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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vom bürgerlichen Parteiwesen

das deutsche Volk nicht zur politischen Moral erziehen. Im Ausland erkennt
man ganz genau, daß Deutschland bei solchen Parteien und mit dein daraus
zusammengesetzten Reichstage weder große Politik machen kann noch auch eine
große Flotte bauen wird; je entscheidungsreicher sich die Zeit gestaltet, desto
kleiner wird das Geschlecht der Parteien, das in fast vier Jahrzehnten nach
dem Entstehen des Deutschen Reiches noch immer nicht gelernt hat, wie die
Politik einer Weltmacht und einer großen Nation gemacht werden muß. Der
Zug ins Große, der das deutsche Bürgertum nach den Jahren 1866 und 1870
begleitete, ist immer mehr verloren gegangen und hat einem Streiten um ver¬
hältnismäßig geringfügige wirtschaftliche und konfessionelle Fragen Platz gemacht,
neben dem die Aussicht auf die Zukunft außer acht gelassen wird. Der Ein¬
druck dieses trostlosen Zustandes wird auch von der öffentlichen Meinung all¬
gemein empfunden, und es ist vergeblich, wenn ihre sogenannte Vertretung die
Schuld auf die Politik des Kaisers und des Reichskanzlers schieben will. Man
braucht nicht jedem Wort und jedem Schritt auf jener Seite zuzujubeln, aber
man kann sich bei einiger Unbefangenheit der Wahrnehmung nicht verschließen,
daß der eigentliche Grund unsrer unfruchtbaren innern und äußern Politik nicht
dort zu suchen ist. Im Gegenteil, gerade da, von wo die Vorwürfe über Zickzack¬
politik herkommen, herrscht die größte Zerfahrenheit, und es scheint fast, als
sei bei ganzen Richtungen die Fähigkeit verloren gegangen, ihre Kraft auf die
Verwirklichung eines großen Gedankens zu richten. Über Kritiken, die aller¬
dings meist bitterbös ausfallen, kommt man nicht hinaus, von einer Bezeichnung
richtiger Wege, die eingeschlagen werden müßten, vernimmt man nichts, am
wenigsten etwas praktisch Durchführbares.

Ein mit gutem Grund beklagter Umstand ist, daß Gesetzgebung und auch
Verwaltung des Reichs seit Jahren vom Zentrum, also von einer Partei ab¬
hängig sind, die vom konfessionellen Standpunkt aus zusammengehalten wird.
Meist wird diese Anomalie unsers Staatslebens bloß dazu benutzt, Schlagworte
wie "Zentrum ist Trumpf" u. a. gegen die Regierung oder eigentlich gegen
den Kaiser zu gewinnen, Schlagworte, die an Seichtigkeit der Begründung nicht
einmal von den Refrains der Couplets in Tingeltangeln erreicht werden. Jeder¬
mann weiß doch oder sollte wenigstens wissen, wie das Zentrum entstanden
ist. Durch die zum Teil geradezu schikanöse Art, mit der seinerzeit der soge¬
nannte Kulturkampf geführt worden ist, und von der sich sogar später der Alt¬
reichskanzler entschieden losgesagt hat, waren auch gebildete katholische Kreise,
die bis dahin der Religion mit derselben Interesselosigkeit gegenübergestanden
hatten wie in der Gegenwart viele gebildete Protestanten ihrer Kirche, zu einer
politischen Partei zusammengetrieben worden, und gerade sie hatten einem schon
vorhandnen Gemisch von kirchlich einseitigen und politisch Partikularistischen, also
recht heterogenen Elementen eine Festigkeit verliehen, durch die noch heute das
Zentrum wie eine Phalanx in unser Parteileben unerschütterlich hineinragt.
Seit der Zertrümmerung der Kartellmehrheit ist die Zentrumspartei sogar aus-


vom bürgerlichen Parteiwesen

das deutsche Volk nicht zur politischen Moral erziehen. Im Ausland erkennt
man ganz genau, daß Deutschland bei solchen Parteien und mit dein daraus
zusammengesetzten Reichstage weder große Politik machen kann noch auch eine
große Flotte bauen wird; je entscheidungsreicher sich die Zeit gestaltet, desto
kleiner wird das Geschlecht der Parteien, das in fast vier Jahrzehnten nach
dem Entstehen des Deutschen Reiches noch immer nicht gelernt hat, wie die
Politik einer Weltmacht und einer großen Nation gemacht werden muß. Der
Zug ins Große, der das deutsche Bürgertum nach den Jahren 1866 und 1870
begleitete, ist immer mehr verloren gegangen und hat einem Streiten um ver¬
hältnismäßig geringfügige wirtschaftliche und konfessionelle Fragen Platz gemacht,
neben dem die Aussicht auf die Zukunft außer acht gelassen wird. Der Ein¬
druck dieses trostlosen Zustandes wird auch von der öffentlichen Meinung all¬
gemein empfunden, und es ist vergeblich, wenn ihre sogenannte Vertretung die
Schuld auf die Politik des Kaisers und des Reichskanzlers schieben will. Man
braucht nicht jedem Wort und jedem Schritt auf jener Seite zuzujubeln, aber
man kann sich bei einiger Unbefangenheit der Wahrnehmung nicht verschließen,
daß der eigentliche Grund unsrer unfruchtbaren innern und äußern Politik nicht
dort zu suchen ist. Im Gegenteil, gerade da, von wo die Vorwürfe über Zickzack¬
politik herkommen, herrscht die größte Zerfahrenheit, und es scheint fast, als
sei bei ganzen Richtungen die Fähigkeit verloren gegangen, ihre Kraft auf die
Verwirklichung eines großen Gedankens zu richten. Über Kritiken, die aller¬
dings meist bitterbös ausfallen, kommt man nicht hinaus, von einer Bezeichnung
richtiger Wege, die eingeschlagen werden müßten, vernimmt man nichts, am
wenigsten etwas praktisch Durchführbares.

Ein mit gutem Grund beklagter Umstand ist, daß Gesetzgebung und auch
Verwaltung des Reichs seit Jahren vom Zentrum, also von einer Partei ab¬
hängig sind, die vom konfessionellen Standpunkt aus zusammengehalten wird.
Meist wird diese Anomalie unsers Staatslebens bloß dazu benutzt, Schlagworte
wie „Zentrum ist Trumpf" u. a. gegen die Regierung oder eigentlich gegen
den Kaiser zu gewinnen, Schlagworte, die an Seichtigkeit der Begründung nicht
einmal von den Refrains der Couplets in Tingeltangeln erreicht werden. Jeder¬
mann weiß doch oder sollte wenigstens wissen, wie das Zentrum entstanden
ist. Durch die zum Teil geradezu schikanöse Art, mit der seinerzeit der soge¬
nannte Kulturkampf geführt worden ist, und von der sich sogar später der Alt¬
reichskanzler entschieden losgesagt hat, waren auch gebildete katholische Kreise,
die bis dahin der Religion mit derselben Interesselosigkeit gegenübergestanden
hatten wie in der Gegenwart viele gebildete Protestanten ihrer Kirche, zu einer
politischen Partei zusammengetrieben worden, und gerade sie hatten einem schon
vorhandnen Gemisch von kirchlich einseitigen und politisch Partikularistischen, also
recht heterogenen Elementen eine Festigkeit verliehen, durch die noch heute das
Zentrum wie eine Phalanx in unser Parteileben unerschütterlich hineinragt.
Seit der Zertrümmerung der Kartellmehrheit ist die Zentrumspartei sogar aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/342>, abgerufen am 25.08.2024.