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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

in einem stark bevölkerten Kreise sämtliche Gutsbesitzer gegen eine staatlich
festzusetzende Entschädigung von ihrer Scholle zu treiben und an ihre Stelle
Bauern zu setzen. Mögen die Gutsbesitzer wollen oder nicht. Der Entwurf
vertritt weit mehr enge Interessen der demokratischen und sozialrevolurionären
Parteien als die des ganzen Landes und erhält dadurch unbedingt den Stempel
des Klassenkampfes. Es kam anscheinend hier mehr darauf an, die bisher
herrschenden Klassen der Grundlagen ihrer Macht zu entkleiden, als ben Bauern
wirklich zu helfen. Denn eine noch so große Vermehrung des Bauernlandes
würde durchaus nicht gleichbedeutend mit Hilfe sein. Nur dnrch Aufhebung der
Ausnahmegesetze, wie das durch den Mas vom 6. (19.) Oktober geschehn
ist, durch Wegebau und Volksschulen kann die Lage der Bauern ganz all-
mühlich gehoben werden. Sie müssen erst intensiv wirtschaften lernen. Das
Kabinett seinerseits erklärte im Programm vom 13. (26.) Mai, daß es unter
keinen Umständen die Hand dazu bieten würde, die eben dargelegten Prinzipien
in die Praxis zu übertragen.

Nun sollte die Negierung gezwungen werden. Zunächst wurde auf sie
"moralisch" eingewirkt -- durch Interpellationen. 379 Interpellationen wurden
in 38 Sitzungen eingebracht! Jede Jnterpellation bot Gelegenheit, die einzelnen
Minister wie die Bureaukratie überhaupt mit Schmutz zu beWerfen. Die be¬
klagenswerten Vorgänge in Bjalystok und die Mißhandlung des Abgeordneten
Ssedjelnikow durch niedere Polizeiorgane boten reichen Anlaß zu Angriffen.
Aber die Volksvertreter folgerten aus solche" Erscheinungen, deren Ursachen
längst bekannt waren, nicht, daß sie nun doppelt schnell mit Gesetzen hervor¬
treten mußten, die diese Ursachen beseitigten, sondern verloren sich in ihrem
blinden Haß in Kleinigkeiten. Man erinnere sich nur der Zeit, die auf den
Bericht über Bjalystok verloren wurde. Gewiß handelte es sich damals um
Hunderte von Opfern! Was aber sind die in einem Volk von 140 Millionen, das
auf Reformen wartete! Die großen, allerdings mühsamem Aufgaben wurden
aus dem Auge verloren. Mit demagogischen Mitteln wollte man die Macht
an sich reißen. Man versuchte das Kabinett mit großen Worten einzuschüchtern.
Winawer, Roditschew, Alladjin, Shilkin u. ni. leisteten Gewaltiges aus dem
Gebiete der Dialektik und Hütten -- wie wir gesehen haben -- beinahe damit
Erfolg gehabt.

Neben dieser rein demagogischen Tätigkeit ging scheinbar auch gesetz¬
geberische. Wenigstens arbeitete eine Kommission von 91 Mitgliedern trotz
der Ankündigung des Ministerpräsidenten das erwähnte Agrarprogramm im
Sinne der Linken aus. Nach Lage der Dinge kann man sich des Eindrucks
nicht erwehren, als sollte auch diese Arbeit hauptsächlich ein Werkzeug dema¬
gogischer Taktik liefern. Die Kadetten hofften, das Ministerium würde nicht
wagen, den ersten von ihnen eingebrachten großen Gesetzentwurf abzuweisen,
es würde aber auch nicht die Verantwortung für ihn übernehmen und darum
demissionieren. Alsdann, kalkulierten die Kadettenführer, würde dem Zaren


Russische Briefe

in einem stark bevölkerten Kreise sämtliche Gutsbesitzer gegen eine staatlich
festzusetzende Entschädigung von ihrer Scholle zu treiben und an ihre Stelle
Bauern zu setzen. Mögen die Gutsbesitzer wollen oder nicht. Der Entwurf
vertritt weit mehr enge Interessen der demokratischen und sozialrevolurionären
Parteien als die des ganzen Landes und erhält dadurch unbedingt den Stempel
des Klassenkampfes. Es kam anscheinend hier mehr darauf an, die bisher
herrschenden Klassen der Grundlagen ihrer Macht zu entkleiden, als ben Bauern
wirklich zu helfen. Denn eine noch so große Vermehrung des Bauernlandes
würde durchaus nicht gleichbedeutend mit Hilfe sein. Nur dnrch Aufhebung der
Ausnahmegesetze, wie das durch den Mas vom 6. (19.) Oktober geschehn
ist, durch Wegebau und Volksschulen kann die Lage der Bauern ganz all-
mühlich gehoben werden. Sie müssen erst intensiv wirtschaften lernen. Das
Kabinett seinerseits erklärte im Programm vom 13. (26.) Mai, daß es unter
keinen Umständen die Hand dazu bieten würde, die eben dargelegten Prinzipien
in die Praxis zu übertragen.

