Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Briefe

keine Agitatoren und keine Presse von Belang. Die drei Vorkämpfer waren
darum rein Physisch nicht imstande, gegen den Redestrom von links auszu¬
kommen.

So sah die Duma aus, als die Kadetten ein Ministerium aus ihrer
Mitte und Amnestie für alle politischen Gefangnen, die sich nach dem 17. (30.)
Oktober 1905 gegen das Gesetz vergangen hatten, forderten. Es gab
auch Tage, wo Goremytin, der Ministerpräsident, beeinflußt durch'den Justiz-
minister Stscheglowitow beim Zaren für ein Kadettenkabinett eintreten wollte.
Wohin das geführt hätte, brauchen wir kaum zu erläutern. Es genügt uns,
daß Professor Gredeskul, der zweite Vizepräsident der Duma, selbst ein
K.-D., in Nummer 173 des Parteiorgans Rjetsch eingestand: "Man
vergleicht unsre Partei, ich glaube durchaus mit Recht, mit den Girondisten
in Frankreich." Sollte wirklich der Fehler des französischen Königs vom
Oktober 1791 im Juni 1906 durch den Zaren wiederholt werden-! Nein, das
durfte nicht geschehn! Die Regierungsgewalt war stark, wenn sie stark sein
wollte. Die wirkliche Mehrheit des Volks stand hinter ihr, ebenso wie das
Militär. Sie brauchte sich von Dorfschreibern, Statistikern und Dorfschul¬
lehrern keine Vorschriften machen zu lassen, auch wenn diese durch die Ver¬
mittlung von Professoren, Adelsmarschällen und dcwongelaufnen Beamten
eingebracht wurden. Das Kabinett war sogar so stark, daß es selbst die
reaktionärsten Maßnahmen ergreifen konnte, wenn es solche gewollt hätte, und
wenn es nur konsequent für ihre Durchführung sorgte. Rückschritt hatten aber
die Staatsleiter durchaus nicht im Sinne. Der Zar und die von ihm be¬
achteten Berater waren darin einig, daß ein liberaler Reformweg betreten
werden mußte, sollte die Zukunft des Reichs nicht noch schwererer Gefahr aus¬
gesetzt werden. Ich hatte in jenen Wochen wiederholt Gelegenheit, mit leitenden
Staatsmännern über alle die schwebenden Fragen zu sprechen, und kann es
deshalb bestätigen, daß die Kardinalfrage immer und immer wieder aufgeworfen
wurde: "Wie ist eine Dumaauflösung zu vermeiden?" Wie schon erwähnt
worden ist, soll Stscheglowitow geglaubt haben, ein Kadettenministerium könne
die gedachte Aufgabe durchführen. Die Gewährung der Amnestie sollte die
Brücke schlagen helfen. Das Kabinett war bereit, die Amnestie beim Zaren
zu erwirken, forderte aber von den Volksvertretern, insonderheit von den
Kadetten, sie sollten öffentlich ihrem Abscheu vor dem politischen Mord Aus¬
druck geben. Die Kadetten weigerten sich. Einer ihrer Führer, mit dem ich
darüber eingehender sprach, erklärte: "Wir würden allen Rückhalt im Volke
verlieren und auf Gnade und Ungnade den Regierungsvertretern ausgeliefert
sein -- darum ist es unmöglich!"

Der Herr hatte Recht. Die 182 Republikaner unter Führung der Arbeits¬
gruppe wären von den Kadetten abgerückt, und diese hätten Anschluß nach
rechts suchen müssen, wollten sie nicht allen Einfluß verlieren. Das aber
durften sie nach den Vorschriften ihres Parteiprogramms nicht. Als auch


Russische Briefe

keine Agitatoren und keine Presse von Belang. Die drei Vorkämpfer waren
darum rein Physisch nicht imstande, gegen den Redestrom von links auszu¬
kommen.

