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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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War auch von Görlitz her schon überschritten (seit dem 16. Juni); die Spitzen
der Vorposten standen schon bei Hirschfelde, zwei Stunden nördlich von
Zittau. Doch war dorthin zwar nicht die Eisenbahn (damals nur über Löbau),
wohl aber die telegraphische Verbindung noch offen; kurz vor sechs Uhr
gelang es nur daher, eine Depesche mit der Meldung meiner Ankunft an
meinen Vater abzufertigen. Unmittelbar nach deren Eintreffen wurde der
dortige Telegraph zerstört.

Für die Fahrt nach Zittau hatte ich mir nicht ohne Mühe einen Wagen
verschafft, und am Dienstag früh sechs Uhr fuhr ich ab, abermals ins Ungewisse
hinein, denn wie es in Zittau stand, wußte ich nicht. Nur langsam mit vielen
Stockungen gelangte ich über die Neißbrücke und durch die Gassen der Stadt
ein endlosen Wagenzügen vorbei und durch das Gedränge von Roß und Mann
am Bahnübergange auf die offne Landstraße. Die helle Sonne eines frischen
Sommermorgens beleuchtete die hüglige Landschaft und ihre wohlhübigen, lang¬
gestreckten Dörfer; von links schaute bald der waldbedeckte Kamm des Jser-
gebirges herüber, von rechts näher der Kegel der Landeskrone, auf dessen ab¬
geplattetem Gipfel Fanale und Geschütze standen. Denn von dieser Hochwarte
der Oberlausitz übersieht mau die ganze Gegend bis an das Grenzgebirge hin,
an dessen nördlichem Fuße Zittau liegt. Fortwährend jagten einzelne Reiter,
meist Magdeburger Husaren, an mir vorbei, Ordonnanzen von und nach der
Vorpostenlinie. Sonst rührte sich nichts auf der Straße, und ohne Hindernis
kam ich bis an die Grenze bei Radmeritz, wo ein kurzer Halt gemacht wurde.
In der Zollscheuke, die voll von Soldaten und Feldgendarmen saß, erregte
die Ankunft eines einzelnen Reisenden, der nach Zittau wollte, natürlich all¬
gemein Neugierde. Die Wirtstochter bemerkte wohlwollend, dorthin würde ich
Wohl nicht durchkommen, die militärischen Gäste waren derselben Meinung und
erzählten, Zittau sei seit gestern Abend von einer preußischen Abteilung besetzt.
Auf ihren Rat begab ich mich nach dem nahen adlichen Jungfrauenstift Joachims¬
stein, um mir von dem dort im Quartier liegenden höhern Offizier, einem
Major von der Infanterie, einen Passierschein zu erbitten. Er saß mit seinen
Offizieren behaglich im wohlgepflegten Garten des Stifts und empfing mich
freundlich, verweigerte aber den Passierschein, weil ich weder ihm noch einem
feiner Offiziere bekannt sei. Als ich mit diesem ungünstigen Bescheide nach der
Zollschenke zurückkam, wurde mein alter Kutscher bedenklich wegen der Weiter¬
fahrt, da er Pferd und Geschirr riskiere, und ließ sich mit Mühe so weit bringen,
daß er mich bis zur Vorpostenkette fcchreu wollte. Inzwischen riet mir ein
Soldat, der als Ordonnanz nach Leuba ging, und den ich mit aufsitzen ließ,
Ä) möge doch mein Heil bei dem dort liegenden Obersten der Magdeburger
Husaren, von Besser, versuchen. Schlug auch das fehl, so war ich entschlossen,
den Wagen mit meinem Gepäck nach Görlitz zurückzuschicken und mich zu Fuße
durch die mir teilweise wohlbekannte Gegend auf Nebenwegen weiter durchzu¬
schlagen. Leuba war stark besetzt, ein Teil der Truppen biwakierte, eine


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War auch von Görlitz her schon überschritten (seit dem 16. Juni); die Spitzen
der Vorposten standen schon bei Hirschfelde, zwei Stunden nördlich von
Zittau. Doch war dorthin zwar nicht die Eisenbahn (damals nur über Löbau),
wohl aber die telegraphische Verbindung noch offen; kurz vor sechs Uhr
gelang es nur daher, eine Depesche mit der Meldung meiner Ankunft an
meinen Vater abzufertigen. Unmittelbar nach deren Eintreffen wurde der
dortige Telegraph zerstört.

