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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Materialistische Strömungen in der amerikanischen Literatur

Dieser in ungefähr anderthalb Jahrhunderten durchlaufne Weg vom fana¬
tischen Kalvinismus bis zum Glaubensbekenntnis der Transzendentalisten, das
in Emersons Wirken gipfelt, ist der gewaltigste Umschwung, den das ameri¬
kanische Geistesleben zu verzeichnen hat. Doch kaum minder schroff sind die
Gegensätze, die die Folgezeit bietet. Emerson, der seinen Zeitgenossen weit vor¬
ausgeeilt war, erscheint uns, die wir erst während der letzten Jahrzehnte genauer
mit ihm bekannt geworden sind, als ein völlig moderner Denker. In Amerika
dagegen ist sein Wirken schon von einer mächtig aufrauschenden Welle des
Materialismus überflutet. Die schnelllebigen Menschen drüben haben keine Zeit
mehr, über das Rätsel des Weltalls nachzudenken. Zu hohe Forderungen stellt
der Kampf ums Dasein an Gehirn und Nerven, für Stunden der Erholung
bleibt keine Schwungkraft der Gedanken mehr übrig, und so treten Fragen, die
keinen unmittelbar praktischen Wert haben, immer mehr in den Hintergrund.
Da aber jedes Volk die Literatur hat, die es verdient, so darf es uns nicht
wundernehmen, daß sich heute kaum ein Jünger der kleinen Gemeinde von
Idealisten mehr findet, die sich einst zu Concord um Emerson zu versammeln
pflegte.

Die modernen Schriftsteller Amerikas sind nicht mehr die Prediger ihres
Volks in den Sonntagsstunden des Lebens. Einige von ihnen könnte man viel
eher die Prediger des vommou se-uso nennen. Das sind die Verfasser jener
literarischen Abhandlungen in Briefform, die so vortreffliche Lehren geben in
der Kunst, sich durchzusetzen. Ein charakteristischer Vertreter dieser Gruppe ist
George Horace Lorimer, dessen I/stters trow, g, 8M-iuaä"z Ac-re-Kg-ut. to dis
8on bald nach ihrem Erscheinen auch ins Deutsche übersetzt worden sind.

Im vergangnen Jahre hat der Verfasser seiner ersten Briefsammlung eine
zweite folgen lassen, betitelt 016 Korton LlradAm (Tauchnitz Edition). Zur
Belletristik kann man diese Bücher kaum rechnen; es scheint eher, als wenn sich
in ihnen eine neue Abteilung der Weltliteratur herausbilden will, ein Mittel¬
ding zwischen Essay und naturalistischem Roman, das seineu Stoff dem Ge¬
schäftsleben entnimmt und sich auch von der hergebrachten Schriftsprache durch
überreichliche Anwendung von slanK emanzipiert. In diese Abteilung dürfte
auch Upton Sinclairs ?de> ^uuglö einzureihen sein, ein Tendenzbuch mit scharf
pointierter Anklagen gegen den Chicagoer Fleischtrust, das durch seine sensa-
tionellen Enthüllungen nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, eine stürmische
Auflehnung der öffentlichen Meinung gegen die Besitzer der Konservenfabriken
anzufachen.

Lorimers Old Gorgon Graham gehört ebenfalls zu den Schweinemillivnüren,
aber er ist nach Charakter und Geschüftsgrundsützen ein weniger extremer Typus.
Ganz ans eigner Kraft hat er sich heraufgearbeitet: "In einer Baracke fing
mein Geschäft an, und ich habe es ausgedehnt zu einem Fabrikenkomplex, dessen
Fronten eine halbe Meile lang sind. Mit zehn Arbeitern hab ich begonnen,
und wenn ich Schluß mache, werde" zehntausend für mich arbeiten. Ich fand


Materialistische Strömungen in der amerikanischen Literatur

Dieser in ungefähr anderthalb Jahrhunderten durchlaufne Weg vom fana¬
tischen Kalvinismus bis zum Glaubensbekenntnis der Transzendentalisten, das
in Emersons Wirken gipfelt, ist der gewaltigste Umschwung, den das ameri¬
kanische Geistesleben zu verzeichnen hat. Doch kaum minder schroff sind die
Gegensätze, die die Folgezeit bietet. Emerson, der seinen Zeitgenossen weit vor¬
ausgeeilt war, erscheint uns, die wir erst während der letzten Jahrzehnte genauer
mit ihm bekannt geworden sind, als ein völlig moderner Denker. In Amerika
dagegen ist sein Wirken schon von einer mächtig aufrauschenden Welle des
Materialismus überflutet. Die schnelllebigen Menschen drüben haben keine Zeit
mehr, über das Rätsel des Weltalls nachzudenken. Zu hohe Forderungen stellt
der Kampf ums Dasein an Gehirn und Nerven, für Stunden der Erholung
bleibt keine Schwungkraft der Gedanken mehr übrig, und so treten Fragen, die
keinen unmittelbar praktischen Wert haben, immer mehr in den Hintergrund.
Da aber jedes Volk die Literatur hat, die es verdient, so darf es uns nicht
wundernehmen, daß sich heute kaum ein Jünger der kleinen Gemeinde von
Idealisten mehr findet, die sich einst zu Concord um Emerson zu versammeln
pflegte.

Die modernen Schriftsteller Amerikas sind nicht mehr die Prediger ihres
Volks in den Sonntagsstunden des Lebens. Einige von ihnen könnte man viel
eher die Prediger des vommou se-uso nennen. Das sind die Verfasser jener
literarischen Abhandlungen in Briefform, die so vortreffliche Lehren geben in
der Kunst, sich durchzusetzen. Ein charakteristischer Vertreter dieser Gruppe ist
George Horace Lorimer, dessen I/stters trow, g, 8M-iuaä«z Ac-re-Kg-ut. to dis
8on bald nach ihrem Erscheinen auch ins Deutsche übersetzt worden sind.

