Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

solche alte Forderungen als belanglos bezeichnet, derentwegen noch wenig
Monate vorher Hunderttausende von Arbeitern zum Generalstreik gezwungen
worden waren und der Dezemberaufstand in Moskau ausgebrochen war, zum
Beispiel'das allgemeine Wahlrecht! Ans diesen Widersprüchen konnte nur eine
starke, arbeitstüchtige Mittelpartei hinausführen, die es verstand, mit den
Regierungsvertretern zu handeln. Eine solche gab es nicht, nachdem der
"Verband vom 17. Oktober" bei den Wahlen unterlegen war. Die als Mittel-
Partei bezeichneten konstitutionellen Demokraten waren es tatsächlich nicht, weil
sie sich einem viel zu radikalen Programm unterworfen hatten. Ihre Führer
durften sich darum auch nicht als Führer einer Kompromißpartei hinstellen.
Der ihnen zugefallnen Aufgabe dem Lande gegenüber waren sie trotz ihres
großen Vermögens an Bildung und geistigen Fähigkeiten nicht gewachsen.
Infolge der falschen Auffassung ihrer Stellung gingen der Partei die zur
Politik notwendigen Haupteigenschaften verloren, nämlich: Mut, Offenheit und
daraus resultierend Selbständigkeit.




Wie sah es nun in der Duma aus?

Eine genaue Angabe über die Zugehörigkeit aller Abgeordneten zu der
einen oder der andern Partei ist mir auch heute nicht möglich und wird wohl
kaum je möglich sein.*) Engere, kleinliche Parteiinteressen sind in der Duma
nicht zur Sprache gekommen, und nicht alle Parteien haben geschlossene
Parlamentsfraktionen gebildet. Viele Abgeordnete, wie die Anarchisten, haben
ihre Zugehörigkeit zu dieser politischen Organisation möglichst geheim gehalten.
Andrerseits ist über die Kardinalfrage, nämlich die Zerlegung Rußlands in
eine Anzahl autonomer Staaten, wie auch über die Frage der Abschaffung der
Monarchie überhaupt, in öffentlicher Sitzung nicht abgestimmt worden. Nur
bei der Redaktion der Antwort auf die Thronrede kam die Grenzlünderfrage
zur Sprache und fand in der Adresse folgende Erledigung: "... die Reichsduma
bemüht sich um weite Erfüllung dieser berechtigten (nationalen) Wünsche."
Dennoch halte ich mich auf Grund meiner Beobachtungen auf Parteitagen und
während des Wahlkampfes, die ich reisend im größten Teile Rußlands anstellen
konnte, berechtigt, diese Frage als Probierstein für die allgemeine politische
Stellung der Abgeordneten anzuwenden. Was die sozialistischen Parteien an¬
langt, bedarf es wohl kaum eines Nachweises dafür, daß sie in Theorie und
Praxis republikanisch sind. Das Erfurter Programm der deutschen Sozial¬
demokratie ist bei den meisten Gruppen der Grundstock der Parteiprogramme.
Über die Stellung der konstitutionellen Demokraten nur ein Wort. In der
auf dem dritten Parteitage zu Se. Petersburg Ende April ausgearbeiteten



Die in russischen Blättern wie Dumm, Eshenedjclnik, Se, PeterburMja Wjedomosti
gemachten Mitteilungen sind noch unvollständiger als die meinigen.

solche alte Forderungen als belanglos bezeichnet, derentwegen noch wenig
Monate vorher Hunderttausende von Arbeitern zum Generalstreik gezwungen
worden waren und der Dezemberaufstand in Moskau ausgebrochen war, zum
Beispiel'das allgemeine Wahlrecht! Ans diesen Widersprüchen konnte nur eine
starke, arbeitstüchtige Mittelpartei hinausführen, die es verstand, mit den
Regierungsvertretern zu handeln. Eine solche gab es nicht, nachdem der
„Verband vom 17. Oktober" bei den Wahlen unterlegen war. Die als Mittel-
Partei bezeichneten konstitutionellen Demokraten waren es tatsächlich nicht, weil
sie sich einem viel zu radikalen Programm unterworfen hatten. Ihre Führer
durften sich darum auch nicht als Führer einer Kompromißpartei hinstellen.
Der ihnen zugefallnen Aufgabe dem Lande gegenüber waren sie trotz ihres
großen Vermögens an Bildung und geistigen Fähigkeiten nicht gewachsen.
Infolge der falschen Auffassung ihrer Stellung gingen der Partei die zur
Politik notwendigen Haupteigenschaften verloren, nämlich: Mut, Offenheit und
daraus resultierend Selbständigkeit.




Wie sah es nun in der Duma aus?

