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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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anschauung, und andrerseits seine Unfähigkeit, das Hypothetische vom Tatsäch¬
lichen zu unterscheiden. Die Unzuverlässigkeit seiner selbstgefertigten Zeichnungen,
die Vermischung von Beobachtung und Phantasie darin hat von den Fach¬
genossen herben Tadel erfahren, um so Herbern, als die Abweichungen der
Phantasie von der Wirklichkeit stets nach Seiten der zu beweisenden Behauptung
hinlagen, also seiner naturphilosopischen Tendenz dienten. sDer Zweck heiligt
ihm eben das Mittels Er hat Dinge abgebildet, die bis heute noch kein Natur¬
forscher unter das Mikroskop bekommen hat, z. B. menschliche Embryonen aus
den ersten zwei Wochen. Mehr noch durch die Art, wie Haeckel auf solche
Vorwürfe reagiert hat, als durch die Sache selbst, hat er seineu Kredit als
exakter Beobachter und Forscher beeinträchtigt, ohne seinen Kredit als Natur¬
forscher zu erhöhen. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten gesteht er, vielleicht
nicht ganz im Einklang mit der Zuversicht seines persönlichen Glaubens, theo¬
retisch das Hypothetische seiner Auffassungen zu; in den Texten seiner populären
Schriften behandelt er praktisch seine Hypothesen als sichre Ergebnisse der exakten
Wissenschaft, wo nicht gar als historische Tatsachen, und wirkt dadurch irre¬
führend auf die Laien. Seiner Forderung, daß die Abstammungslehre, wie er
sie auffaßt, in die Schulen eingeführt werden solle, war schon Virchow mit der
Begründung entgegengetreten, daß in den Schulen nur die unzweifelhaft fest¬
gestellten Ergebnisse der Wissenschaft gelehrt werden dürften, aber nicht Hypo¬
thesen höchst zweifelhafter Art wie die Haeckelschen." An einer andern Stelle
bemerkt Hartmann: "Während Darwin stets bereit war, seine Aufstellungen ein¬
zuschränken und begangne Irrtümer einzugestehn, sucht Haeckel aufgestellte Be¬
hauptungen auch dann noch festzuhalten, wenn ihnen durch Fortschritte der Forschung
der Boden entzogen worden ist, und was er nicht mehr verteidigen mag, schiebt
er höchstens als "unwesentlich" beiseite. Auf sachliche Polemik versteht er sich
nicht; seine Polemik wird immer persönlich." Ein Berliner Freund der Grenz-
boten schreibt uns: "Das Unheil, das Haeckel nicht nnr hier, sondern auch
unter den Auslandsdeutschen anrichtet, ist unsagbar; fast alle Volksschullehrer
sind Haeckelianer." Möchten die Leiter und Mitarbeiter der für Volksschullehrer
bestimmten Zeitungen und Zeitschriften Eduard vou Hartmanns biologische Werke
studieren! Das erste: "Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" wird ihnen
noch bessere Dienste tun als das letzte, das sie kaum in allen Teilen verstehen
werden; aber sie können ans diesem wenigstens so viel entnehmen, daß Haeckel
seine Führerstellung in der Biologie längst eingebüßt hat, und daß von den
heute führenden Biologen weder Haeckels noch Darwins Lehren mehr anerkannt
werden. Auch mögen die Herren die kleinen gut lesbaren Broschüren zur Hand
nehmen, die Eberhard Dennert unter dem Titel: "Vom Sterbelager des Darwi¬
nismus" herausgibt.

Die oben genannte erste biologische Schrift Hartmanns erschien 1874. Sie
wurde zwar von vier bedeutenden Fachmännern gewürdigt (Oskar Schmidt be¬
kämpfte sie leidenschaftlich, August Weismann setzte sich mit ihr auseinander,


Grenzbote" IV 190K 47
Hartmaml über das Leben

anschauung, und andrerseits seine Unfähigkeit, das Hypothetische vom Tatsäch¬
lichen zu unterscheiden. Die Unzuverlässigkeit seiner selbstgefertigten Zeichnungen,
die Vermischung von Beobachtung und Phantasie darin hat von den Fach¬
genossen herben Tadel erfahren, um so Herbern, als die Abweichungen der
Phantasie von der Wirklichkeit stets nach Seiten der zu beweisenden Behauptung
hinlagen, also seiner naturphilosopischen Tendenz dienten. sDer Zweck heiligt
ihm eben das Mittels Er hat Dinge abgebildet, die bis heute noch kein Natur¬
forscher unter das Mikroskop bekommen hat, z. B. menschliche Embryonen aus
den ersten zwei Wochen. Mehr noch durch die Art, wie Haeckel auf solche
Vorwürfe reagiert hat, als durch die Sache selbst, hat er seineu Kredit als
exakter Beobachter und Forscher beeinträchtigt, ohne seinen Kredit als Natur¬
forscher zu erhöhen. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten gesteht er, vielleicht
nicht ganz im Einklang mit der Zuversicht seines persönlichen Glaubens, theo¬
retisch das Hypothetische seiner Auffassungen zu; in den Texten seiner populären
Schriften behandelt er praktisch seine Hypothesen als sichre Ergebnisse der exakten
Wissenschaft, wo nicht gar als historische Tatsachen, und wirkt dadurch irre¬
führend auf die Laien. Seiner Forderung, daß die Abstammungslehre, wie er
sie auffaßt, in die Schulen eingeführt werden solle, war schon Virchow mit der
Begründung entgegengetreten, daß in den Schulen nur die unzweifelhaft fest¬
gestellten Ergebnisse der Wissenschaft gelehrt werden dürften, aber nicht Hypo¬
thesen höchst zweifelhafter Art wie die Haeckelschen." An einer andern Stelle
bemerkt Hartmann: „Während Darwin stets bereit war, seine Aufstellungen ein¬
zuschränken und begangne Irrtümer einzugestehn, sucht Haeckel aufgestellte Be¬
hauptungen auch dann noch festzuhalten, wenn ihnen durch Fortschritte der Forschung
der Boden entzogen worden ist, und was er nicht mehr verteidigen mag, schiebt
er höchstens als »unwesentlich« beiseite. Auf sachliche Polemik versteht er sich
nicht; seine Polemik wird immer persönlich." Ein Berliner Freund der Grenz-
boten schreibt uns: „Das Unheil, das Haeckel nicht nnr hier, sondern auch
unter den Auslandsdeutschen anrichtet, ist unsagbar; fast alle Volksschullehrer
sind Haeckelianer." Möchten die Leiter und Mitarbeiter der für Volksschullehrer
bestimmten Zeitungen und Zeitschriften Eduard vou Hartmanns biologische Werke
studieren! Das erste: „Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" wird ihnen
noch bessere Dienste tun als das letzte, das sie kaum in allen Teilen verstehen
werden; aber sie können ans diesem wenigstens so viel entnehmen, daß Haeckel
seine Führerstellung in der Biologie längst eingebüßt hat, und daß von den
heute führenden Biologen weder Haeckels noch Darwins Lehren mehr anerkannt
werden. Auch mögen die Herren die kleinen gut lesbaren Broschüren zur Hand
nehmen, die Eberhard Dennert unter dem Titel: „Vom Sterbelager des Darwi¬
nismus" herausgibt.

