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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Instruktion für die Parlamentsfraktion finden wir in Paragraph 1 die Auf¬
gaben der Parlamentsfraktion im Anschluß an die Bestimmungen des Partei¬
programms zusammengestellt mit dem Schluß: "... Erfüllung der gerechtfertigten
nationalen Forderungen." Als "gerechtfertigte nationale Forderung" hat die
Partei aber auch die Autonomie Polens und der Kaukasusländer mit eigner
parlamentarischer Vertretung, nach Maßgabe des örtlichen Bedürfnisses, an¬
erkannt. Gerade hierdurch hatte sie auch die nationalem als auch konservativem
Kreise aus den genannten Gebieten während der Wahlen für sich gewonnen.
Die Polen besonders haben sich nicht lange besonnen, als ihnen der Köder
hingehalten wurde. Sie, die eingefleischter Antisemiten, haben den Fürsten
Drutzkoj-Ljubetzkoj in den dritten Kadettentag geschickt und ihn eine lange Rede
wider die Antisemiten halten lassen. Zur Belohnung dafür wurde in Kijew
ein polnischer Edelmann in die Duma gewühlt. Paragraph 2 der Instruktion
droht, die Partei würde es im Kampfe um die angegebnen Ziele sogar auf
einen Bruch mit der Regierung ankommen lassen, nur würde sie Sorge tragen,
daß die Verantwortung dafür nicht auf die Partei sondern auf die Regierung
fiele. Nach den Reden, die auf dem dritten Parteitage gehalten wurden, ist
dieser Passus so aufzufassen, daß die Kadetten bereit sein werden, hinter den
Revolutionären zu stehn, wenn der Augenblick gekommen sein wird. Die
Sozialisten haben damals -- im April 1906 -- diese Instruktion lau und
unaufrichtig genannt. Das war sie auch. Denn die Kadetten wollten sich für
jeden Fall den Weg frei halten, um Einfluß auf die jeweilige Regierung zu
gewinnen, sei sie nun eine bürgerliche oder eine proletarische; mit einer
bureaukratischen glaubten sie nicht mehr lange rechnen zu müssen.

Standen nun aber die Dinge in der Duma so, daß die Kadetten eine
solche Politik zu treiben berechtigt waren?

Die Parteizugehörigkeit der einzelnen Abgeordneten habe ich mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit nur für 408 von 450 erkundeten Abgeordneten feststellen
können. (Im ganzen waren gegen 500 Abgeordnete vorhanden. In meiner
Aufstellung konnten unter anderen gegen 25 Sibirier und Kaukasier nicht
berücksichtigt werden, wie auch einige Polen und Letten, die erst lange nach
der Eröffnung der Duma in Petersburg eintrafen.)

Im allgemeinen betrachtet gab es in der Duma zwei große Grund¬
strömungen: die stärkere sozialistische iA) mit 262 Vertretern und die viel
schwächere russisch-nationalistische, die ich unter Berücksichtigung der Anschauungen
ihrer theoretischen Leiter außerhalb der Duma die slawjcinophile (L) nennen
darf, mit 80 Vertretern. Beide Richtungen treffen sich dort, wo die pessimistische
Auffassung des sozialen Kulturzustandes des russischen Volks einerseits die
Slawjanophilen zu Freunden einer Zerlegung Rußlands in wirtschaftlich
selbständige Gebiete macht, und wo sich andrerseits nationale Sonderwünsche
einzelner Völkerschaften, wie Polen, Letten, Litauer, Armenier, Juden und
Tataren, solcher Auffassungen bedienen, um für die einzelne Nationalität Vor-


Russische Briefe

Instruktion für die Parlamentsfraktion finden wir in Paragraph 1 die Auf¬
gaben der Parlamentsfraktion im Anschluß an die Bestimmungen des Partei¬
programms zusammengestellt mit dem Schluß: „... Erfüllung der gerechtfertigten
nationalen Forderungen." Als „gerechtfertigte nationale Forderung" hat die
Partei aber auch die Autonomie Polens und der Kaukasusländer mit eigner
parlamentarischer Vertretung, nach Maßgabe des örtlichen Bedürfnisses, an¬
erkannt. Gerade hierdurch hatte sie auch die nationalem als auch konservativem
Kreise aus den genannten Gebieten während der Wahlen für sich gewonnen.
Die Polen besonders haben sich nicht lange besonnen, als ihnen der Köder
hingehalten wurde. Sie, die eingefleischter Antisemiten, haben den Fürsten
Drutzkoj-Ljubetzkoj in den dritten Kadettentag geschickt und ihn eine lange Rede
wider die Antisemiten halten lassen. Zur Belohnung dafür wurde in Kijew
ein polnischer Edelmann in die Duma gewühlt. Paragraph 2 der Instruktion
droht, die Partei würde es im Kampfe um die angegebnen Ziele sogar auf
einen Bruch mit der Regierung ankommen lassen, nur würde sie Sorge tragen,
daß die Verantwortung dafür nicht auf die Partei sondern auf die Regierung
fiele. Nach den Reden, die auf dem dritten Parteitage gehalten wurden, ist
dieser Passus so aufzufassen, daß die Kadetten bereit sein werden, hinter den
Revolutionären zu stehn, wenn der Augenblick gekommen sein wird. Die
Sozialisten haben damals — im April 1906 — diese Instruktion lau und
unaufrichtig genannt. Das war sie auch. Denn die Kadetten wollten sich für
jeden Fall den Weg frei halten, um Einfluß auf die jeweilige Regierung zu
gewinnen, sei sie nun eine bürgerliche oder eine proletarische; mit einer
bureaukratischen glaubten sie nicht mehr lange rechnen zu müssen.