Eine genaue Angabe über die Zugehörigkeit aller Abgeordneten zu der
einen oder der andern Partei ist mir auch heute nicht möglich und wird wohl
kaum je möglich sein.*) Engere, kleinliche Parteiinteressen sind in der Duma
nicht zur Sprache gekommen, und nicht alle Parteien haben geschlossene
Parlamentsfraktionen gebildet. Viele Abgeordnete, wie die Anarchisten, haben
ihre Zugehörigkeit zu dieser politischen Organisation möglichst geheim gehalten.
Andrerseits ist über die Kardinalfrage, nämlich die Zerlegung Rußlands in
eine Anzahl autonomer Staaten, wie auch über die Frage der Abschaffung der
Monarchie überhaupt, in öffentlicher Sitzung nicht abgestimmt worden. Nur
bei der Redaktion der Antwort auf die Thronrede kam die Grenzlünderfrage
zur Sprache und fand in der Adresse folgende Erledigung: „... die Reichsduma
bemüht sich um weite Erfüllung dieser berechtigten (nationalen) Wünsche."
Dennoch halte ich mich auf Grund meiner Beobachtungen auf Parteitagen und
während des Wahlkampfes, die ich reisend im größten Teile Rußlands anstellen
konnte, berechtigt, diese Frage als Probierstein für die allgemeine politische
Stellung der Abgeordneten anzuwenden. Was die sozialistischen Parteien an¬
langt, bedarf es wohl kaum eines Nachweises dafür, daß sie in Theorie und
Praxis republikanisch sind. Das Erfurter Programm der deutschen Sozial¬
demokratie ist bei den meisten Gruppen der Grundstock der Parteiprogramme.
Über die Stellung der konstitutionellen Demokraten nur ein Wort. In der
auf dem dritten Parteitage zu Se. Petersburg Ende April ausgearbeiteten



