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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vom bürgerlichen Parteiwesen

Demokratie Wähler über Wähler zugeführt. Man kann doch auch nicht zu¬
gleich die Reichsidee hochhalten wollen und ihre obersten verfassungsmäßige"
Vertreter herabsetzen. Beides verträgt sich nicht; eine Neichspartei muß mit
dem auszukommen suchen, was wir haben, und nicht verlangen, was wir nicht
haben und nicht haben können. Dergleichen ist Sache der Opposition.

Es wäre für das Reich sehr nützlich, wenn die Nationalliberalen aus diesen
Tatsachen ihrer eignen Geschichte die richtigen Schlüsse ziehn und nicht immer
wieder an ihre liberale Vorvergangenheit anknüpfen wollten. Das Vaterland
verlangt Reichsparteien, die sich nicht mehr mit der Oppositionsspielerei des
doktrinären Liberalismus befassen. Dieser Liberalismus ist doch kein andrer
als der, von dem Bismarck am 9. Mai 1884 im Reichstage sagte: "Ich muß
es ganz entschieden aussprechen, daß dieser Liberalismus meiner Überzeugung
nach keine Zukunft hat, und daß ich es als die Aufgabe meines Lebens halte,
als meine Pflicht dem Kaiser und dem Lande gegenüber, diesen Liberalismus
zu bekämpfen bis zum letzten Atemzug." Durch Annäherung an den Liberalis¬
mus, soweit er überhaupt noch nicht in der Sozialdemokratie aufgegangen ist,
kann eine Neichspartei -- und eine solche ist die nationalliberale -- nicht ge¬
kräftigt werden. Die neuern Vorgänge in der Partei beweisen es ja selbst.
Die Prediger in ihren Reihen, die unausgesetzt betonen, daß in Zukunft "liberalere
Bahnen" eingeschlagen werden müssen, setzen wohl immer auf den Parteitagen
in diesem Sinne lautende Beschlüsse durch, aber hinterher können sie nicht be¬
folgt werden, weil die Partei in jedem praktischen Einzelfalle erkennt, daß sie
sich dadurch vom nationalen Boden abdrängen lassen würde. Das Spielen mit
der Opposition in Worten, während man als nationalliberale Partei doch gar
nicht daran denken kann, zur wirklichen Opposition überzugehn, wirkt lähmend
auf die eigne Tatkraft und auf die Stimmung der Bevölkerung. Mit dem
Liberalseinwollen hat man seit dem Rücktritt Bismarcks nun lange genug er¬
folglos operiert, und es dürfte an der Zeit sein, wieder andre Bahnen einzu¬
schlagen und nicht weiter zu versuchen, der Partei neue Kraft zuführen zu wollen
aus einem Boden, der gar keine mehr erzeugt.

Will die nationalliberale Partei wieder eine große liberale Bürgerpartei
werden, wie sie es einst war, und wie es zum Besten des Reichs auch sehr
wünschenswert ist, so muß sie all den demokratischen und antiklerikalen Schnick¬
schnack, der ihr noch zeitweilig als vorgeschichtlicher Anhang anklebt, ernstlich
beiseite lassen und sich wieder ganz in den Dienst der Reichsidee stellen, wie
sie gegenwärtig durch den kaiserlichen Schöpfer der Flotte und seinen be¬
währten Kanzler vertreten wird. Denn eine andre haben wir nicht. Den kirch¬
lichen Hader sollte man ruhn lassen, weil man durch ihn nur das Zentrum
stärkt. Übergriffe allzu eifriger katholischer Geistlicher hat es zu allen Zeiten
gegeben, in der Gegenwart sind aber alle Fälle dieser Art infolge des guten
Einvernehmens mit dem Vatikan immer rasch beigelegt worden. Bei einer
solchen Sachlage kann es vernünftigerweise keinen Kulturkampf mehr geben, noch


vom bürgerlichen Parteiwesen

Demokratie Wähler über Wähler zugeführt. Man kann doch auch nicht zu¬
gleich die Reichsidee hochhalten wollen und ihre obersten verfassungsmäßige»
Vertreter herabsetzen. Beides verträgt sich nicht; eine Neichspartei muß mit
dem auszukommen suchen, was wir haben, und nicht verlangen, was wir nicht
haben und nicht haben können. Dergleichen ist Sache der Opposition.

Es wäre für das Reich sehr nützlich, wenn die Nationalliberalen aus diesen
Tatsachen ihrer eignen Geschichte die richtigen Schlüsse ziehn und nicht immer
wieder an ihre liberale Vorvergangenheit anknüpfen wollten. Das Vaterland
verlangt Reichsparteien, die sich nicht mehr mit der Oppositionsspielerei des
doktrinären Liberalismus befassen. Dieser Liberalismus ist doch kein andrer
als der, von dem Bismarck am 9. Mai 1884 im Reichstage sagte: „Ich muß
es ganz entschieden aussprechen, daß dieser Liberalismus meiner Überzeugung
nach keine Zukunft hat, und daß ich es als die Aufgabe meines Lebens halte,
als meine Pflicht dem Kaiser und dem Lande gegenüber, diesen Liberalismus
zu bekämpfen bis zum letzten Atemzug." Durch Annäherung an den Liberalis¬
mus, soweit er überhaupt noch nicht in der Sozialdemokratie aufgegangen ist,
kann eine Neichspartei — und eine solche ist die nationalliberale — nicht ge¬
kräftigt werden. Die neuern Vorgänge in der Partei beweisen es ja selbst.
Die Prediger in ihren Reihen, die unausgesetzt betonen, daß in Zukunft „liberalere
Bahnen" eingeschlagen werden müssen, setzen wohl immer auf den Parteitagen
in diesem Sinne lautende Beschlüsse durch, aber hinterher können sie nicht be¬
folgt werden, weil die Partei in jedem praktischen Einzelfalle erkennt, daß sie
sich dadurch vom nationalen Boden abdrängen lassen würde. Das Spielen mit
der Opposition in Worten, während man als nationalliberale Partei doch gar
nicht daran denken kann, zur wirklichen Opposition überzugehn, wirkt lähmend
auf die eigne Tatkraft und auf die Stimmung der Bevölkerung. Mit dem
Liberalseinwollen hat man seit dem Rücktritt Bismarcks nun lange genug er¬
folglos operiert, und es dürfte an der Zeit sein, wieder andre Bahnen einzu¬
schlagen und nicht weiter zu versuchen, der Partei neue Kraft zuführen zu wollen
aus einem Boden, der gar keine mehr erzeugt.