Für die Fahrt nach Zittau hatte ich mir nicht ohne Mühe einen Wagen
verschafft, und am Dienstag früh sechs Uhr fuhr ich ab, abermals ins Ungewisse
hinein, denn wie es in Zittau stand, wußte ich nicht. Nur langsam mit vielen
Stockungen gelangte ich über die Neißbrücke und durch die Gassen der Stadt
ein endlosen Wagenzügen vorbei und durch das Gedränge von Roß und Mann
am Bahnübergange auf die offne Landstraße. Die helle Sonne eines frischen
Sommermorgens beleuchtete die hüglige Landschaft und ihre wohlhübigen, lang¬
gestreckten Dörfer; von links schaute bald der waldbedeckte Kamm des Jser-
gebirges herüber, von rechts näher der Kegel der Landeskrone, auf dessen ab¬
geplattetem Gipfel Fanale und Geschütze standen. Denn von dieser Hochwarte
der Oberlausitz übersieht mau die ganze Gegend bis an das Grenzgebirge hin,
an dessen nördlichem Fuße Zittau liegt. Fortwährend jagten einzelne Reiter,
meist Magdeburger Husaren, an mir vorbei, Ordonnanzen von und nach der
Vorpostenlinie. Sonst rührte sich nichts auf der Straße, und ohne Hindernis
kam ich bis an die Grenze bei Radmeritz, wo ein kurzer Halt gemacht wurde.
In der Zollscheuke, die voll von Soldaten und Feldgendarmen saß, erregte
die Ankunft eines einzelnen Reisenden, der nach Zittau wollte, natürlich all¬
gemein Neugierde. Die Wirtstochter bemerkte wohlwollend, dorthin würde ich
Wohl nicht durchkommen, die militärischen Gäste waren derselben Meinung und
erzählten, Zittau sei seit gestern Abend von einer preußischen Abteilung besetzt.
Auf ihren Rat begab ich mich nach dem nahen adlichen Jungfrauenstift Joachims¬
stein, um mir von dem dort im Quartier liegenden höhern Offizier, einem
Major von der Infanterie, einen Passierschein zu erbitten. Er saß mit seinen
Offizieren behaglich im wohlgepflegten Garten des Stifts und empfing mich
freundlich, verweigerte aber den Passierschein, weil ich weder ihm noch einem
feiner Offiziere bekannt sei. Als ich mit diesem ungünstigen Bescheide nach der
Zollschenke zurückkam, wurde mein alter Kutscher bedenklich wegen der Weiter¬
fahrt, da er Pferd und Geschirr riskiere, und ließ sich mit Mühe so weit bringen,
daß er mich bis zur Vorpostenkette fcchreu wollte. Inzwischen riet mir ein
Soldat, der als Ordonnanz nach Leuba ging, und den ich mit aufsitzen ließ,
Ä) möge doch mein Heil bei dem dort liegenden Obersten der Magdeburger
Husaren, von Besser, versuchen. Schlug auch das fehl, so war ich entschlossen,
den Wagen mit meinem Gepäck nach Görlitz zurückzuschicken und mich zu Fuße
durch die mir teilweise wohlbekannte Gegend auf Nebenwegen weiter durchzu¬
schlagen. Leuba war stark besetzt, ein Teil der Truppen biwakierte, eine


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[0363] vor vierzig I"hre,l War auch von Görlitz her schon überschritten (seit dem 16. Juni); die Spitzen der Vorposten standen schon bei Hirschfelde, zwei Stunden nördlich von Zittau. Doch war dorthin zwar nicht die Eisenbahn (damals nur über Löbau), wohl aber die telegraphische Verbindung noch offen; kurz vor sechs Uhr gelang es nur daher, eine Depesche mit der Meldung meiner Ankunft an meinen Vater abzufertigen. Unmittelbar nach deren Eintreffen wurde der dortige Telegraph zerstört. Für die Fahrt nach Zittau hatte ich mir nicht ohne Mühe einen Wagen verschafft, und am Dienstag früh sechs Uhr fuhr ich ab, abermals ins Ungewisse hinein, denn wie es in Zittau stand, wußte ich nicht. Nur langsam mit vielen Stockungen gelangte ich über die Neißbrücke und durch die Gassen der Stadt ein endlosen Wagenzügen vorbei und durch das Gedränge von Roß und Mann am Bahnübergange auf die offne Landstraße. Die helle Sonne eines frischen Sommermorgens beleuchtete die hüglige Landschaft und ihre wohlhübigen, lang¬ gestreckten Dörfer; von links schaute bald der waldbedeckte Kamm des Jser- gebirges herüber, von rechts näher der Kegel der Landeskrone, auf dessen ab¬ geplattetem Gipfel Fanale und Geschütze standen. Denn von dieser Hochwarte der Oberlausitz übersieht mau die ganze Gegend bis an das Grenzgebirge hin, an dessen nördlichem Fuße Zittau liegt. Fortwährend jagten einzelne Reiter, meist Magdeburger Husaren, an mir vorbei, Ordonnanzen von und nach der Vorpostenlinie. Sonst rührte sich nichts auf der Straße, und ohne Hindernis kam ich bis an die Grenze bei Radmeritz, wo ein kurzer Halt gemacht wurde. In der Zollscheuke, die voll von Soldaten und Feldgendarmen saß, erregte die Ankunft eines einzelnen Reisenden, der nach Zittau wollte, natürlich all¬ gemein Neugierde. Die Wirtstochter bemerkte wohlwollend, dorthin würde ich Wohl nicht durchkommen, die militärischen Gäste waren derselben Meinung und erzählten, Zittau sei seit gestern Abend von einer preußischen Abteilung besetzt. Auf ihren Rat begab ich mich nach dem nahen adlichen Jungfrauenstift Joachims¬ stein, um mir von dem dort im Quartier liegenden höhern Offizier, einem Major von der Infanterie, einen Passierschein zu erbitten. Er saß mit seinen Offizieren behaglich im wohlgepflegten Garten des Stifts und empfing mich freundlich, verweigerte aber den Passierschein, weil ich weder ihm noch einem feiner Offiziere bekannt sei. Als ich mit diesem ungünstigen Bescheide nach der Zollschenke zurückkam, wurde mein alter Kutscher bedenklich wegen der Weiter¬ fahrt, da er Pferd und Geschirr riskiere, und ließ sich mit Mühe so weit bringen, daß er mich bis zur Vorpostenkette fcchreu wollte. Inzwischen riet mir ein Soldat, der als Ordonnanz nach Leuba ging, und den ich mit aufsitzen ließ, Ä) möge doch mein Heil bei dem dort liegenden Obersten der Magdeburger Husaren, von Besser, versuchen. Schlug auch das fehl, so war ich entschlossen, den Wagen mit meinem Gepäck nach Görlitz zurückzuschicken und mich zu Fuße durch die mir teilweise wohlbekannte Gegend auf Nebenwegen weiter durchzu¬ schlagen. Leuba war stark besetzt, ein Teil der Truppen biwakierte, eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/363>, abgerufen am 23.07.2024.