Die oben genannte erste biologische Schrift Hartmanns erschien 1874. Sie
wurde zwar von vier bedeutenden Fachmännern gewürdigt (Oskar Schmidt be¬
kämpfte sie leidenschaftlich, August Weismann setzte sich mit ihr auseinander,


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[0373] Hartmaml über das Leben anschauung, und andrerseits seine Unfähigkeit, das Hypothetische vom Tatsäch¬ lichen zu unterscheiden. Die Unzuverlässigkeit seiner selbstgefertigten Zeichnungen, die Vermischung von Beobachtung und Phantasie darin hat von den Fach¬ genossen herben Tadel erfahren, um so Herbern, als die Abweichungen der Phantasie von der Wirklichkeit stets nach Seiten der zu beweisenden Behauptung hinlagen, also seiner naturphilosopischen Tendenz dienten. sDer Zweck heiligt ihm eben das Mittels Er hat Dinge abgebildet, die bis heute noch kein Natur¬ forscher unter das Mikroskop bekommen hat, z. B. menschliche Embryonen aus den ersten zwei Wochen. Mehr noch durch die Art, wie Haeckel auf solche Vorwürfe reagiert hat, als durch die Sache selbst, hat er seineu Kredit als exakter Beobachter und Forscher beeinträchtigt, ohne seinen Kredit als Natur¬ forscher zu erhöhen. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten gesteht er, vielleicht nicht ganz im Einklang mit der Zuversicht seines persönlichen Glaubens, theo¬ retisch das Hypothetische seiner Auffassungen zu; in den Texten seiner populären Schriften behandelt er praktisch seine Hypothesen als sichre Ergebnisse der exakten Wissenschaft, wo nicht gar als historische Tatsachen, und wirkt dadurch irre¬ führend auf die Laien. Seiner Forderung, daß die Abstammungslehre, wie er sie auffaßt, in die Schulen eingeführt werden solle, war schon Virchow mit der Begründung entgegengetreten, daß in den Schulen nur die unzweifelhaft fest¬ gestellten Ergebnisse der Wissenschaft gelehrt werden dürften, aber nicht Hypo¬ thesen höchst zweifelhafter Art wie die Haeckelschen." An einer andern Stelle bemerkt Hartmann: „Während Darwin stets bereit war, seine Aufstellungen ein¬ zuschränken und begangne Irrtümer einzugestehn, sucht Haeckel aufgestellte Be¬ hauptungen auch dann noch festzuhalten, wenn ihnen durch Fortschritte der Forschung der Boden entzogen worden ist, und was er nicht mehr verteidigen mag, schiebt er höchstens als »unwesentlich« beiseite. Auf sachliche Polemik versteht er sich nicht; seine Polemik wird immer persönlich." Ein Berliner Freund der Grenz- boten schreibt uns: „Das Unheil, das Haeckel nicht nnr hier, sondern auch unter den Auslandsdeutschen anrichtet, ist unsagbar; fast alle Volksschullehrer sind Haeckelianer." Möchten die Leiter und Mitarbeiter der für Volksschullehrer bestimmten Zeitungen und Zeitschriften Eduard vou Hartmanns biologische Werke studieren! Das erste: „Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" wird ihnen noch bessere Dienste tun als das letzte, das sie kaum in allen Teilen verstehen werden; aber sie können ans diesem wenigstens so viel entnehmen, daß Haeckel seine Führerstellung in der Biologie längst eingebüßt hat, und daß von den heute führenden Biologen weder Haeckels noch Darwins Lehren mehr anerkannt werden. Auch mögen die Herren die kleinen gut lesbaren Broschüren zur Hand nehmen, die Eberhard Dennert unter dem Titel: „Vom Sterbelager des Darwi¬ nismus" herausgibt. Die oben genannte erste biologische Schrift Hartmanns erschien 1874. Sie wurde zwar von vier bedeutenden Fachmännern gewürdigt (Oskar Schmidt be¬ kämpfte sie leidenschaftlich, August Weismann setzte sich mit ihr auseinander, Grenzbote» IV 190K 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/373>, abgerufen am 23.07.2024.