgesprochnen Amphibium oder Reptil kein Säugetier
oder Vogel mehr werden kann. Die Bestrebungen, größere Abteilungen des
Tierreichs stammesgeschichtlich zu verknüpfen, sind, das dürfen wir uns nicht
verhehlen, kläglich gescheitert." Haacke ist sogar überzeugt, daß man auch in
Zukunft nichts darüber wissen wird; denn die etwaigen gemeinsamen Wurzeln
Paläontologisch aufzufinden, dazu besteht nicht die geringste Aussicht. Form-
Verwandtschaft kaun auch ohne Blutsverwandtschaft die Folge davon sein, daß
für alle Organismen dasselbe Entwicklungsgesetz gilt. "Je mehr Gewicht auf
diese innern Entwicklungsgesetze gelegt wird, desto nebensächlicher erscheint die
Frage des genealogischen Zusammenhangs zwischen den Formergebnissen der
Entwicklung. Entwicklungsreihen können je nach den äußern Umständen bald
divergent, bald konvergent, bald streckenweise parallel laufen." Es können also
nicht allein von einem Elternpaare verschiedne Arten abstammen, sondern auch
Arten, die verschiedne Stammväter haben, einander im Laufe der Entwicklung
ähnlich werden. Haacke erklärt es für eine unerwiesene Annahme Darwins,
daß Individuen auf Grund geringfügiger Einzelabünderungen die Nicht-
geündcrten überleben. Käme das auch vor. so würden die Änderungen in der
geschlechtlichen Fortpflanzung wieder verschwinden, sodaß ihre Summierung keine
neue Art bilden könnte. "Selbst der Züchter kann nur die von der Natur vor-
gezeichneten. in der Organisation begründeten Wege einschlagen; sie sind mit
unüberschreitbaren Mauern eingefaßt und teilen sich nur an wenigen Stellen,
sodaß nur eine nicht eben große Auswahl von Zuchtrichtungen übrig bleibt.
Die Natur baut auf der Grundlage, die sie sich geschaffen hat. nach einem be¬
stimmten Plane weiter. Ein unsichres Tasten, wie Darwin annimmt, kommt
bei ihr nicht vor. Die Selektion Darwins setzt die Zweckmäßigkeit als Grund
des Erhaltcnwerdens voraus; deshalb ist die Behauptung unsinnig, daß sie die
Entstehung des Zweckmäßiger erkläre. Diese Lehre ist unendlich bequem und
sich einschmeichelnd für das Verständnis von unreifen Jungen: Sekundanern
">>d Apothekerlehrlingen. Aber sie ist ein Feuerwerkslicht und spricht allen
Naturgesetzen Hohn, weil sie den immer wiederholten Eintritt äußerst unwahr¬
scheinlicher Fälle, nämlich des zufälligen Zusammentreffens sehr vieler gleich¬
zeitiger, bestimmter, zueinander passender Teilabäuderunge" im Organismus als
wirklich geschehen voraussetzt. Der Darwinist darf wohl als Mensch die Privat-
w'sicht hege", daß die Natur keinen Zweck habe, aber nicht als Naturforscher;
denn die Naturwissenschaft greift mit einer solche" negativen Behauptung in ein
Gebiet über, i" dein sie nichts mehr zu sagen hat. Der Darwinismus hat der


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muß man annehmen, wenn man nicht dem Wunderglauben verfallen will; aber
ob um vielstämmige oder einstämmige Herkunft größerer oder kleinerer oder
aller Orgauismengruppen anzunehmen ist, darüber läßt sich heute noch gar nichts
sagen. Wir wisse» z. B. nichts über die Abstammung der Stachelhäuter, Krebse.
Insekten, Mollusken, Ringelwürmer, Wirbeltiere, nichts über einen etwaigen
Zusammenhang der Wirbelticrklassen in einer gemeinsamen Wurzel. Wohl aber
wissen wir, daß aus einem ausgesprochnen Amphibium oder Reptil kein Säugetier
oder Vogel mehr werden kann. Die Bestrebungen, größere Abteilungen des
Tierreichs stammesgeschichtlich zu verknüpfen, sind, das dürfen wir uns nicht
verhehlen, kläglich gescheitert." Haacke ist sogar überzeugt, daß man auch in
Zukunft nichts darüber wissen wird; denn die etwaigen gemeinsamen Wurzeln
Paläontologisch aufzufinden, dazu besteht nicht die geringste Aussicht. Form-
Verwandtschaft kaun auch ohne Blutsverwandtschaft die Folge davon sein, daß
für alle Organismen dasselbe Entwicklungsgesetz gilt. „Je mehr Gewicht auf
diese innern Entwicklungsgesetze gelegt wird, desto nebensächlicher erscheint die
Frage des genealogischen Zusammenhangs zwischen den Formergebnissen der
Entwicklung. Entwicklungsreihen können je nach den äußern Umständen bald
divergent, bald konvergent, bald streckenweise parallel laufen." Es können also
nicht allein von einem Elternpaare verschiedne Arten abstammen, sondern auch
Arten, die verschiedne Stammväter haben, einander im Laufe der Entwicklung
ähnlich werden. Haacke erklärt es für eine unerwiesene Annahme Darwins,
daß Individuen auf Grund geringfügiger Einzelabünderungen die Nicht-
geündcrten überleben. Käme das auch vor. so würden die Änderungen in der
geschlechtlichen Fortpflanzung wieder verschwinden, sodaß ihre Summierung keine
neue Art bilden könnte. „Selbst der Züchter kann nur die von der Natur vor-
gezeichneten. in der Organisation begründeten Wege einschlagen; sie sind mit
unüberschreitbaren Mauern eingefaßt und teilen sich nur an wenigen Stellen,
sodaß nur eine nicht eben große Auswahl von Zuchtrichtungen übrig bleibt.