So sah die Duma aus, als die Kadetten ein Ministerium aus ihrer
Mitte und Amnestie für alle politischen Gefangnen, die sich nach dem 17. (30.)
Oktober 1905 gegen das Gesetz vergangen hatten, forderten. Es gab
auch Tage, wo Goremytin, der Ministerpräsident, beeinflußt durch'den Justiz-
minister Stscheglowitow beim Zaren für ein Kadettenkabinett eintreten wollte.
Wohin das geführt hätte, brauchen wir kaum zu erläutern. Es genügt uns,
daß Professor Gredeskul, der zweite Vizepräsident der Duma, selbst ein
K.-D., in Nummer 173 des Parteiorgans Rjetsch eingestand: „Man
vergleicht unsre Partei, ich glaube durchaus mit Recht, mit den Girondisten
in Frankreich." Sollte wirklich der Fehler des französischen Königs vom
Oktober 1791 im Juni 1906 durch den Zaren wiederholt werden-! Nein, das
durfte nicht geschehn! Die Regierungsgewalt war stark, wenn sie stark sein
wollte. Die wirkliche Mehrheit des Volks stand hinter ihr, ebenso wie das
Militär. Sie brauchte sich von Dorfschreibern, Statistikern und Dorfschul¬
lehrern keine Vorschriften machen zu lassen, auch wenn diese durch die Ver¬
mittlung von Professoren, Adelsmarschällen und dcwongelaufnen Beamten
eingebracht wurden. Das Kabinett war sogar so stark, daß es selbst die
reaktionärsten Maßnahmen ergreifen konnte, wenn es solche gewollt hätte, und
wenn es nur konsequent für ihre Durchführung sorgte. Rückschritt hatten aber
die Staatsleiter durchaus nicht im Sinne. Der Zar und die von ihm be¬
achteten Berater waren darin einig, daß ein liberaler Reformweg betreten
werden mußte, sollte die Zukunft des Reichs nicht noch schwererer Gefahr aus¬
gesetzt werden. Ich hatte in jenen Wochen wiederholt Gelegenheit, mit leitenden
Staatsmännern über alle die schwebenden Fragen zu sprechen, und kann es
deshalb bestätigen, daß die Kardinalfrage immer und immer wieder aufgeworfen
wurde: „Wie ist eine Dumaauflösung zu vermeiden?" Wie schon erwähnt
worden ist, soll Stscheglowitow geglaubt haben, ein Kadettenministerium könne
die gedachte Aufgabe durchführen. Die Gewährung der Amnestie sollte die
Brücke schlagen helfen. Das Kabinett war bereit, die Amnestie beim Zaren
zu erwirken, forderte aber von den Volksvertretern, insonderheit von den
Kadetten, sie sollten öffentlich ihrem Abscheu vor dem politischen Mord Aus¬
druck geben. Die Kadetten weigerten sich. Einer ihrer Führer, mit dem ich
darüber eingehender sprach, erklärte: „Wir würden allen Rückhalt im Volke
verlieren und auf Gnade und Ungnade den Regierungsvertretern ausgeliefert
sein — darum ist es unmöglich!"