Standen nun aber die Dinge in der Duma so, daß die Kadetten eine
solche Politik zu treiben berechtigt waren?

Die Parteizugehörigkeit der einzelnen Abgeordneten habe ich mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit nur für 408 von 450 erkundeten Abgeordneten feststellen
können. (Im ganzen waren gegen 500 Abgeordnete vorhanden. In meiner
Aufstellung konnten unter anderen gegen 25 Sibirier und Kaukasier nicht
berücksichtigt werden, wie auch einige Polen und Letten, die erst lange nach
der Eröffnung der Duma in Petersburg eintrafen.)

Im allgemeinen betrachtet gab es in der Duma zwei große Grund¬
strömungen: die stärkere sozialistische iA) mit 262 Vertretern und die viel
schwächere russisch-nationalistische, die ich unter Berücksichtigung der Anschauungen
ihrer theoretischen Leiter außerhalb der Duma die slawjcinophile (L) nennen
darf, mit 80 Vertretern. Beide Richtungen treffen sich dort, wo die pessimistische
Auffassung des sozialen Kulturzustandes des russischen Volks einerseits die
Slawjanophilen zu Freunden einer Zerlegung Rußlands in wirtschaftlich
selbständige Gebiete macht, und wo sich andrerseits nationale Sonderwünsche
einzelner Völkerschaften, wie Polen, Letten, Litauer, Armenier, Juden und
Tataren, solcher Auffassungen bedienen, um für die einzelne Nationalität Vor-


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[0352] Russische Briefe Instruktion für die Parlamentsfraktion finden wir in Paragraph 1 die Auf¬ gaben der Parlamentsfraktion im Anschluß an die Bestimmungen des Partei¬ programms zusammengestellt mit dem Schluß: „... Erfüllung der gerechtfertigten nationalen Forderungen." Als „gerechtfertigte nationale Forderung" hat die Partei aber auch die Autonomie Polens und der Kaukasusländer mit eigner parlamentarischer Vertretung, nach Maßgabe des örtlichen Bedürfnisses, an¬ erkannt. Gerade hierdurch hatte sie auch die nationalem als auch konservativem Kreise aus den genannten Gebieten während der Wahlen für sich gewonnen. Die Polen besonders haben sich nicht lange besonnen, als ihnen der Köder hingehalten wurde. Sie, die eingefleischter Antisemiten, haben den Fürsten Drutzkoj-Ljubetzkoj in den dritten Kadettentag geschickt und ihn eine lange Rede wider die Antisemiten halten lassen. Zur Belohnung dafür wurde in Kijew ein polnischer Edelmann in die Duma gewühlt. Paragraph 2 der Instruktion droht, die Partei würde es im Kampfe um die angegebnen Ziele sogar auf einen Bruch mit der Regierung ankommen lassen, nur würde sie Sorge tragen, daß die Verantwortung dafür nicht auf die Partei sondern auf die Regierung fiele. Nach den Reden, die auf dem dritten Parteitage gehalten wurden, ist dieser Passus so aufzufassen, daß die Kadetten bereit sein werden, hinter den Revolutionären zu stehn, wenn der Augenblick gekommen sein wird. Die Sozialisten haben damals — im April 1906 — diese Instruktion lau und unaufrichtig genannt. Das war sie auch. Denn die Kadetten wollten sich für jeden Fall den Weg frei halten, um Einfluß auf die jeweilige Regierung zu gewinnen, sei sie nun eine bürgerliche oder eine proletarische; mit einer bureaukratischen glaubten sie nicht mehr lange rechnen zu müssen. Standen nun aber die Dinge in der Duma so, daß die Kadetten eine solche Politik zu treiben berechtigt waren? Die Parteizugehörigkeit der einzelnen Abgeordneten habe ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nur für 408 von 450 erkundeten Abgeordneten feststellen können. (Im ganzen waren gegen 500 Abgeordnete vorhanden. In meiner Aufstellung konnten unter anderen gegen 25 Sibirier und Kaukasier nicht berücksichtigt werden, wie auch einige Polen und Letten, die erst lange nach der Eröffnung der Duma in Petersburg eintrafen.) Im allgemeinen betrachtet gab es in der Duma zwei große Grund¬ strömungen: die stärkere sozialistische iA) mit 262 Vertretern und die viel schwächere russisch-nationalistische, die ich unter Berücksichtigung der Anschauungen ihrer theoretischen Leiter außerhalb der Duma die slawjcinophile (L) nennen darf, mit 80 Vertretern. Beide Richtungen treffen sich dort, wo die pessimistische Auffassung des sozialen Kulturzustandes des russischen Volks einerseits die Slawjanophilen zu Freunden einer Zerlegung Rußlands in wirtschaftlich selbständige Gebiete macht, und wo sich andrerseits nationale Sonderwünsche einzelner Völkerschaften, wie Polen, Letten, Litauer, Armenier, Juden und Tataren, solcher Auffassungen bedienen, um für die einzelne Nationalität Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/352>, abgerufen am 23.07.2024.