Die Natur baut auf der Grundlage, die sie sich geschaffen hat. nach einem be¬
stimmten Plane weiter. Ein unsichres Tasten, wie Darwin annimmt, kommt
bei ihr nicht vor. Die Selektion Darwins setzt die Zweckmäßigkeit als Grund
des Erhaltcnwerdens voraus; deshalb ist die Behauptung unsinnig, daß sie die
Entstehung des Zweckmäßiger erkläre. Diese Lehre ist unendlich bequem und
sich einschmeichelnd für das Verständnis von unreifen Jungen: Sekundanern
">>d Apothekerlehrlingen. Aber sie ist ein Feuerwerkslicht und spricht allen
Naturgesetzen Hohn, weil sie den immer wiederholten Eintritt äußerst unwahr¬
scheinlicher Fälle, nämlich des zufälligen Zusammentreffens sehr vieler gleich¬
zeitiger, bestimmter, zueinander passender Teilabäuderunge» im Organismus als
wirklich geschehen voraussetzt. Der Darwinist darf wohl als Mensch die Privat-
w'sicht hege», daß die Natur keinen Zweck habe, aber nicht als Naturforscher;
denn die Naturwissenschaft greift mit einer solche» negativen Behauptung in ein
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[0377] Hartenau übel' das ^eben muß man annehmen, wenn man nicht dem Wunderglauben verfallen will; aber ob um vielstämmige oder einstämmige Herkunft größerer oder kleinerer oder aller Orgauismengruppen anzunehmen ist, darüber läßt sich heute noch gar nichts sagen. Wir wisse» z. B. nichts über die Abstammung der Stachelhäuter, Krebse. Insekten, Mollusken, Ringelwürmer, Wirbeltiere, nichts über einen etwaigen Zusammenhang der Wirbelticrklassen in einer gemeinsamen Wurzel. Wohl aber wissen wir, daß aus einem ausgesprochnen Amphibium oder Reptil kein Säugetier oder Vogel mehr werden kann. Die Bestrebungen, größere Abteilungen des Tierreichs stammesgeschichtlich zu verknüpfen, sind, das dürfen wir uns nicht verhehlen, kläglich gescheitert." Haacke ist sogar überzeugt, daß man auch in Zukunft nichts darüber wissen wird; denn die etwaigen gemeinsamen Wurzeln Paläontologisch aufzufinden, dazu besteht nicht die geringste Aussicht. Form- Verwandtschaft kaun auch ohne Blutsverwandtschaft die Folge davon sein, daß für alle Organismen dasselbe Entwicklungsgesetz gilt. „Je mehr Gewicht auf diese innern Entwicklungsgesetze gelegt wird, desto nebensächlicher erscheint die Frage des genealogischen Zusammenhangs zwischen den Formergebnissen der Entwicklung. Entwicklungsreihen können je nach den äußern Umständen bald divergent, bald konvergent, bald streckenweise parallel laufen." Es können also nicht allein von einem Elternpaare verschiedne Arten abstammen, sondern auch Arten, die verschiedne Stammväter haben, einander im Laufe der Entwicklung ähnlich werden. Haacke erklärt es für eine unerwiesene Annahme Darwins, daß Individuen auf Grund geringfügiger Einzelabünderungen die Nicht- geündcrten überleben. Käme das auch vor. so würden die Änderungen in der geschlechtlichen Fortpflanzung wieder verschwinden, sodaß ihre Summierung keine neue Art bilden könnte. „Selbst der Züchter kann nur die von der Natur vor- gezeichneten. in der Organisation begründeten Wege einschlagen; sie sind mit unüberschreitbaren Mauern eingefaßt und teilen sich nur an wenigen Stellen, sodaß nur eine nicht eben große Auswahl von Zuchtrichtungen übrig bleibt. Die Natur baut auf der Grundlage, die sie sich geschaffen hat. nach einem be¬ stimmten Plane weiter. Ein unsichres Tasten, wie Darwin annimmt, kommt bei ihr nicht vor. Die Selektion Darwins setzt die Zweckmäßigkeit als Grund des Erhaltcnwerdens voraus; deshalb ist die Behauptung unsinnig, daß sie die Entstehung des Zweckmäßiger erkläre. Diese Lehre ist unendlich bequem und sich einschmeichelnd für das Verständnis von unreifen Jungen: Sekundanern ">>d Apothekerlehrlingen. Aber sie ist ein Feuerwerkslicht und spricht allen Naturgesetzen Hohn, weil sie den immer wiederholten Eintritt äußerst unwahr¬ scheinlicher Fälle, nämlich des zufälligen Zusammentreffens sehr vieler gleich¬ zeitiger, bestimmter, zueinander passender Teilabäuderunge» im Organismus als wirklich geschehen voraussetzt. Der Darwinist darf wohl als Mensch die Privat- w'sicht hege», daß die Natur keinen Zweck habe, aber nicht als Naturforscher; denn die Naturwissenschaft greift mit einer solche» negativen Behauptung in ein Gebiet über, i» dein sie nichts mehr zu sagen hat. Der Darwinismus hat der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/377>, abgerufen am 23.07.2024.