Der Herr hatte Recht. Die 182 Republikaner unter Führung der Arbeits¬
gruppe wären von den Kadetten abgerückt, und diese hätten Anschluß nach
rechts suchen müssen, wollten sie nicht allen Einfluß verlieren. Das aber
durften sie nach den Vorschriften ihres Parteiprogramms nicht. Als auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0354" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300853"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Briefe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1466" prev="#ID_1465"> keine Agitatoren und keine Presse von Belang. Die drei Vorkämpfer waren<lb/>
darum rein Physisch nicht imstande, gegen den Redestrom von links auszu¬<lb/>
kommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1467"> So sah die Duma aus, als die Kadetten ein Ministerium aus ihrer<lb/>
Mitte und Amnestie für alle politischen Gefangnen, die sich nach dem 17. (30.)<lb/>
Oktober 1905 gegen das Gesetz vergangen hatten, forderten. Es gab<lb/>
auch Tage, wo Goremytin, der Ministerpräsident, beeinflußt durch'den Justiz-<lb/>
minister Stscheglowitow beim Zaren für ein Kadettenkabinett eintreten wollte.<lb/>
Wohin das geführt hätte, brauchen wir kaum zu erläutern. Es genügt uns,<lb/>
daß Professor Gredeskul, der zweite Vizepräsident der Duma, selbst ein<lb/>
K.-D., in Nummer 173 des Parteiorgans Rjetsch eingestand: &#x201E;Man<lb/>
vergleicht unsre Partei, ich glaube durchaus mit Recht, mit den Girondisten<lb/>
in Frankreich." Sollte wirklich der Fehler des französischen Königs vom<lb/>
Oktober 1791 im Juni 1906 durch den Zaren wiederholt werden-! Nein, das<lb/>
durfte nicht geschehn! Die Regierungsgewalt war stark, wenn sie stark sein<lb/>
wollte. Die wirkliche Mehrheit des Volks stand hinter ihr, ebenso wie das<lb/>
Militär. Sie brauchte sich von Dorfschreibern, Statistikern und Dorfschul¬<lb/>
lehrern keine Vorschriften machen zu lassen, auch wenn diese durch die Ver¬<lb/>
mittlung von Professoren, Adelsmarschällen und dcwongelaufnen Beamten<lb/>
eingebracht wurden. Das Kabinett war sogar so stark, daß es selbst die<lb/>
reaktionärsten Maßnahmen ergreifen konnte, wenn es solche gewollt hätte, und<lb/>
wenn es nur konsequent für ihre Durchführung sorgte. Rückschritt hatten aber<lb/>
die Staatsleiter durchaus nicht im Sinne. Der Zar und die von ihm be¬<lb/>
achteten Berater waren darin einig, daß ein liberaler Reformweg betreten<lb/>
werden mußte, sollte die Zukunft des Reichs nicht noch schwererer Gefahr aus¬<lb/>
gesetzt werden. Ich hatte in jenen Wochen wiederholt Gelegenheit, mit leitenden<lb/>
Staatsmännern über alle die schwebenden Fragen zu sprechen, und kann es<lb/>
deshalb bestätigen, daß die Kardinalfrage immer und immer wieder aufgeworfen<lb/>
wurde: &#x201E;Wie ist eine Dumaauflösung zu vermeiden?" Wie schon erwähnt<lb/>
worden ist, soll Stscheglowitow geglaubt haben, ein Kadettenministerium könne<lb/>
die gedachte Aufgabe durchführen. Die Gewährung der Amnestie sollte die<lb/>
Brücke schlagen helfen. Das Kabinett war bereit, die Amnestie beim Zaren<lb/>
zu erwirken, forderte aber von den Volksvertretern, insonderheit von den<lb/>
Kadetten, sie sollten öffentlich ihrem Abscheu vor dem politischen Mord Aus¬<lb/>
druck geben. Die Kadetten weigerten sich. Einer ihrer Führer, mit dem ich<lb/>
darüber eingehender sprach, erklärte: &#x201E;Wir würden allen Rückhalt im Volke<lb/>
verlieren und auf Gnade und Ungnade den Regierungsvertretern ausgeliefert<lb/>
sein &#x2014; darum ist es unmöglich!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1468" next="#ID_1469"> Der Herr hatte Recht. Die 182 Republikaner unter Führung der Arbeits¬<lb/>
gruppe wären von den Kadetten abgerückt, und diese hätten Anschluß nach<lb/>
rechts suchen müssen, wollten sie nicht allen Einfluß verlieren. Das aber<lb/>
durften sie nach den Vorschriften ihres Parteiprogramms nicht.  Als auch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0354] Russische Briefe keine Agitatoren und keine Presse von Belang. Die drei Vorkämpfer waren darum rein Physisch nicht imstande, gegen den Redestrom von links auszu¬ kommen. So sah die Duma aus, als die Kadetten ein Ministerium aus ihrer Mitte und Amnestie für alle politischen Gefangnen, die sich nach dem 17. (30.) Oktober 1905 gegen das Gesetz vergangen hatten, forderten. Es gab auch Tage, wo Goremytin, der Ministerpräsident, beeinflußt durch'den Justiz- minister Stscheglowitow beim Zaren für ein Kadettenkabinett eintreten wollte. Wohin das geführt hätte, brauchen wir kaum zu erläutern. Es genügt uns, daß Professor Gredeskul, der zweite Vizepräsident der Duma, selbst ein K.-D., in Nummer 173 des Parteiorgans Rjetsch eingestand: „Man vergleicht unsre Partei, ich glaube durchaus mit Recht, mit den Girondisten in Frankreich." Sollte wirklich der Fehler des französischen Königs vom Oktober 1791 im Juni 1906 durch den Zaren wiederholt werden-! Nein, das durfte nicht geschehn! Die Regierungsgewalt war stark, wenn sie stark sein wollte. Die wirkliche Mehrheit des Volks stand hinter ihr, ebenso wie das Militär. Sie brauchte sich von Dorfschreibern, Statistikern und Dorfschul¬ lehrern keine Vorschriften machen zu lassen, auch wenn diese durch die Ver¬ mittlung von Professoren, Adelsmarschällen und dcwongelaufnen Beamten eingebracht wurden. Das Kabinett war sogar so stark, daß es selbst die reaktionärsten Maßnahmen ergreifen konnte, wenn es solche gewollt hätte, und wenn es nur konsequent für ihre Durchführung sorgte. Rückschritt hatten aber die Staatsleiter durchaus nicht im Sinne. Der Zar und die von ihm be¬ achteten Berater waren darin einig, daß ein liberaler Reformweg betreten werden mußte, sollte die Zukunft des Reichs nicht noch schwererer Gefahr aus¬ gesetzt werden. Ich hatte in jenen Wochen wiederholt Gelegenheit, mit leitenden Staatsmännern über alle die schwebenden Fragen zu sprechen, und kann es deshalb bestätigen, daß die Kardinalfrage immer und immer wieder aufgeworfen wurde: „Wie ist eine Dumaauflösung zu vermeiden?" Wie schon erwähnt worden ist, soll Stscheglowitow geglaubt haben, ein Kadettenministerium könne die gedachte Aufgabe durchführen. Die Gewährung der Amnestie sollte die Brücke schlagen helfen. Das Kabinett war bereit, die Amnestie beim Zaren zu erwirken, forderte aber von den Volksvertretern, insonderheit von den Kadetten, sie sollten öffentlich ihrem Abscheu vor dem politischen Mord Aus¬ druck geben. Die Kadetten weigerten sich. Einer ihrer Führer, mit dem ich darüber eingehender sprach, erklärte: „Wir würden allen Rückhalt im Volke verlieren und auf Gnade und Ungnade den Regierungsvertretern ausgeliefert sein — darum ist es unmöglich!" Der Herr hatte Recht. Die 182 Republikaner unter Führung der Arbeits¬ gruppe wären von den Kadetten abgerückt, und diese hätten Anschluß nach rechts suchen müssen, wollten sie nicht allen Einfluß verlieren. Das aber durften sie nach den Vorschriften ihres Parteiprogramms nicht. Als auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/354
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/354>, abgerufen am 23.07.2024.