Im vergangnen Jahre hat der Verfasser seiner ersten Briefsammlung eine
zweite folgen lassen, betitelt 016 Korton LlradAm (Tauchnitz Edition). Zur
Belletristik kann man diese Bücher kaum rechnen; es scheint eher, als wenn sich
in ihnen eine neue Abteilung der Weltliteratur herausbilden will, ein Mittel¬
ding zwischen Essay und naturalistischem Roman, das seineu Stoff dem Ge¬
schäftsleben entnimmt und sich auch von der hergebrachten Schriftsprache durch
überreichliche Anwendung von slanK emanzipiert. In diese Abteilung dürfte
auch Upton Sinclairs ?de> ^uuglö einzureihen sein, ein Tendenzbuch mit scharf
pointierter Anklagen gegen den Chicagoer Fleischtrust, das durch seine sensa-
tionellen Enthüllungen nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, eine stürmische
Auflehnung der öffentlichen Meinung gegen die Besitzer der Konservenfabriken
anzufachen.

Lorimers Old Gorgon Graham gehört ebenfalls zu den Schweinemillivnüren,
aber er ist nach Charakter und Geschüftsgrundsützen ein weniger extremer Typus.
Ganz ans eigner Kraft hat er sich heraufgearbeitet: „In einer Baracke fing
mein Geschäft an, und ich habe es ausgedehnt zu einem Fabrikenkomplex, dessen
Fronten eine halbe Meile lang sind. Mit zehn Arbeitern hab ich begonnen,
und wenn ich Schluß mache, werde« zehntausend für mich arbeiten. Ich fand


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[0314] Materialistische Strömungen in der amerikanischen Literatur Dieser in ungefähr anderthalb Jahrhunderten durchlaufne Weg vom fana¬ tischen Kalvinismus bis zum Glaubensbekenntnis der Transzendentalisten, das in Emersons Wirken gipfelt, ist der gewaltigste Umschwung, den das ameri¬ kanische Geistesleben zu verzeichnen hat. Doch kaum minder schroff sind die Gegensätze, die die Folgezeit bietet. Emerson, der seinen Zeitgenossen weit vor¬ ausgeeilt war, erscheint uns, die wir erst während der letzten Jahrzehnte genauer mit ihm bekannt geworden sind, als ein völlig moderner Denker. In Amerika dagegen ist sein Wirken schon von einer mächtig aufrauschenden Welle des Materialismus überflutet. Die schnelllebigen Menschen drüben haben keine Zeit mehr, über das Rätsel des Weltalls nachzudenken. Zu hohe Forderungen stellt der Kampf ums Dasein an Gehirn und Nerven, für Stunden der Erholung bleibt keine Schwungkraft der Gedanken mehr übrig, und so treten Fragen, die keinen unmittelbar praktischen Wert haben, immer mehr in den Hintergrund. Da aber jedes Volk die Literatur hat, die es verdient, so darf es uns nicht wundernehmen, daß sich heute kaum ein Jünger der kleinen Gemeinde von Idealisten mehr findet, die sich einst zu Concord um Emerson zu versammeln pflegte. Die modernen Schriftsteller Amerikas sind nicht mehr die Prediger ihres Volks in den Sonntagsstunden des Lebens. Einige von ihnen könnte man viel eher die Prediger des vommou se-uso nennen. Das sind die Verfasser jener literarischen Abhandlungen in Briefform, die so vortreffliche Lehren geben in der Kunst, sich durchzusetzen. Ein charakteristischer Vertreter dieser Gruppe ist George Horace Lorimer, dessen I/stters trow, g, 8M-iuaä«z Ac-re-Kg-ut. to dis 8on bald nach ihrem Erscheinen auch ins Deutsche übersetzt worden sind. Im vergangnen Jahre hat der Verfasser seiner ersten Briefsammlung eine zweite folgen lassen, betitelt 016 Korton LlradAm (Tauchnitz Edition). Zur Belletristik kann man diese Bücher kaum rechnen; es scheint eher, als wenn sich in ihnen eine neue Abteilung der Weltliteratur herausbilden will, ein Mittel¬ ding zwischen Essay und naturalistischem Roman, das seineu Stoff dem Ge¬ schäftsleben entnimmt und sich auch von der hergebrachten Schriftsprache durch überreichliche Anwendung von slanK emanzipiert. In diese Abteilung dürfte auch Upton Sinclairs ?de> ^uuglö einzureihen sein, ein Tendenzbuch mit scharf pointierter Anklagen gegen den Chicagoer Fleischtrust, das durch seine sensa- tionellen Enthüllungen nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, eine stürmische Auflehnung der öffentlichen Meinung gegen die Besitzer der Konservenfabriken anzufachen. Lorimers Old Gorgon Graham gehört ebenfalls zu den Schweinemillivnüren, aber er ist nach Charakter und Geschüftsgrundsützen ein weniger extremer Typus. Ganz ans eigner Kraft hat er sich heraufgearbeitet: „In einer Baracke fing mein Geschäft an, und ich habe es ausgedehnt zu einem Fabrikenkomplex, dessen Fronten eine halbe Meile lang sind. Mit zehn Arbeitern hab ich begonnen, und wenn ich Schluß mache, werde« zehntausend für mich arbeiten. Ich fand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/314>, abgerufen am 23.07.2024.