Will die nationalliberale Partei wieder eine große liberale Bürgerpartei
werden, wie sie es einst war, und wie es zum Besten des Reichs auch sehr
wünschenswert ist, so muß sie all den demokratischen und antiklerikalen Schnick¬
schnack, der ihr noch zeitweilig als vorgeschichtlicher Anhang anklebt, ernstlich
beiseite lassen und sich wieder ganz in den Dienst der Reichsidee stellen, wie
sie gegenwärtig durch den kaiserlichen Schöpfer der Flotte und seinen be¬
währten Kanzler vertreten wird. Denn eine andre haben wir nicht. Den kirch¬
lichen Hader sollte man ruhn lassen, weil man durch ihn nur das Zentrum
stärkt. Übergriffe allzu eifriger katholischer Geistlicher hat es zu allen Zeiten
gegeben, in der Gegenwart sind aber alle Fälle dieser Art infolge des guten
Einvernehmens mit dem Vatikan immer rasch beigelegt worden. Bei einer
solchen Sachlage kann es vernünftigerweise keinen Kulturkampf mehr geben, noch


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[0348] vom bürgerlichen Parteiwesen Demokratie Wähler über Wähler zugeführt. Man kann doch auch nicht zu¬ gleich die Reichsidee hochhalten wollen und ihre obersten verfassungsmäßige» Vertreter herabsetzen. Beides verträgt sich nicht; eine Neichspartei muß mit dem auszukommen suchen, was wir haben, und nicht verlangen, was wir nicht haben und nicht haben können. Dergleichen ist Sache der Opposition. Es wäre für das Reich sehr nützlich, wenn die Nationalliberalen aus diesen Tatsachen ihrer eignen Geschichte die richtigen Schlüsse ziehn und nicht immer wieder an ihre liberale Vorvergangenheit anknüpfen wollten. Das Vaterland verlangt Reichsparteien, die sich nicht mehr mit der Oppositionsspielerei des doktrinären Liberalismus befassen. Dieser Liberalismus ist doch kein andrer als der, von dem Bismarck am 9. Mai 1884 im Reichstage sagte: „Ich muß es ganz entschieden aussprechen, daß dieser Liberalismus meiner Überzeugung nach keine Zukunft hat, und daß ich es als die Aufgabe meines Lebens halte, als meine Pflicht dem Kaiser und dem Lande gegenüber, diesen Liberalismus zu bekämpfen bis zum letzten Atemzug." Durch Annäherung an den Liberalis¬ mus, soweit er überhaupt noch nicht in der Sozialdemokratie aufgegangen ist, kann eine Neichspartei — und eine solche ist die nationalliberale — nicht ge¬ kräftigt werden. Die neuern Vorgänge in der Partei beweisen es ja selbst. Die Prediger in ihren Reihen, die unausgesetzt betonen, daß in Zukunft „liberalere Bahnen" eingeschlagen werden müssen, setzen wohl immer auf den Parteitagen in diesem Sinne lautende Beschlüsse durch, aber hinterher können sie nicht be¬ folgt werden, weil die Partei in jedem praktischen Einzelfalle erkennt, daß sie sich dadurch vom nationalen Boden abdrängen lassen würde. Das Spielen mit der Opposition in Worten, während man als nationalliberale Partei doch gar nicht daran denken kann, zur wirklichen Opposition überzugehn, wirkt lähmend auf die eigne Tatkraft und auf die Stimmung der Bevölkerung. Mit dem Liberalseinwollen hat man seit dem Rücktritt Bismarcks nun lange genug er¬ folglos operiert, und es dürfte an der Zeit sein, wieder andre Bahnen einzu¬ schlagen und nicht weiter zu versuchen, der Partei neue Kraft zuführen zu wollen aus einem Boden, der gar keine mehr erzeugt. Will die nationalliberale Partei wieder eine große liberale Bürgerpartei werden, wie sie es einst war, und wie es zum Besten des Reichs auch sehr wünschenswert ist, so muß sie all den demokratischen und antiklerikalen Schnick¬ schnack, der ihr noch zeitweilig als vorgeschichtlicher Anhang anklebt, ernstlich beiseite lassen und sich wieder ganz in den Dienst der Reichsidee stellen, wie sie gegenwärtig durch den kaiserlichen Schöpfer der Flotte und seinen be¬ währten Kanzler vertreten wird. Denn eine andre haben wir nicht. Den kirch¬ lichen Hader sollte man ruhn lassen, weil man durch ihn nur das Zentrum stärkt. Übergriffe allzu eifriger katholischer Geistlicher hat es zu allen Zeiten gegeben, in der Gegenwart sind aber alle Fälle dieser Art infolge des guten Einvernehmens mit dem Vatikan immer rasch beigelegt worden. Bei einer solchen Sachlage kann es vernünftigerweise keinen Kulturkampf mehr geben, noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/348>, abgerufen am 23.07.2024.