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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Hartmann über dus Lebe"

Wigand und Karl Ernst von Baer fiihrteu sie zustimmend an), wurde aber von
dem Gros der Naturwissenschaftler totgeschwiegen und von den Machern der
öffentlichen Meinung dem Publikum unterschlagen. Ebensowenig vermochten
Wigand und Baer durchzudringen. Aber schließlich kam es doch an den Tag,
daß die Ergebnisse der unaufhaltsam fortschreitende", mit brennendem Eifer be-
triebnen biologischen Forschungen zu Ergebnissen führten, die von Haeckels
Phantasien und auch von Darwins vermeintlichen Erfahrungen weitab liegen.
Die einen Forscher begnügten sich damit, den Darwinismus zu kritisieren, die
andern stellten neue Hypothesen auf, die die Zuchtwahlhypothese ersetzen sollten.
An der Abstammungslehre hielten zwar alle fest, aber sie fanden weder Haeckels
Stammbünme haltbar noch die Ansicht, daß die Verzweigung der Urorganismen
in Arten und die Fortbildung zu höhern Arten durch rein mechanische Anpassung an
geänderte Lebensbedingungen und die ebenso mechanische Vernichtung des Nichtan-
gepaßten ausreichend erklärt werden könne. Unter den neuen Hypothesen sind die
wichtigsten die Migrations- und die Mutationshypothese. Moritz Wagner läßt neue
Arten in der Weise entstehn, daß einzelne Individuen, die zufällig von dem Normal¬
typus einer Gattung ein wenig abweichen, über hohe Gebirge oder über Meere in
eine neue Heimat gelangen, wo sie, von der alten abgesperrt, ihre Sonderart weiter
entwickeln und vor Kreuzung mit der Stammart bewahrt bleiben. A. v. Kölliker
lehrte nach Hartenau: "Die Umwandlungen gehen in zweifacher Weise vor
sich, nämlich teils durch allmähliche Umgestaltung schon bestehender Teile,
teils durch sprungweise Bildung neuer Organe, d. h. neuer morphologischer
Einheiten. Fast alle großen Umgestaltungen, insbesondre alle wirklichen Neu¬
bildungen von Organen, fallen in die früheste Embryonalzeit. Äußere Einflüsse
schaffen nichts, sondern wirken nur modifizierend auf das, was nach einem innern
Bildungsgesetz vor sich geht. Wenn die kleinsten Abänderungen den Schein
erwecken können, als seien sie durch zufällige, meist äußere Ursachen bewirkt,
so tritt es bei der sprunghafter Umgestaltung durch heterogene Zeugung jd. h.
eine Zeugung, deren Frucht von dem elterlichen Typus wesentlich verschieden
ist, sodaß sie ein neues Genus begründetj klar zutage, daß es sich um not¬
wendige innere Ursachen handelt, deren Walten sich als inneres Entwicklungs¬
gesetz darstellt. Jede Art entwickelt sich, durch eigne innere Ursachen genötigt,
zu neuen Formen, unabhängig von äußern Existenzbedingungen und bis zu
einem gewissen Grade auch unabhängig vom Kampfe ums Dasein. Auch der
Mensch ist durch heterogene Zeugung aus einem Säugetier entstanden; die
Existenz von Zwischenglieder" von Mensch und Affe ist darum fraglich, wen"
auch möglich." Damit war die Mntationstheorie begründet, wie sie später
genannt wurde. Hartmann erzählt: "Die Sprunghafte Umwandlung oder hete¬
rogene Zeugung war, obwohl Darwin bekannt, von seinen Anhängern beiseite
geschoben oder geleugnet und nur von seinen Gegnern in ihrer Bedeutung an¬
erkannt worden. Schon in alten Kräuterbüchern erwähnt, waren stoßweise
Abündernngen eines oder mehrerer Merkmale vou Gärtnern oft genug beobachtet


Hartmann über dus Lebe»