Nun sollte die Negierung gezwungen werden. Zunächst wurde auf sie
„moralisch" eingewirkt — durch Interpellationen. 379 Interpellationen wurden
in 38 Sitzungen eingebracht! Jede Jnterpellation bot Gelegenheit, die einzelnen
Minister wie die Bureaukratie überhaupt mit Schmutz zu beWerfen. Die be¬
klagenswerten Vorgänge in Bjalystok und die Mißhandlung des Abgeordneten
Ssedjelnikow durch niedere Polizeiorgane boten reichen Anlaß zu Angriffen.
Aber die Volksvertreter folgerten aus solche« Erscheinungen, deren Ursachen
längst bekannt waren, nicht, daß sie nun doppelt schnell mit Gesetzen hervor¬
treten mußten, die diese Ursachen beseitigten, sondern verloren sich in ihrem
blinden Haß in Kleinigkeiten. Man erinnere sich nur der Zeit, die auf den
Bericht über Bjalystok verloren wurde. Gewiß handelte es sich damals um
Hunderte von Opfern! Was aber sind die in einem Volk von 140 Millionen, das
auf Reformen wartete! Die großen, allerdings mühsamem Aufgaben wurden
aus dem Auge verloren. Mit demagogischen Mitteln wollte man die Macht
an sich reißen. Man versuchte das Kabinett mit großen Worten einzuschüchtern.
Winawer, Roditschew, Alladjin, Shilkin u. ni. leisteten Gewaltiges aus dem
Gebiete der Dialektik und Hütten — wie wir gesehen haben — beinahe damit
Erfolg gehabt.

Neben dieser rein demagogischen Tätigkeit ging scheinbar auch gesetz¬
geberische. Wenigstens arbeitete eine Kommission von 91 Mitgliedern trotz
der Ankündigung des Ministerpräsidenten das erwähnte Agrarprogramm im
Sinne der Linken aus. Nach Lage der Dinge kann man sich des Eindrucks
nicht erwehren, als sollte auch diese Arbeit hauptsächlich ein Werkzeug dema¬
gogischer Taktik liefern. Die Kadetten hofften, das Ministerium würde nicht
wagen, den ersten von ihnen eingebrachten großen Gesetzentwurf abzuweisen,
es würde aber auch nicht die Verantwortung für ihn übernehmen und darum
demissionieren. Alsdann, kalkulierten die Kadettenführer, würde dem Zaren


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[0356] Russische Briefe in einem stark bevölkerten Kreise sämtliche Gutsbesitzer gegen eine staatlich festzusetzende Entschädigung von ihrer Scholle zu treiben und an ihre Stelle Bauern zu setzen. Mögen die Gutsbesitzer wollen oder nicht. Der Entwurf vertritt weit mehr enge Interessen der demokratischen und sozialrevolurionären Parteien als die des ganzen Landes und erhält dadurch unbedingt den Stempel des Klassenkampfes. Es kam anscheinend hier mehr darauf an, die bisher herrschenden Klassen der Grundlagen ihrer Macht zu entkleiden, als ben Bauern wirklich zu helfen. Denn eine noch so große Vermehrung des Bauernlandes würde durchaus nicht gleichbedeutend mit Hilfe sein. Nur dnrch Aufhebung der Ausnahmegesetze, wie das durch den Mas vom 6. (19.) Oktober geschehn ist, durch Wegebau und Volksschulen kann die Lage der Bauern ganz all- mühlich gehoben werden. Sie müssen erst intensiv wirtschaften lernen. Das Kabinett seinerseits erklärte im Programm vom 13. (26.) Mai, daß es unter keinen Umständen die Hand dazu bieten würde, die eben dargelegten Prinzipien in die Praxis zu übertragen. Nun sollte die Negierung gezwungen werden. Zunächst wurde auf sie „moralisch" eingewirkt — durch Interpellationen. 379 Interpellationen wurden in 38 Sitzungen eingebracht! Jede Jnterpellation bot Gelegenheit, die einzelnen Minister wie die Bureaukratie überhaupt mit Schmutz zu beWerfen. Die be¬ klagenswerten Vorgänge in Bjalystok und die Mißhandlung des Abgeordneten Ssedjelnikow durch niedere Polizeiorgane boten reichen Anlaß zu Angriffen. Aber die Volksvertreter folgerten aus solche« Erscheinungen, deren Ursachen längst bekannt waren, nicht, daß sie nun doppelt schnell mit Gesetzen hervor¬ treten mußten, die diese Ursachen beseitigten, sondern verloren sich in ihrem blinden Haß in Kleinigkeiten. Man erinnere sich nur der Zeit, die auf den Bericht über Bjalystok verloren wurde. Gewiß handelte es sich damals um Hunderte von Opfern! Was aber sind die in einem Volk von 140 Millionen, das auf Reformen wartete! Die großen, allerdings mühsamem Aufgaben wurden aus dem Auge verloren. Mit demagogischen Mitteln wollte man die Macht an sich reißen. Man versuchte das Kabinett mit großen Worten einzuschüchtern. Winawer, Roditschew, Alladjin, Shilkin u. ni. leisteten Gewaltiges aus dem Gebiete der Dialektik und Hütten — wie wir gesehen haben — beinahe damit Erfolg gehabt. Neben dieser rein demagogischen Tätigkeit ging scheinbar auch gesetz¬ geberische. Wenigstens arbeitete eine Kommission von 91 Mitgliedern trotz der Ankündigung des Ministerpräsidenten das erwähnte Agrarprogramm im Sinne der Linken aus. Nach Lage der Dinge kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als sollte auch diese Arbeit hauptsächlich ein Werkzeug dema¬ gogischer Taktik liefern. Die Kadetten hofften, das Ministerium würde nicht wagen, den ersten von ihnen eingebrachten großen Gesetzentwurf abzuweisen, es würde aber auch nicht die Verantwortung für ihn übernehmen und darum demissionieren. Alsdann, kalkulierten die Kadettenführer, würde dem Zaren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/356>, abgerufen am 23.07.2024.