Die in russischen Blättern wie Dumm, Eshenedjclnik, Se, PeterburMja Wjedomosti
gemachten Mitteilungen sind noch unvollständiger als die meinigen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0351" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300850"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1456" prev="#ID_1455"> solche alte Forderungen als belanglos bezeichnet, derentwegen noch wenig<lb/>
Monate vorher Hunderttausende von Arbeitern zum Generalstreik gezwungen<lb/>
worden waren und der Dezemberaufstand in Moskau ausgebrochen war, zum<lb/>
Beispiel'das allgemeine Wahlrecht! Ans diesen Widersprüchen konnte nur eine<lb/>
starke, arbeitstüchtige Mittelpartei hinausführen, die es verstand, mit den<lb/>
Regierungsvertretern zu handeln. Eine solche gab es nicht, nachdem der<lb/>
&#x201E;Verband vom 17. Oktober" bei den Wahlen unterlegen war. Die als Mittel-<lb/>
Partei bezeichneten konstitutionellen Demokraten waren es tatsächlich nicht, weil<lb/>
sie sich einem viel zu radikalen Programm unterworfen hatten. Ihre Führer<lb/>
durften sich darum auch nicht als Führer einer Kompromißpartei hinstellen.<lb/>
Der ihnen zugefallnen Aufgabe dem Lande gegenüber waren sie trotz ihres<lb/>
großen Vermögens an Bildung und geistigen Fähigkeiten nicht gewachsen.<lb/>
Infolge der falschen Auffassung ihrer Stellung gingen der Partei die zur<lb/>
Politik notwendigen Haupteigenschaften verloren, nämlich: Mut, Offenheit und<lb/>
daraus resultierend Selbständigkeit.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1457"> Wie sah es nun in der Duma aus?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1458" next="#ID_1459"> Eine genaue Angabe über die Zugehörigkeit aller Abgeordneten zu der<lb/>
einen oder der andern Partei ist mir auch heute nicht möglich und wird wohl<lb/>
kaum je möglich sein.*) Engere, kleinliche Parteiinteressen sind in der Duma<lb/>
nicht zur Sprache gekommen, und nicht alle Parteien haben geschlossene<lb/>
Parlamentsfraktionen gebildet. Viele Abgeordnete, wie die Anarchisten, haben<lb/>
ihre Zugehörigkeit zu dieser politischen Organisation möglichst geheim gehalten.<lb/>
Andrerseits ist über die Kardinalfrage, nämlich die Zerlegung Rußlands in<lb/>
eine Anzahl autonomer Staaten, wie auch über die Frage der Abschaffung der<lb/>
Monarchie überhaupt, in öffentlicher Sitzung nicht abgestimmt worden. Nur<lb/>
bei der Redaktion der Antwort auf die Thronrede kam die Grenzlünderfrage<lb/>
zur Sprache und fand in der Adresse folgende Erledigung: &#x201E;... die Reichsduma<lb/>
bemüht sich um weite Erfüllung dieser berechtigten (nationalen) Wünsche."<lb/>
Dennoch halte ich mich auf Grund meiner Beobachtungen auf Parteitagen und<lb/>
während des Wahlkampfes, die ich reisend im größten Teile Rußlands anstellen<lb/>
konnte, berechtigt, diese Frage als Probierstein für die allgemeine politische<lb/>
Stellung der Abgeordneten anzuwenden. Was die sozialistischen Parteien an¬<lb/>
langt, bedarf es wohl kaum eines Nachweises dafür, daß sie in Theorie und<lb/>
Praxis republikanisch sind. Das Erfurter Programm der deutschen Sozial¬<lb/>
demokratie ist bei den meisten Gruppen der Grundstock der Parteiprogramme.<lb/>
Über die Stellung der konstitutionellen Demokraten nur ein Wort. In der<lb/>
auf dem dritten Parteitage zu Se. Petersburg Ende April ausgearbeiteten</p><lb/>
          <note xml:id="FID_24" place="foot"> Die in russischen Blättern wie Dumm, Eshenedjclnik, Se, PeterburMja Wjedomosti<lb/>
gemachten Mitteilungen sind noch unvollständiger als die meinigen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0351] solche alte Forderungen als belanglos bezeichnet, derentwegen noch wenig Monate vorher Hunderttausende von Arbeitern zum Generalstreik gezwungen worden waren und der Dezemberaufstand in Moskau ausgebrochen war, zum Beispiel'das allgemeine Wahlrecht! Ans diesen Widersprüchen konnte nur eine starke, arbeitstüchtige Mittelpartei hinausführen, die es verstand, mit den Regierungsvertretern zu handeln. Eine solche gab es nicht, nachdem der „Verband vom 17. Oktober" bei den Wahlen unterlegen war. Die als Mittel- Partei bezeichneten konstitutionellen Demokraten waren es tatsächlich nicht, weil sie sich einem viel zu radikalen Programm unterworfen hatten. Ihre Führer durften sich darum auch nicht als Führer einer Kompromißpartei hinstellen. Der ihnen zugefallnen Aufgabe dem Lande gegenüber waren sie trotz ihres großen Vermögens an Bildung und geistigen Fähigkeiten nicht gewachsen. Infolge der falschen Auffassung ihrer Stellung gingen der Partei die zur Politik notwendigen Haupteigenschaften verloren, nämlich: Mut, Offenheit und daraus resultierend Selbständigkeit. Wie sah es nun in der Duma aus? Eine genaue Angabe über die Zugehörigkeit aller Abgeordneten zu der einen oder der andern Partei ist mir auch heute nicht möglich und wird wohl kaum je möglich sein.*) Engere, kleinliche Parteiinteressen sind in der Duma nicht zur Sprache gekommen, und nicht alle Parteien haben geschlossene Parlamentsfraktionen gebildet. Viele Abgeordnete, wie die Anarchisten, haben ihre Zugehörigkeit zu dieser politischen Organisation möglichst geheim gehalten. Andrerseits ist über die Kardinalfrage, nämlich die Zerlegung Rußlands in eine Anzahl autonomer Staaten, wie auch über die Frage der Abschaffung der Monarchie überhaupt, in öffentlicher Sitzung nicht abgestimmt worden. Nur bei der Redaktion der Antwort auf die Thronrede kam die Grenzlünderfrage zur Sprache und fand in der Adresse folgende Erledigung: „... die Reichsduma bemüht sich um weite Erfüllung dieser berechtigten (nationalen) Wünsche." Dennoch halte ich mich auf Grund meiner Beobachtungen auf Parteitagen und während des Wahlkampfes, die ich reisend im größten Teile Rußlands anstellen konnte, berechtigt, diese Frage als Probierstein für die allgemeine politische Stellung der Abgeordneten anzuwenden. Was die sozialistischen Parteien an¬ langt, bedarf es wohl kaum eines Nachweises dafür, daß sie in Theorie und Praxis republikanisch sind. Das Erfurter Programm der deutschen Sozial¬ demokratie ist bei den meisten Gruppen der Grundstock der Parteiprogramme. Über die Stellung der konstitutionellen Demokraten nur ein Wort. In der auf dem dritten Parteitage zu Se. Petersburg Ende April ausgearbeiteten Die in russischen Blättern wie Dumm, Eshenedjclnik, Se, PeterburMja Wjedomosti gemachten Mitteilungen sind noch unvollständiger als die meinigen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/351
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/351>, abgerufen am 23.07.2024.