Wigand und Karl Ernst von Baer fiihrteu sie zustimmend an), wurde aber von
dem Gros der Naturwissenschaftler totgeschwiegen und von den Machern der
öffentlichen Meinung dem Publikum unterschlagen. Ebensowenig vermochten
Wigand und Baer durchzudringen. Aber schließlich kam es doch an den Tag,
daß die Ergebnisse der unaufhaltsam fortschreitende», mit brennendem Eifer be-
triebnen biologischen Forschungen zu Ergebnissen führten, die von Haeckels
Phantasien und auch von Darwins vermeintlichen Erfahrungen weitab liegen.
Die einen Forscher begnügten sich damit, den Darwinismus zu kritisieren, die
andern stellten neue Hypothesen auf, die die Zuchtwahlhypothese ersetzen sollten.
An der Abstammungslehre hielten zwar alle fest, aber sie fanden weder Haeckels
Stammbünme haltbar noch die Ansicht, daß die Verzweigung der Urorganismen
in Arten und die Fortbildung zu höhern Arten durch rein mechanische Anpassung an
geänderte Lebensbedingungen und die ebenso mechanische Vernichtung des Nichtan-
gepaßten ausreichend erklärt werden könne. Unter den neuen Hypothesen sind die
wichtigsten die Migrations- und die Mutationshypothese. Moritz Wagner läßt neue
Arten in der Weise entstehn, daß einzelne Individuen, die zufällig von dem Normal¬
typus einer Gattung ein wenig abweichen, über hohe Gebirge oder über Meere in
eine neue Heimat gelangen, wo sie, von der alten abgesperrt, ihre Sonderart weiter
entwickeln und vor Kreuzung mit der Stammart bewahrt bleiben. A. v. Kölliker
lehrte nach Hartenau: „Die Umwandlungen gehen in zweifacher Weise vor
sich, nämlich teils durch allmähliche Umgestaltung schon bestehender Teile,
teils durch sprungweise Bildung neuer Organe, d. h. neuer morphologischer
Einheiten. Fast alle großen Umgestaltungen, insbesondre alle wirklichen Neu¬
bildungen von Organen, fallen in die früheste Embryonalzeit. Äußere Einflüsse
schaffen nichts, sondern wirken nur modifizierend auf das, was nach einem innern
Bildungsgesetz vor sich geht. Wenn die kleinsten Abänderungen den Schein
erwecken können, als seien sie durch zufällige, meist äußere Ursachen bewirkt,
so tritt es bei der sprunghafter Umgestaltung durch heterogene Zeugung jd. h.
eine Zeugung, deren Frucht von dem elterlichen Typus wesentlich verschieden
ist, sodaß sie ein neues Genus begründetj klar zutage, daß es sich um not¬
wendige innere Ursachen handelt, deren Walten sich als inneres Entwicklungs¬
gesetz darstellt. Jede Art entwickelt sich, durch eigne innere Ursachen genötigt,
zu neuen Formen, unabhängig von äußern Existenzbedingungen und bis zu
einem gewissen Grade auch unabhängig vom Kampfe ums Dasein. Auch der
Mensch ist durch heterogene Zeugung aus einem Säugetier entstanden; die
Existenz von Zwischenglieder» von Mensch und Affe ist darum fraglich, wen»
auch möglich." Damit war die Mntationstheorie begründet, wie sie später
genannt wurde. Hartmann erzählt: „Die Sprunghafte Umwandlung oder hete¬
rogene Zeugung war, obwohl Darwin bekannt, von seinen Anhängern beiseite
geschoben oder geleugnet und nur von seinen Gegnern in ihrer Bedeutung an¬
erkannt worden. Schon in alten Kräuterbüchern erwähnt, waren stoßweise
Abündernngen eines oder mehrerer Merkmale vou Gärtnern oft genug beobachtet


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[0374] Hartmann über dus Lebe» Wigand und Karl Ernst von Baer fiihrteu sie zustimmend an), wurde aber von dem Gros der Naturwissenschaftler totgeschwiegen und von den Machern der öffentlichen Meinung dem Publikum unterschlagen. Ebensowenig vermochten Wigand und Baer durchzudringen. Aber schließlich kam es doch an den Tag, daß die Ergebnisse der unaufhaltsam fortschreitende», mit brennendem Eifer be- triebnen biologischen Forschungen zu Ergebnissen führten, die von Haeckels Phantasien und auch von Darwins vermeintlichen Erfahrungen weitab liegen. Die einen Forscher begnügten sich damit, den Darwinismus zu kritisieren, die andern stellten neue Hypothesen auf, die die Zuchtwahlhypothese ersetzen sollten. An der Abstammungslehre hielten zwar alle fest, aber sie fanden weder Haeckels Stammbünme haltbar noch die Ansicht, daß die Verzweigung der Urorganismen in Arten und die Fortbildung zu höhern Arten durch rein mechanische Anpassung an geänderte Lebensbedingungen und die ebenso mechanische Vernichtung des Nichtan- gepaßten ausreichend erklärt werden könne. Unter den neuen Hypothesen sind die wichtigsten die Migrations- und die Mutationshypothese. Moritz Wagner läßt neue Arten in der Weise entstehn, daß einzelne Individuen, die zufällig von dem Normal¬ typus einer Gattung ein wenig abweichen, über hohe Gebirge oder über Meere in eine neue Heimat gelangen, wo sie, von der alten abgesperrt, ihre Sonderart weiter entwickeln und vor Kreuzung mit der Stammart bewahrt bleiben. A. v. Kölliker lehrte nach Hartenau: „Die Umwandlungen gehen in zweifacher Weise vor sich, nämlich teils durch allmähliche Umgestaltung schon bestehender Teile, teils durch sprungweise Bildung neuer Organe, d. h. neuer morphologischer Einheiten. Fast alle großen Umgestaltungen, insbesondre alle wirklichen Neu¬ bildungen von Organen, fallen in die früheste Embryonalzeit. Äußere Einflüsse schaffen nichts, sondern wirken nur modifizierend auf das, was nach einem innern Bildungsgesetz vor sich geht. Wenn die kleinsten Abänderungen den Schein erwecken können, als seien sie durch zufällige, meist äußere Ursachen bewirkt, so tritt es bei der sprunghafter Umgestaltung durch heterogene Zeugung jd. h. eine Zeugung, deren Frucht von dem elterlichen Typus wesentlich verschieden ist, sodaß sie ein neues Genus begründetj klar zutage, daß es sich um not¬ wendige innere Ursachen handelt, deren Walten sich als inneres Entwicklungs¬ gesetz darstellt. Jede Art entwickelt sich, durch eigne innere Ursachen genötigt, zu neuen Formen, unabhängig von äußern Existenzbedingungen und bis zu einem gewissen Grade auch unabhängig vom Kampfe ums Dasein. Auch der Mensch ist durch heterogene Zeugung aus einem Säugetier entstanden; die Existenz von Zwischenglieder» von Mensch und Affe ist darum fraglich, wen» auch möglich." Damit war die Mntationstheorie begründet, wie sie später genannt wurde. Hartmann erzählt: „Die Sprunghafte Umwandlung oder hete¬ rogene Zeugung war, obwohl Darwin bekannt, von seinen Anhängern beiseite geschoben oder geleugnet und nur von seinen Gegnern in ihrer Bedeutung an¬ erkannt worden. Schon in alten Kräuterbüchern erwähnt, waren stoßweise Abündernngen eines oder mehrerer Merkmale vou Gärtnern oft genug beobachtet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/374>, abgerufen am 23.07.2024.